Die Digitalisiererin
Nissrin Arbesun Perez studierte zuerst Management, um sich erst dann den Ingenieurwissenschaften zu widmen. Jetzt treibt sie in der SmartFactoryOWL die Digitalisierung voran.
Im Arbeitshandschuh von Nissrin Arbesun Perez steckt ein Ultraschallsensor, der mit der Kamera über dem Montageplatz kommuniziert. Bei jedem Griff in die Materialkisten leuchtet ein Bildschirm grün auf. Greift die junge Wissenschaftlerin mal daneben, leuchtet es rot und piepst. „So wird man Schritt für Schritt angeleitet, welche Bauteile man wie zusammenschraubt“, sagt sie. Der Handschuh ist eine Hilfe für Ungelernte, aber auch für erfahrene Monteure, die mit immer komplexeren Produkten und zahlreichen Produktvarianten klarkommen müssen.
Die „SmartFactoryOWL“ ist nach eigener Aussage „eine offene Forschungs- und Demonstrationsplattform für die digitale Transformation. Mit Unterstützung eines interdisziplinären Expertenteams fließen die gewonnenen Erkenntnisse und Untersuchungsergebnisse in Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse ein.“
Produzierende Unternehmen können eigene Pilotanlagen aufbauen, sie mit Industrie-4.0-Lösungsbausteinen ausstatten und testen, auch um ihr Personal weiter zu qualifizieren.ws
Die Fabrik, in der Perez arbeitet, ist die SmartFactoryOWL in Lemgo. Solche Smart Factories sind an mehreren Forschungsstandorten entstanden, um die Industrie 4.0., die Digitalisierung und Vernetzung der Produktion zu demonstrieren und voranzutreiben. Die Fabrik in Lemgo wurde im April 2016 eröffnet und ist eine gemeinsame Einrichtung der Hochschule OWL (Ostwestfalen-Lippe) und des Fraunhofer Anwendungszentrums Industrielle Automatisierung (IOSB-INA). Die regionale Wirtschaft hat die Hälfte der 10 Mio. € teuren Investition finanziert. In OWL sind viele Pioniere der Automatisierung und Digitalisierung angesiedelt: Bosch Rexroth, Phoenix Contact, Beckhoff, Weidmüller, um nur einige zu nennen. Hier können sie ihre neuen Anlagen installieren, mit Industrie-4.0.-Bausteinen ausstatten, testen und optimieren lassen.
Als Schülerin wollte Perez Journalistin werden. Die Jugendliche aus Minden in Ostwestfalen machte ein Praktikum bei einer Tageszeitung, studierte später „Internationales Management“ mit dem Schwerpunkt Medien an der Universität Flensburg. Ihr erster Job führte sie in die Abteilung „integrierte OP-Lösungen“ einer Medizintechnikfirma. „Das hat mein Interesse für Technik geweckt“, erinnert sich die heute 35-Jährige.
Die Welt der Mikroskope, Computertomographen und OP-Navisysteme war spannend, doch welcher Weg führt dahin? „Ich habe mit Maschinenbauern und IT-Spezialisten zusammengearbeitet: Von ihnen machten viele berufsbegleitend einen MBA. Aber den umgekehrten Fall, aus dem Managementbereich kommend eine technische Qualifikation draufzusatteln, gab es gar nicht.“ An der Hochschule OWL in Lemgo fand die junge Mutter eine Teilzeitstelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projektmanagement. „Da saß ich direkt an der Quelle und konnte berufsbegleitend Ingenieurwissenschaften studieren.“
Und zwar als Wirtschaftsingenieurin. Der Beruf biete eine interessante Mischung aus Strategiemanagement, Internationalisierung wie auch verschiedenen Verfahrenstechnologien, Mechanik und Werkstoffkunde. Ihre Masterarbeit gewann einen Preis des Refa-Instituts: Darin untersuchte sie, wie Konstruktion und Design einer Fräsmaschine so optimiert werden können, dass die Montage verschlankt wird. Die von ihr analysierten Montageplätze der Firma Homag, die Maschinen für die Holzverarbeitung baut, sind heute in der SmartFactoryOWL nachgebildet.
In der Zukunftsfabrik fing Perez kurz nach der Eröffnung an. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem, die modernen Technologien der Öffentlichkeit vorzuführen. Mehrere Tausend Besucher kommen jährlich nach Lemgo: Firmen- und Verbandsvertreter, Studierende und interessierte Bürger.
Besonders wichtig ist jedoch, diese Technologien nicht nur zu demonstrieren, sondern auch in die KMU zu transferieren. OWL ist eine sehr mittelständisch geprägte Region. Bei vielen Unternehmen ginge es nicht immer um Industrie 4.0., sondern auch um eher klassische Themen wie Lean Management, Fabrikplanung oder -optimierung. Der erste Schritt wäre, sich mit Hilfe der Wissenschaftler einen Überblick zu verschaffen: Welche Technologien gibt es überhaupt und welche hat das größte Potenzial in meinem Unternehmen? Denn zu digitalisieren hieße nicht, die ganze Fabrik umzukrempeln. Man könne sich wie aus einem Werkzeugkasten mit Lösungen bedienen. „Betriebe, die bereits stark automatisiert sind, interessieren sich für das Thema maschinelles Lernen, damit die Anlagen selbstoptimierend fahren können.“
Andere Betriebe montieren nach wie vor manuell: Für sie sind Augmented-Reality-Systeme interessant, um Monteure zu begleiten. Aber auch der 3-D-Druck ist sehr spannend: Es gibt nicht das eine Thema, bei dem die Daumen hoch gehen“, schildert Perez. Oft entstehen konkrete Ideen und Anwendungsfälle bereits während der Besichtigung der SmartFactoryOWL. Zudem können die Unternehmen hier ihre Prototypen entwerfen und testen lassen.
Besonders die Mädchen-und Frauenförderung liegt der Ingenieurin, die auf Umwegen zu ihrem Beruf gekommen ist, am Herzen. „Fast alle Besucherinnen der Zukunftsfabrik sind begeistert“, sagt sie, „aber ob das zu einer entsprechenden Studienwahl beiträgt, ist eine andere Frage. Auch bei uns in Lemgo ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie von einem Mann herumgeführt und den Vortrag eines Mannes hören werden. Kann sein, dass sie dann denken: Es ist ja doch noch eine Männerdomäne.“
Deshalb macht Perez auch beim Projekt „Digi-talisiererin.NRW“ mit. Das vom Landesministerium für Gleichstellung geförderte Projekt stellt drei Frauen vor, die aktiv die Digitalisierung vorantreiben. Mädchen können sich darum bewerben, sie an ihrem Arbeitsplatz zu treffen. Ende März hatte Perez eine Studentin aus Bielefeld zu Besuch, die sich für das Thema künstliche Intelligenz interessierte. „Ich kann mir vorstellen, dass sie sich langfristig bei uns wohlfühlen würde.“
In ihrer Präsentation als „Digitalisiererin.NRW“ unterstreicht die Ingenieurin den kreativen Charakter der technischen Berufe: „Das Berufsprofil sieht nach einem Haufen Zahlen aus. Die Technik ist sehr stark systematisiert und unterliegt Qualitätsrichtlinien. Aber besonders in der Entwicklung ist sehr viel kreativer Handlungsraum.“
Und noch etwas: Um mehr Frauen für Mint (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zu gewinnen, brauche es eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf. Flexible Arbeitszeitmodelle, weniger Dienstreisen und mehr Kinderbetreuung: Das alles sei noch längst nicht bei allen Firmen angekommen. „Man möchte nicht immer zwischen Kind und Karriere entscheiden müssen.“
Beruflich reizt es sie, noch viel breitere Gesellschaftsgruppen anzusprechen, noch mehr „in die Interaktion mit der Bevölkerung“ zu gehen. Beispiel: „Wir erweitern unsere Technologien in Richtung Smart City. Die Frage ist: Wie kann eine Kleinstadt wie Lemgo davon profitieren?“ Und sei es nur durch eine Bus-App. Dadurch bekomme der Busfahrer in Echtzeit mit, wo sich sein Kollege gerade befindet und könne abschätzen, ob es sich lohnt, an der Zentralstation noch auf ihn zu warten. Das mache das Umsteigen für die Fahrgäste leichter.