Eine ostdeutsche Liebeserklärung
Mit Freiraum für Kreative, einer Menge Kultur und Charme sowie einem Schuss Größenwahn hat sich Leipzig in die Liste der angesagtesten Städte Deutschlands katapultiert. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung beschreibt unser Autor, was seine Stadt Leipzig zu dem gemacht hat, was sie heute ist.
Mit dem 3. Oktober verbinden die Leipziger eher ein Kopfschütteln: Der 9. Oktober 1989, das ist hier der Tag, der jedes Jahr mit einem Lichtfest als Beginn der Freiheit gefeiert wird. Mit den Protesten in Kirchen und auf Straßen nahm seinen Lauf, was vier Wochen später zum Fall der Mauer und letztlich vor 25 Jahren zum Feiertag der Deutschen Einheit führte.
Auch über ein Vierteljahrhundert nach der Einheit sind die Unterschiede in Ost und West sichtbar:
Die neuen Länder haben mit einer deutlich höheren Arbeitslosigkeit zu kämpfen: 2013 lag die Arbeitslosenquote hier bei rund 10 %, während sie im früheren Bundesgebiet 6 % betrug.
Auch beim Gehalt gibt es Unterschiede: Verdienten vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer 2013 im Westen durchschnittlich 3600 € brutto pro Monat, waren es im Osten nur 2700 €. Damit lag der Bruttomonatsverdienst hier rund 25 % niedriger.
Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich aber nicht nur im beruflichen Bereich, sondern auch im Privaten: Frauen in den neuen Ländern bekamen im Jahr 2012 ihr erstes Kind durchschnittlich mit 27,9 Jahren und waren damit anderthalb Jahre jünger als Mütter im früheren Bundesgebiet: Diese waren bei der Geburt ihres ersten Kindes durchschnittlich 29,4 Jahre alt.
Frischgebackene Eltern nehmen in den neuen Ländern und in Berlin deutlich häufiger eine frühkindliche Betreuung in Anspruch: So belief sich die Betreuungsquote für Kinder unter drei Jahren zum 1. März 2014 hier auf 52 % – im früheren Bundesgebiet dagegen auf 27 %.
Leipzig war die wohl am stärksten vom Verfall gezeichnete Stadt der DDR. „Ist Leipzig noch zu retten?“, so war ein sensationeller Dokumentarfilm betitelt, den das DDR-Fernsehen in seinen letzten Monaten ausstrahlte. Der überall sichtbare Verfall war Aufschrei und Hoffnung: Immerhin, noch standen die meisten der Gründerzeitbauten. Und die Leipziger konnten sich gut an den früheren Glanz ihrer Stadt erinnern.
Und der lockte in den 1990ern neben einigen Glücksrittern auch viele Investoren an: Die Stadt war einst ein Zentrum des Maschinenbaus. Fabriken wie Pittler Drehmaschinen, Brehmer Druckmaschinen, der von Rudolph Sack begründete Landmaschinenbau oder die einst der Familie Bleichert gehörende Förderanlagen- und Seilbahnenbau – sie alle galten vor dem Krieg als Weltmarktführer. Dazu kamen Verlage mit klangvollen Namen wie Reclam, Brockhaus, Baedecker oder Insel – es gab hier mal 500 Verleger und wohl nicht weniger Druckereien. Thomaner, Bach, Gewandhaus und die 800 Jahre alte Messe, das Offenheit verheißende Tor zur Welt – das musste doch alles ein Pfund für den Wandel sein.
25 Jahre später strotzt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung vor Stolz. „Leipzig ist die am schnellsten wachsende Stadt Deutschlands“, betont er bei jeder Gelegenheit, und führt auch einige Gründe dafür an.
Inzwischen ist die Stadtlandschaft in großen Teilen so prächtig saniert, dass Besucher aus Perlen wie München oder Hamburg fast ein bisschen neidisch werden. Dabei ist reichlich Raum für Kreative geblieben, die sich in den ehemaligen Industrievierteln neue Quartiere schaffen – von der inzwischen weltberühmten Atelierslandschaft der „Spinnerei“ bis hin zu zahlreichen Thinktanks und natürlich Kneipen und Clubs ohne Ende.
Aber auch die Industrie, die 1990 von 110 000 Arbeitsplätzen binnen eines Jahres auf ein Zehntel geschrumpft wurde, floriert. Die Stammbelegschaft der neuen Werke von Porsche und BMW zählt inzwischen gut 8000 gut bezahlte Köpfe, 1000 Neueinstellungen pro Jahr sind schon fast keine Schlagzeile mehr wert.
Dazu kommt ein sich rasch entwickelnder Mittelstand – auch im Maschinenbau. Etwa der Bodenbearbeitungsspezialist BBG, der inzwischen zum Landmaschinenbauer Amazone gehört: „Seither wurde am neuen Standort kräftig in neue Werkhallen und Technik investiert, die Belegschaft wuchs von 63 auf 370 Mitarbeiter an“, berichtet Betriebsleiter Ralf Döring. Amazone entwickelt und konstruiert in Leipzig selbst Maschinen. Anders als BMW und Porsche, die Ingenieure hier mehrheitlich in der Prozess- und Betriebstechnik beschäftigen.
Dabei lief keineswegs alles so glatt, wie es heute scheint. Der zweifelhafte Titel „Boomtown“ lockte Anleger: Zahnärzte, Immobilienentwickler und Anwälte wurden verführt, ihre Ersparnisse in „Anlageobjekte“ zu versenken, um Steuern zu sparen. Für das Stadtbild hatte das auch seine gute Seite, wie Pleitier Jürgen Schneider zeigte, der Milliardenschulden, aber auch drei Dutzend gut sanierte Baudenkmäler hinterließ: Die alte Schönheit des verlorenen Bürgertums – Leipzig galt in den 30er-Jahren mit 720 000 Einwohnern als eine der wohlhabendsten Städte Deutschlands – war in Rekordzeit mit neuen Hotels, Büros und Wohnungen wieder sichtbar.
Nur waren die Menschen weg – entweder migrierten sie in den Westen der Arbeit hinterher oder zogen aufs Land ins eigene Häuschen. Mitte der 90er-Jahre stand ein Viertel der Büroflächen und 40 000 Wohnungen leer. Ein Paradies für Mieter, die für wenig Geld in jeder Lage frisch renovierte Wohnungen finden konnten und dafür häufig sogar noch einen großen Präsentkorb oder sogar eine Reise vom Eigentümer erhielten.
Jetzt erlebt die Stadt seit vier, fünf Jahren einen Zuzug wie seit den Gründerjahren nicht mehr. Um 12 000 kletterte die Zahl der Bewohner allein im letzten Jahr, 2015 ist der Sog der „Schwarmstadt“, die vor allem junge Leute anzieht, nicht verebbt. Noch immer ist das Wohnen mitten in der Stadt selbst für Menschen mit geringen Einkommen möglich, wenngleich die inzwischen überall hochgezogenen Luxusapartments durchaus Geld kosten.
„Im Vergleich zu München oder Hamburg zahlt man hier die Hälfte, auch beim Kauf einer Eigentumswohnung“, erfährt man im Immobiliencenter der Sparkasse. Dort reiht sich an der Pinnwand eine Loft-Wohnung am Fluss neben einem Terrassenhaus am See im Süden der Stadt ein.
Auch die Uni hat eine Metamorphose hinter sich. Äußerlich ist ein Prachtbau direkt in der Stadtmitte entstanden, der vom holländischen Stararchitekten Jan van Eggerat entworfen wurde. Das allerdings so komplex, dass der Bau immer wieder diskutiert wird. Da wittern die einen eine Auferstehung der 1968 gesprengten Universitätskirche. Andere erregt, dass das Gebäude, in dem sich Aula, Andachtsraum und in den Obergeschossen die Fachbereiche Mathematik und Informatik befinden, schlicht nicht fertig wird. 2009, als die zweitälteste Hochschule Deutschlands ihren 600. Geburtstag feiern wollte, war es ein Rohbau. Bis heute rätseln Handwerker, wie sie die vom Gewölbe wie gotische Säulen hängenden Leuchten aus Glas ausführen können.
Schlimmer aber war, dass in den ersten Jahren des Freistaates Sachsen die Pläne für die Hochschullandschaft nur in Dresden geschmiedet wurden. Leipzig war die einzige Volluniversität des Landes, allerdings ohne Ingenieurwissenschaften. Diese waren in einer eigenständigen Hochschule, der HTWK (Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur) angesiedelt. Die angestrebte Fusion kam nicht zustande, dafür wurden in Dresden, Chemnitz und Freiberg aus den dortigen TU Volluniversitäten.
Die für Leipzig schmerzliche Folge ist, dass die entsprechenden Fraunhofer-Institute an anderen sächsischen Orten entstanden. Immerhin: Leipzig erhielt auf dem früher von der Akademie der Wissenschaften genutzten Gelände einen Campus mit dem Umweltforschungszentrum und seit einigen Jahren mit dem neuen Biomasse-Forschungszentrum.
Stark entwickelt haben sich auch ein Fraunhofer-Institut für Zelltherapie, um das herum eine ganze Bio-City mit zahlreichen Start-ups, aber auch einigen größeren Biotechfirmen wuchs. Und nicht zuletzt hat die Max-Planck-Gesellschaft Institute für die Hirnforschung, Mathematik und Evolutionsforschung in Leipzig etabliert.
Die „Affenforscher“ dort – sie haben unter ihrem international renommierten Chef Svante Pääbo vieles über unsere Abstammung entdeckt – gaben den Anstoß für eine weitere Erfolgsgeschichte: den Leipziger Zoo. Da das Institut für die Feldforschung Millionen für den Bau beisteuerte und den Zugang zu Fördermitteln leichter machte, entstand zunächst eine spektakuläre Landschaft für die Primaten. Weil das allein schon zum Besuchermagneten taugte, legten die Leipziger nach und bauten sich einen „Zoo der Zukunft“ für einen dreistelligen Millionenbetrag, inklusive einer gigantischen Tropenhalle. Der Erfolg hat längst Zweifler verstummen lassen, die meinten, man könne sich das nicht leisten.
Diese Nörgler gab es auch beim Bau des S-Bahn-Tunnels oder einige Jahre zuvor, als der Bahnhof selbst modernisiert wurde. Seither ist der riesige Klotz, 1915 als Doppelanlage der preußischen und der sächsischen Staatsbahn eingeweiht, nicht mehr nur der größte, sondern auch der schönste Europas.
Und der Tunnel, das Milliardengrab? „Eene Uhboan für Leepzsch, das brauch mor doch gor nisch“, erzählte fast jeder Taxifahrer dem angereisten Gast und orakelte, die Häuser im Zentrum würden Risse bekommen und nun Kitas nicht gebaut. Nachdem die Bahnen seit fast zwei Jahren rollen und oft ziemlich voll sind, hat natürlich niemand jemals den Sinn der Anlage infrage gestellt, vielmehr werden jetzt mehr Züge gefordert. Und auch von einer U-Bahn redet keiner mehr.
Eins muss noch sein: ein Ding, das ebenfalls erst Kopfschütteln hervorrief und bis heute für mitunter handfesten Streit sorgt – zumindest zwischen Einheimischen und auswärtigen Fußballfans. Als in Deutschland vor mehr als 100 Jahren um eine nationale Meisterschaft gekickt wurde, kam der erste Meister aus? – genau. Und 1956 wurde aus den Resten der im Krieg erheblich zerbombten Stadt eine Arena gebaut, die mehrmals ihrem Namen als „Stadion der 100 000“ Ehre machte.
Nach 1990 aber begann der Niedergang, Pleiten, Pech und Pannen führten die beiden „Traditionsvereine“ Lok und Chemie bis in die 13. Liga – wo neue Rekorde bei den Zuschauerzahlen aufgestellt wurden. Als mit dem Brausehersteller Red Bull ein privater Investor auftauchte, der mit Blick auf die Fußball-WM 2006 ein neues Stadion aus dem Boden stampfen wollte, schlugen die Stadtoberen zu. Schließlich grassierte damals noch die Idee, die Olympischen Spiele 2012 ausrichten zu wollen. Der Größenwahn, nicht ganz untypisch für Leipzig, hat bei den Spielen nicht, beim Fußball dann aber irgendwie doch funktioniert. Ein schönes Stadion, eine noch schönere Stadt – da rollt der Ball irgendwann wie von selbst.