Die ewige Tante
Viel Platz hat Gunnar Scholz nicht. Gerade einmal schulterbreit ist der Raum zwischen Holmen, Streben, Blechen, Hydraulikschläuchen, Treibstoffleitungen und Bowdenzügen, in den sich der Flugzeugmechaniker gezwängt hat. Nun setzt er präzise die letzte Niete. Konzentration und Anstrengung sind ihm anzusehen, aber er würde mit niemandem tauschen wollen. „Das ist schon etwas ganz Besonderes, an diesem Flugzeug arbeiten zu dürfen“, sagt er.
Das Leben der Junkers Ju 52/3m
06.04.1936: Auslieferung der fabrikneuen D-AQUI Fritz Simon an die Lufthansa. Teil der Ausrüstung: Schwimmer für den Einsatz als Seeflugzeug.
01.06.1936: Verkauf an die norwegische DNL, Kennzeichen LN-DAH Falken.
23.09.1940 – Mai 1945 als D-AQUI Kurt Wintgens wieder bei der Lufthansa.
September 1945 – Januar 1948: wieder bei der DNL in Norwegen. Kennzeichen LN-KAF Askeladden. Aus dieser und einer weiteren Ju 52, Baujahr 1943, entsteht eine neue Ju 52.
14.02.1948 – Oktober 1956: Bei der SAS mit gleichem Kennzeichen. Fliegt auf allen norwegischen Küstenrouten.
Anfang 1957: Der ehemalige Lufthansa-Pilot Christof Drexel kauft sie. Umbau in Oslo auf ein Räderfahrwerk. Im Sommer wird das Flugzeug mit 20 t Ersatzteilen nach Ecuador verschifft.
Bis 1962: bei TAO, Transportes Orientales S.A. fliegt sie von Quito (2800 m hoch) aus Passagiere und Fracht im gesamten Amazonasgebiet. Kennzeichen HC-ABS Amazonas.
Bis 1970 steht das Flugzeug unbenutzt am Rande des Flughafens von Quito.
25.05.1970: Der ehemalige Bomberpilot Lester F. Weaver kauft sie für 5000 $ und überführt die Ju 52 nach einer ersten Instandsetzung in einem achttägigen Flug nach Illinois/USA.
Mitte 1974: Verkauf an Cannon Aircraft für 36 000 $.
Ende 1974: Für 52 200 $ kauft sie der Schriftsteller Martin Caidin.
März 1975 – Ende 1976: Überführung nach Titusville, Florida. Große Instandsetzung. Einbau von P&W-1340-Motoren. Räder und Bremsen von einer Curtiss C 46. Neues Leben als Iron Annie, N52Ju.
Sommer 1984: Lufthansa kauft sie von Martin Caidin.
12.12.1984 – 28.12.1984: 8000 km langer Überführungsflug von Opa Locka, Florida, über Labrador, Grönland, Island, Schottland und England nach Hamburg.
Januar 1985 – April 1986: Restaurierung und Modernisierung auf der Lufthansa-Basis in Hamburg. Zulassung als Verkehrsflugzeug der höchsten Klasse: Personenbeförderung 1.
06.04.1984 – heute: Deutsche Lufthansa Berlin-Stiftung. Kennzeichen D-CDLH, Berlin Tempelhof. Historisches Kennzeichen D-AQUI als Bemalung. Jährlich ca. 10 000 Fluggäste in Deutschland und den angrenzenden Ländern.heu
Dieses Flugzeug ist die Junkers Ju 52 der Deutsche Lufthansa Berlin Stiftung (DLBS), das mit 80 Jahren älteste zugelassene Verkehrsflugzeug der Welt, das noch regelmäßig mit Passagieren startet. „Durchdacht und im Vergleich zu heutigen Maschinen wartungsfreundlich“, urteilt Marvin Taye, der sich mit Scholz bei der Krabbeltour durch die Tragfläche abwechselt. Die beiden arbeiten mit einem Expertenteam der Lufthansa Technik Hamburg und der Kaelin Aero Technologies aus Oberndorf am Neckar daran, der „Grande Dame“ der Luftfahrt wieder Höhenflüge zu ermöglichen.
Seit September 2015 stand die Maschine mit dem historischen Kennzeichen „D-AQUI“ flügellos am Boden. Seit Anfang dieser Woche sind die Tragflächen wieder montiert. Und alles deutet darauf hin, dass die „Tante Ju“ vom Bruch eines der acht Mittelholme vollständig genesen wird. „Eine ingenieurtechnische Meisterleistung“, sagt Wolfgang Servay, Sprecher der Lufthansa Berlin Stiftung.
Das Flugzeug in Zahlen
Baumuster: Junkers Ju 52/3m, Baujahr 1936
Crew: 4 (plus 16 Passagiere)
Triebwerk: 3 Neunzylinder-Sternmotoren Pratt & Whitney, PW 1340 S1 H1G Wasp
Startgeschwindigkeit: 120 km/h
Reisegeschwindigkeit: 190 km/h
Maximale Reichweite: 825 km (280 min Flugdauer)
Maße: 18,90 m lang, 6,10 m hoch, 29,25 m Spannweite
Tragfläche: 110,5 m2heu
Die geringfügig verschobene Position einiger Nieten in der Nähe des Fahrwerks war 2015 das erste Anzeichen eines strukturellen Schadens. „Der Bereich ist der sogenannte Mittelflügel, der den Rumpf trägt und an dem die beiden Tragflächen befestigt sind“, erinnert sich der damalige und inzwischen pensionierte Technische Betriebsleiter der DLBS, Matthias Panten.
Je vier Ober- und Unterholme aus kaltgezogenen Aluminiumrohren fangen die Kräfte auf, die auf das Flugzeug mit einem maximalen Startgewicht von 10,5 t wirken. Untersuchungen der Holme mittels Boroskopie offenbarten schnell die Tragweite des Problems. „Unterholm 2 wies einen so starken Riss auf, dass ein weiterer Betrieb der Ju als Passagierflugzeug ausgeschlossen war“, sagt Servay.
Die Reparatur eines vergleichbaren Schadens wäre auch bei einem modernen Flugzeug nicht trivial, aber ohne Weiteres machbar: „Normalerweise gibt es ja einen Hersteller, der über die notwendigen Ersatzteile und die Einbauvorschriften verfügt“, sagt Winfried Wiedenhofer, Pantens Nachfolger als Technischer Betriebsleiter der Stiftung.
Während die Wahl der Ersatzteile bei der Instandsetzung eines Autos frei ist, gelten in der Luftfahrt strenge Regeln, insbesondere in der Verkehrsfliegerei, wo Material und Bauteile für den Flugbetrieb zugelassen und zertifiziert sein müssen. „Die entsprechenden Handbücher für die Ju 52 gibt es noch“, sagt Wiedenhofer. Aber schon die Frage nach dem verwendeten Material, war nicht mehr zu klären. „Es gibt die Firma Junkers nicht mehr und nach so vielen Jahrzehnten auch niemanden mehr, den man fragen könnte.“
Zudem, ergänzt DLBS-Sprecher Servay, „hat damals wohl kaum jemand daran gedacht, dass die Holme irgendwann ausgetauscht werden müssten“. Die Flugzeuge waren für eine Lebensdauer von vielleicht zehn oder 15 Jahren konzipiert. „Mit Sicherheit hat niemand damit gerechnet, dass eine Ju 52 nach 80 Jahren immer noch im Einsatz ist.“
Mit Lufthansa Technik und Kaelin Aero Technologies sicherte sich die Stiftung deshalb umfassendes Expertenwissen: Die Hamburger Luftwerft verfügt über alle notwendigen Ingenieurkapazitäten und ein metallurgisches Labor. Kaelin ist Experte für die Restaurierung historischer Flugzeuge und hat eine besondere Beziehung zu Junkers: Das Unternehmen hat gerade eine Junkers F-13 komplett nachgebaut, deren Original 1919 das erste Ganzmetallflugzeug der Welt war. Die Ju 52 ist nach demselben Prinzip als freitragender Tiefdecker konstruiert. Der Rumpf steht auf dem Tragflächenmittelstück mit durchgehenden Rohrholmen und ist wie die Tragflächen mit 0,3 mm bis 0,5 mm starkem Wellblech aus Duraluminium beplankt; das Gerüst der Flügel besteht aus jeweils vier Ober- und Unterholmen, die sich zu den Flügelenden verjüngen und untereinander über ein Fachwerk aus Z-Streben verbunden sind.
Selbst nach heutigen Maßstäben sind die Tragflächen mit je 800 kg Gewicht Leichtbau. Mit einer Fläche von je 110 m2 sind sie nur 12 m2 kleiner als die Fläche des Airbus A320. Jeweils gut 10 m lang, können sie abgeschraubt werden; der 18,50 m lange Rumpf ist dann gerade noch so breit, dass das Flugzeug auf einem Eisenbahnwaggon transportiert werden kann.
Bei der Reparatur des defekten Unterholms 2 erwiesen sich vor allem die beiden Gewindeköpfe mit einem Durchmesser von jeweils 100 mm als Herausforderung. „Metallurgische Untersuchungen zeigten, dass die damals geschmiedet worden sind“, sagt Servay. Heute kann das kaum noch jemand, ein geschmiedeter Nachbau wäre exorbitant teuer geworden. „Deswegen haben wir uns entschieden, das Gewinde rollen zu lassen, um einen dem geschmiedeten Original ähnlichen Verdichtungsfaktor von 4 bis 5 zu erreichen“, so Panten.
Bevor die Ingenieure und Techniker den Mittelholm demontieren konnten, mussten sie eine Herausforderung bewältigen. „Laut Junkers-Reparatur-Handbuch liegt die Toleranz für die Position der Anschlussstücke bei 0,1 mm“, erläutert Wiedenhofer. Das Fachwerk rund um den beschädigten Holm ohne Sicherungsmaßnahme zu lösen, hätte die gesamte Geometrie aus dem Gleichgewicht gebracht; auch beim Wiedereinbau wäre die Gefahr unkalkulierbar gewesen, Spannungen in das System einzutragen. Um das zu verhindern, entwickelten die Ingenieure zwei jeweils 400 kg schwere Stahlrahmen, die die acht Mittelholme exakt in Position hielten, sodass der defekte Holm 2 gelöst und ersetzt werden konnte.
Als sich der Umfang der Sanierung abschätzen ließ, entschied sich die Lufthansa Berlin Stiftung angesichts der ohnehin langen Bodenpause der Ju 52, auch die stark belasteten Unterholme 2,3 und 4 in den Tragflächen auszutauschen. Lediglich der vordere Holm 1 war auf beiden Seiten in Ordnung – er war bereits bei der grundlegenden Sanierung der Ju 52 vor 30 Jahren getauscht worden.
Für den Austausch dieser Flächenholme musste ein Stahlrahmen wie beim Mittelflügel zur Positionierung der Endstücke eingesetzt werden. Zudem wurden beide Tragflächen mit der Vorderkante nach unten jeweils in einem 6,5 t schweren Stahlgestell aufgehängt, damit die Holme spannungsfrei ein- und ausgebaut werden konnten. Um an die Holme heranzukommen, wurden Teile der Beplankung entfernt und durch neues Wellblech ersetzt, das exakt nach den Originalmaßen auf der Kantbank gefertigt wurde. Die Werkzeuge für den Wiedereinbau fanden sich nicht einmal im Dessauer Junkers-Museum. Die Kaelin-Experten mussten sie eigens fertigen.
Angesichts des Aufwands scheinen die Gesamtkosten von rund 900 000 € gering zu sein. Für die Deutsche Lufthansa Berlin Stiftung allein wäre das nicht zu finanzieren gewesen. „Ohne einen Zuschuss des Bundes und die Hilfe der Deutschen Lufthansa wäre die Ju 52 möglicherweise für immer am Boden geblieben“, betont Wolfgang Servay. Immerhin ist die D-AQUI ein offizielles Denkmal Hamburgs. Ein Hamburger Hafengeburtstag ohne das sonore Brummen der drei Neun-Zylinder-Sternmotoren der Ju 52, die über der Stadt ihre Kreise zieht? Das wäre in der Hansestadt undenkbar, so wie das Flugzeug in vielen anderen Städten einen festen Freundeskreis hat. „Unsere Techniker haben fast Schlange gestanden, um an diesem Projekt mitzuwirken“, weiß Wiedenhofer.
Als Gunnar Scholz für eine Pause aus seinem engen Arbeitsplatz im Flügel klettert, bringt er in einem Satz die Faszination auf den Punkt: „Das hier ist eine lebendige Zeitreise durch die Geschichte der Luftfahrt.“ Sein Kollege Marvin Taye empfindet es ähnlich: „Wenn man überlegt, welche Mittel den Ingenieuren vor 80 Jahren zur Verfügung standen, kann man nur Respekt vor denen haben, die dieses Flugzeug einst entwickelt haben“, sagt er. Etwas leiser fügt der Anfang-20-Jährige noch hinzu: „Und irgendwann werde ich auch damit fliegen.“
Gelegenheit dürfte er haben: „Wir werden alles tun, dass unser fliegendes Denkmal auch noch zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 2036 fliegen wird“, sagt Wolfgang Servay, „das sind wir dieser unglaublichen Technik und Tausenden begeisterter Fans und Passagiere schuldig.“