Der bewegte Rollstuhlfahrer
Langes passives Sitzen ist Gift für den Rücken, das weiß inzwischen jedes Kind. Bei Büromöbeln versucht man dem vorzubeugen. Aber was ist mit den Menschen, die zwangsläufig am meisten sitzen: im Rollstuhl? Das Kölner Start-up Desino hat einen Rollstuhl entwickelt, der die Wirbelsäule und die Rückenmuskulatur des Fahrers kontinuierlich in Bewegung hält – ähnlich wie beim Gehen. Anfang 2016 soll er auf den Markt kommen.
„Statisches Sitzen schädigt die Wirbelsäule, lässt die Muskulatur verkümmern und die Verdauung streiken“, weiß Sportwissenschaftler Daniel Levedag. „Wir wollen passives durch aktives Sitzen ersetzen“, sagt der Mitgründer und Geschäftsführer von Desino.„Statisches Sitzen schädigt die Wirbelsäule, lässt die Muskulatur verkümmern und die Verdauung streiken“, weiß Sportwissenschaftler Daniel Levedag. „Wir wollen passives durch aktives Sitzen ersetzen“, sagt der Mitgründer und Geschäftsführer von Desino.
Der patentierte Aktiv-Rollstuhl, den Desino entwickelt hat, ist für Menschen gedacht, die fit genug sind, um sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Angetrieben wird er hauptsächlich mit zwei Handhebeln, die man im Wechsel zieht und drückt. Die Hebelbewegungen werden auf die flexibel gelagerte Sitzschale und Rückenlehne und damit auf das Becken und den Oberkörper des Sitzenden übertragen. Die Nachahmung des menschlichen Gangs soll den weit verbreiteten Rückenschmerzen und Haltungsschäden vorbeugen.
Neben dem gesundheitlichen gebe es auch einen funktionalen Mehrwert: Der Hebelantrieb erweitere den Aktionsradius im Vergleich zum manuellen Standard-Rollstuhl enorm, so Levedag. Mithilfe der Hebel kann der Fahrer ebenfalls lenken, bremsen und bis zu elf Gänge schalten, um lange Strecken und leichte Steigungen zu bewältigen. Als zweiten Antrieb gibt es die klassischen Greifreifen. Sie ermöglichen das Ankippen und dadurch das Überwinden etwa von Bordsteinkanten. Zum längeren Fahren dienen die Greifreifen jedoch nicht: „Deshalb sitzt der Fahrer hier aufrecht und nicht dauernd verkrümmt“, sagt der Gründer. Und obwohl der Rollstuhl einen festen Rahmen hat, kann er zusammengeklappt werden.
Der ursprüngliche Entwurf stammt vom Produktdesigner Thyl Junker, der ihn in seiner Diplomarbeit an der Köln International School of Design erarbeitete. Bei einem Seminar des Hochschul-Gründernetzwerks Cologne konnte der junge Designer den Sportwissenschaftler Levedag von seiner Idee überzeugen. Die beiden entschieden, sich selbstständig zu machen und beantragten ein Exist-Stipendium. Ohne einen Ingenieur im Team trauten die Förderer ihnen jedoch keine erfolgreiche Gründung zu. Das Duo wandte sich daraufhin an den Lehrstuhl für Medizintechnik der RWTH Aachen. „Dort wurden wir auf Roman Pagano hingewiesen, der gerade seine Diplomarbeit schrieb“, erzählt Levedag.
Mit dem angehenden Ingenieur für Medizintechnik an Bord bekamen die Gründer ihren Exist-Antrag bewilligt und gingen 2012 an den Start. Die jeweiligen Hochschulen unterstützten sie bei der Entwicklung. „Wirklich wichtig und entscheidend für unseren Weg war, dass wir beim NUK Businessplan-Wettbewerb mitgemacht haben“, erinnert sich Levedag. „Wir konnten uns ein großes Netzwerk aufbauen und den Hauptpreis gewinnen. Das hat uns viel Aufmerksamkeit, auch seitens der Investoren gebracht.“
2014 bekam das Jungunternehmen Risikokapital vom Hightech-Gründerfonds und dem Business Angel Dieter Lorenzen. „Unser Business Angel kommt aus dem Marketingbereich und hilft uns sehr bei Vertragsverhandlungen und dem Aufbau des Vertriebs“, so Levedag.
Der Rollstuhl wird über Sanitätshäuser verkauft. Desino will Verkäufer schulen, damit sie ihn individuell anpassen können. Zurzeit testen die Patienten des Reha-Zentrums Quellenhof in Bad Wildbad, wie sich die neue Mobilitätshilfe im Alltag bewährt.
Mehr als 1,5 Mio. Menschen in Deutschland brauchen nach Angaben der Stiftung MyHandicap einen Rollstuhl, dauerhaft oder zeitweise. Dabei ist Rolli nicht gleich Rolli: Das Fahrzeug einer pflegebedürftigen Person unterscheidet sich nach Antrieb und Ausstattung erheblich vom Aktiv- oder gar Sportrollstuhl eines selbstständigen Fahrers. Entsprechend gibt es hunderte von Modellen weltweit. Krankenkassen sowie andere Kostenträger übernehmen die Kosten je nach ärztlicher Verordnung. In manchen Fällen muss der Nutzer die Zusatzkosten für all das selbst zahlen, was die Krankenkasse als medizinisch nicht notwendig erachtet.
Desino will mit den Kassen in Zukunft zusammenarbeiten. Vorab soll getestet werden, wie die Akzeptanz auf dem Markt ist. Kosten wird das Fahrzeug voraussichtlich 5000 € bis 8000 €. Der Preis orientiert sich an vergleichbaren Sonderausführungen und Handbikes. Letztere sind per Handkurbeln getriebene Kombinationen aus Rollstuhl und Fahrrad. „Unser Produkt bietet einen Zusatzantrieb und gesundheitlichen Mehrwert“, gibt Levedag zu bedenken. „Wir wollen den aktiven Rollstuhlfahrer erreichen.“ Deshalb werde Desino oft auf Sportveranstaltungen Werbung machen, obwohl sein Produkt nicht zu den Sportrollstühlen zählt. Das Start-up ist auch dabei, Prominente, beispielsweise Paralympics-Sportler, als Fürsprecher zu gewinnen.
Foto: Desino
Desino plant, die Rollstühle in der eigenen Werkstatt zu montieren und im fünften Geschäftsjahr auf rund 20 Mitarbeiter anzuwachsen. Der Schwerpunkt liegt vorerst auf dem hiesigen Markt. Man müsse sich schließlich mit den sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen auseinandersetzen, um in anderen Ländern zu verkaufen. Der internationale Vertrieb ist eine Sache der ferneren Zukunft. „Wir haben uns jedoch vorgenommen, unser Sitz- und Antriebssystem auch anderen Rollstuhlherstellern anzubieten“, sagt Levedag. Er sieht keine Gefahr, das eigene Produkt zu kannibalisieren: „Das dynamische Sitzen wollen wir so einer breiteren Masse an Fahrern zugänglich machen, auch solchen, die ihrer Marke treu bleiben wollen.“