Aachener machen (e)mobil
Im Westen der Republik rollen zwei Produktionstechnologen den Markt für Elektrofahrzeuge neu auf.
Am Campus-Boulevard 30 fegt der Wind über grüne Wiesen. Seit 2017 residiert hier das Cluster Produktionstechnik unter dem Dach eines modernen Großbaus. Auf der gläsernen Front des Foyers prangt – schon von Weitem sichtbar – ein Schriftzug des E-Fahrzeugherstellers e.GO Mobile und verkündet in stolzen Lettern: „Ich bin Aachener.“ Günther Schuh ist hier gleich in drei Funktionen unterwegs. Der Professor für Produktionssystematik und geschäftsführende Direktor des Clusters an der RWTH Aachen baut nämlich auch Autos und ist der Vorstand von e.GO.
In seinem Büro im fünften Stock sitzt Schuh vor Simba, dem Löwen, nebst Freunden aus der Disney-Trickfilmfamilie. „Das sind nicht meine“, wehrt der e.GO-Chef lachend ab. Die Stofftiere werden verschickt, wenn eine Vorbestellung für das erste Serienfahrzeug des E-Mobilherstellers eingeht und der Kunde einen entsprechenden Tiernamen für sein Fahrzeug gewählt hat. Aber der kleine VW-Bulli auf dem Tisch gehört dem 59-Jährigen. Da sei er Fan, bekennt Schuh.
Im Auftragsbuch des frischgebackenen Autobauers stehen heute 2900 Vorbestellungen. Sie kommen nicht nur aus Aachen, sondern auch aus Stuttgart oder Berlin. Darunter längst nicht nur die typischen Technikpioniere, sondern auch Otto Normalverbraucher. Sie überzeuge das „logische“ Gesamtkonzept der Aachener, das E-Mobilität neu denke, glaubt Schuh. „Das ist für uns als Wissenschaftler das schönste Lob, da freue ich mich diebisch drüber.“ Auch die Caritas habe für ihre Pflegedienstflotte schon ein Auge auf 3000 Fahrzeuge geworfen.
Foto: Zillmann
Unten im Show-Room glänzt der e.GO-Life-Prototyp in sattem Blau. Ein kompakter Viersitzer mit freundlichem Gesicht. „Wir sagen immer, der schmunzelt“, erzählt Schuh. Der italienische Autodesigner Paolo Spada habe zahlreiche Änderungen im Entwicklungsprozess „geschmeidig“ mitgetragen. So war ein erster Prototyp als Microcar (L7e) ausgelegt. Den hatte Schuh noch als Initiator und Mitgründer der Firma Streetscooter mitentwickelt. Nach dem Verkauf des Nutzfahrzeugs an die Post gründete er mit frischem Startkapital 2015 e.GO Mobile.
Heute ist die Zulassung als vollwertiges Fahrzeug auf dem Weg. „Wir hätten bei der Microcar-Breite von 1,50 m keine Seitenairbags untergebracht“, erläutert der e.GO-Chef. Sicherheit soll beim Life aber Trumpf sein. Deshalb sei auch das Chassis aus Aluminium- und Stahlprofilen leicht überdimensioniert und damit besonders steif und ermüdungssicher ausgelegt. Für Schuh gibt es da kein Vertun: „Unser Auto hält 100 Jahre.“ Damit Vertriebspartner Bosch Car Services später auch Wartung und Updates machen kann, erlaubt eine Car-2-Cloud-Box im Life den Zugriff auf die gesamte Elektronik.
Sanft streicht Schuh über die Außenhaut seines Stromers. „Wir haben hier eine Lichtreflexion, für die Sie normalerweise fünf Lackschichten brauchen“, erzählt Schuh. Tatsächlich sei beim e.GO aber gar nichts lackiert, denn eine Lackierstraße mache die Produktion teuer. Das Fahrzeug ist mit eingefärbten Thermoplasten beplankt, die extrem farb- und oberflächenstabil sind. Sie dehnen sich beim Formungsprozess etwas aus.
„Wir akzeptieren dabei optisch ein größeres Spaltbild als die klassischen Autohersteller“, räumt der Geschäftsführer ein und meint damit die Fugen zwischen den einzelnen Karosserieteilen. Für den Kunden sei der Unterschied aber kaum sichtbar. Jetzt auf zur Prototypenwerkstatt! Die Tür des E-Flitzers fällt mit sattem Sound ins Schloss.
Die Anlauffabrik des Clusters Produktionstechnik ein paar Gänge weiter bietet Forschern und Unternehmen wie e.GO einfach alles, was des E-Fahrzeugbauers Herz bei Prüfung und Montage von Prototypen begehrt. Monteure und Studierende werkeln geschäftig an Karosserieteilen und messen an offenen Autoherzen. Kabel quellen überall vor. Im Hintergrund dröhnt eine Fräsmaschine. „Wir haben das Fahrzeug nach dem Vorbild der Softwareentwicklung ‚scrum-mäßig‘ entwickelt und immer wieder Teilprototypen getestet“, erklärt Schuh. Scrum bedeutet, dass parallel zur Produktentwicklung die Planung stetig angepasst wird.
Alles, was zur Funktionalität gehört, sei deshalb in zig Versionen erprobt. Alle Entwicklungspartner arbeiten dabei auf einer gemeinsamen internetbasierten Entwicklungsplattform. Auf Änderungen in einem Entwicklungsteil könnten andere Bereiche sofort reagieren. „Im Vergleich zu anderen Autoherstellern haben wir so nur ein Drittel der Zeit gebraucht.“
An einer der Montagestationen wird ein Prototyp von 48 V auf einen neuen Hochvolt-Powertrain von Bosch umgerüstet. Der neue Asynchronmotor mit Kohlebürsten verspreche viel Drehmoment. Denn das leistungsstärkste Modell Life 60 sei auf Fahrspaß ausgelegt. „Er hat eine negative Wankachse wie ein Porsche 911“, schwärmt Schuh, der selbst einen Porsche Hybrid fährt. Dass die Entwickler auf bewährte Konzepte und Bauteile setzen, hat dabei Methode: „Nichts von dem, was wir hier verbaut haben, ist ein einzeltechnologisches Abenteuer“, weiß der Chefentwickler. „Aber es ist eine originelle Kombination.“ Denn am Ende geht es den Aachenern vor allem um eins: um „bezahlbare Elektromobilität“.
Das Thema Batteriepackage steht hier gerade ganz oben auf der Agenda. Um die Batterie vor Überhitzung zu schützen, würden Autohersteller meist eine Wasserkühlung vorsehen. Die Aachener wollen eine günstigere Lösung. Er habe die technische Herausforderung zunächst unterschätzt, verrät der Forscher. Doch sofort fangen seine Augen an zu blitzen. „Wir haben eine solide Lösung nur mit Luftkühlung gefunden.“
In Aachen Rothe Erde steht Mitte Mai erst mal der Produktionsstart an. In der brandneuen Fabrik auf dem ehemaligen Philips-Werkgelände ist zunächst der Einschichtbetrieb mit einer Jahreskapazität von 10 000 Fahrzeugen geplant. Ab Mitte 2019 soll eine zweite Schicht die Kapazität verdoppeln. Die ersten 100 Serienfahrzeuge dürfen nur im Testbetrieb auf die Piste gehen. „Ob nach x Kilometern vielleicht noch ein Kabel aus der Halterung rutscht, muss man wie Alfred Zerban auf der Rüttelstrecke ausprobieren“, erinnert Schuh an den legendären Verkehrsjournalisten im WDR-Hörfunk.
Zeit für den Abschied, denn gleich ist ein Zulieferer zum Strategiegespräch beim Elektrofahrzeug-Hersteller zu Gast. Die Arbeit geht weiter. Die Aachener entwickeln mit dem Kleinbus e.GO Mover und dem e.GO Booster inzwischen zwei weitere E-Fahrzeuge, vollelektrisch und als Plug-in-Hybrid. Details zum Booster möchte Schuh nicht verraten. Nur so viel: Das Design soll noch einmal ganz anders sein. Denn der Forscher ist überzeugt: „Wir haben als Newcomer nur mit einzigartigen Fahrzeugen eine Chance.“
Die Jülicher Straße – einmal quer durch die Stadt – ist heute wie gestern das pulsierende Herz der Industrie in Aachen. Vor den roten Backsteinbauten von Streetscooter rauscht der Verkehr. An einer Ladesäule saugen zwei E-Transporter in Gelb und Orange gerade einträchtig Strom. Im Verwaltungsgebäude aus den 1920er-Jahren erklimmt Achim Kampker in Jeans und Kapuzenshirt die Stufen.
Hier herrscht reges Treiben. Zulieferer aus Belgien präsentieren sich heute auf einer Hausmesse, erklärt der CEO von Streetscooter. An der RWTH Aachen kam der 42-Jährige 2010 als Geschäftsführer zum Streetscooter-Projekt und hat sich dem elektrischen Nutzfahrzeug vom ersten Prototypen an mit viel Herzblut verschrieben. Heute ist der RWTH-Professor für Production Engineering of E-Mobility Components auch Bereichsleiter Elektromobilität der Post.
Foto: Zillmann
Unterm Dach ein schnörkelloser Besprechungsraum als stimmiges Entree in die Welt des eigenwilligen E-Fahrzeugbauers. Der einzig fröhliche Akzent auf dem Tisch ein gelber Spielzeugtransporter. „Wir reden bei unseren Fahrzeugen von einem Werkzeug, das wir jemandem in die Hand geben“, erklärt der Streetscooter-Chef die Philosophie.
Kampker ist überzeugt von seinem Fahrzeug. Der E-Transporter sei besonders robust und in der Erstnutzung auf zwölf Jahre ausgelegt. In der Branche üblich seien sonst acht Jahre. Beschädigte Teile ließen sich dank modularem Aufbau „für ganz kleines Geld“ austauschen. Das bedeute unterm Streich deutlich geringere Service- und Reparaturkosten, so dass sich die Anschaffungskosten sehr schnell rechnen.
Und jetzt wird der sachliche Ton des Autobauers doch noch leidenschaftlich: „Das ist eine ganz andere Denke, die wir da mit reinbringen“, sagt Kampker eindringlich. „Wenn ich über Nachhaltigkeit rede, ist das ein wichtiger Faktor.“
Foto: Zillmann
In den Zustellbezirken der Post sind heute rund 6000 Streetscooter emissionsfrei unterwegs. 1500 E-Transporter aus Aachen fahren inzwischen auch für Drittkunden. Beispielsweise im Stuttgarter Raum für die EnBW-Tochter Netze BW oder in der Grünpflegeflotte der Stadt Bonn. Aber auch schon bei den holländischen Nachbarn. „Wir bauen hier für unterschiedliche Anwendungsbereiche jeweils ein spitzes Produkt“, bringt Kampker die Strategie auf den Punkt.
Nebenan in der Montagehalle senkt sich gerade ein postgelber Koffer, der hintere Aufbau, auf den Streetscooter Work. Ein Laufkran in Gelb und Blau stellt gerade das nächste kofferlose Gefährt in die Reihe. „Wir können im Unterschied zu Wettbewerbern hinter dem Fahrerhaus quasi beliebige Aufbauten machen“, erzählt Kampker. So ist der Aachener Transporter auch als Pick-up und Kipper zu haben. „Das ist eine Stärke, die wir jetzt ausspielen.“ Jüngst beispielsweise mit einem Niederflurfahrzeug für eine regionale Bäckereikette. „Die können jetzt vom Bordstein mit dem Wägelchen reinfahren.“ Die Produktionskapazität liegt in Aachen bei 10 000 Fahrzeugen pro Jahr. Ein zweiter Standort im rund 35 km entfernten Düren soll ab Sommer das Potenzial für bis zu 20 000 Fahrzeuge jährlich schaffen.
Kampker lächelt und hat gleich einen Grundsatz für den Streetscooter parat: „Auf gute Dinge, die es schon gibt, bauen wir auf.“ Beim neuen Streetscooter Work XL beispielsweise auf die Plattform des Ford Transit. „Die ist hervorragend“, schwärmt Kampker. Antriebsstrang und Kofferaufbau sind weiter made in Aachen. Der Work XL soll noch in diesem Jahr auf den Markt kommen. Für den Einsatz von Streetscootern als Kühlfahrzeuge forscht der Autobauer an einem Konzept mit Solarpaneelen. Dabei gelte: „Wichtig ist, dass die Komplexität überschaubar bleibt.“
Im deutsch-niederländischen Business-Park Avantis, knapp 15 min von hier, sollen sich bald kleine Häuschen und ein Betriebshof um eine Teststrecke scharen und ein städtisches Umfeld simulieren. „Da können wir genau unsere Einsatzzwecke nachstellen“, freut sich der Forscher. Ein Szenario der Zukunft: Gelbe Transporter könnten flinken Zustellern bei ihrem Dienst autonom folgen. Mit einer anderen Technologie geht das Unternehmen heute in die Vorserie: Die Brennstoffzelle soll eine Reichweite von 500 km ermöglichen und die Fahrzeugzeugbatterie mit einer Wasserstofftankladung ausreichend laden.
Die Zukunft fährt auf jeden Fall elektrisch, da ist sich Kampker sicher – Unkenrufen, die die Batterietechnologie durch knappe Rohstoffreserven unter Druck sehen, zum Trotz. Viele Rohstoffvorkommen seien heute noch gar nicht erschlossen. „Dass Batterien nicht mehr günstiger würden, lässt sich aus meiner Sicht durch fast nichts belegen.“ Auch Blackout-Szenarien durch eine Überlast an E-Fahrzeugen schrecken den Streetscooter-Chef nicht. „Wir müssen das Fahrzeugvolumen und die Infrastruktur parallel ausbauen.“
Der Maschinenbauingenieur, der privat einen Opel Ampera fährt, ist Überzeugungstäter: „Ich möchte, dass meine Kinder und vielleicht mal Enkel eine intakte Umwelt vorfinden, und das treibt mich an.“ Von Verboten bestimmter Antriebe hält er nichts. Sein Credo: „Man muss Dinge vorantreiben und auch mal mutig sein.“
Draußen reckt sich der rote Backstein selbstbewusst ins trübe Mittagsgrau. Die beiden E-Transporter ziehen unbeirrt Strom – ein Stück Aachener Strukturwandel.