Ausbrand im Boosterstreit
Die Zulieferer der Ariane 6 finden in der Frage der Boosterfertigung keinen gemeinsamen Nenner. Eine Lösung ist in Sicht.
Im Streit um die Boosterfertigung für die neue europäische Trägerrakete Ariane 6 zeichnet sich eine spektakuläre Kehrtwende ab: Das Augsburger Unternehmen MT Aerospace könnte am Ende der mehrjährigen Verhandlungen leer ausgehen. „Nach aktuellem Stand werden aus Deutschland keine Boostergehäuse kommen“, sagt ein Insider aus der Trägerraketenbranche.
Luxemburg, 2014: Auf ihrer Ministerratskonferenz beschließen die ESA-Staaten, dass sich MT und der italienische Raketenbauer Avio die Fertigung der aus Carbon gewickelten Boostergehäuse teilen. Avio nutzt den Motor, P120, als Erststufe für seinen eigenen Träger, Vega C, dessen Jungfernflug für 2019 geplant ist. Das Unternehmen besitzt ein Patent für eine Carbonwickeltechnik, die auch bei der Fertigung des Vega-C-Zweitstufenmotors Z40 zum Einsatz kommt.
MT Aerospace fertigt schon seit langem die metallischen Strukturen der Ariane-Familie. Die Augsburger wollen mehr. In Luxemburg kündigt Deutschland auf ein Signal aus Bayern hin an, seinen Anteil am Ariane-6-Programm aufzustocken. Und das hängt mit dem Georeturn-Prinzip zusammen, das besagt, dass die von der ESA vergebenen Industrieaufträge in einem Programm proportional zu den Beiträgen aus den jeweiligen Mitgliedsländern ausfallen. MT, so das deutsche Kalkül, soll in die Lage versetzt werden, Carbonstrukturen zu fertigen.
MT und einige Carbonforschungsinstitute aus Augsburg entwickeln deshalb gemeinsam einen neuen Wickelprozess für das P120-Boostergehäuse, der den Preis der italienischen Motoren deutlich unterbieten soll. Beiden Verfahren ist gemein, dass ein Faserverbundmaterial mit elastomerischer Matrix – der Thermalschutz des Boostergehäuses – um einen gusseisernen Kern gelegt wird. Nun beginnen die Unterschiede. Avio nutzt für das Carbongehäuse Prepregmaterial, also bereits imprägnierte Fasern. MT will trockene Faser wickeln und die Matrix nach dem Resin-Infusion-Verfahren erst während des Aushärtens erzeugen. Unter Vakuum wird das flüssige Harz in den Rohling gesaugt.
Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass es nicht so einfach wird, die ehrgeizigen Kostenziele zu erreichen. „Die Schwierigkeiten waren größer als zu erwarten gewesen wäre: MT Aerospace hatte keine Erfahrung mit dem Werkstoff Carbon“, sagt ein Insider aus der Trägerraketenbranche. „Man hat sich überschätzt.“
Spätherbst 2016: Um zu verhindern, dass die Boosterfrage die ESA-Ministerratskonferenz in Luzern sprengt, beschließen Vertreter der Wirtschaftsministerien Italiens und Deutschlands, der beteiligten Raumfahrtagenturen, der ESA und der Unternehmen einen Arbeitskompromiss. Avio soll die Hälfte der P120-Booster im vormontierten Zustand – also bereits mit Thermalisolierung – nach Augsburg liefern. MT wickelt die Gehäuse und schickt den fertigen Motor zurück nach Italien – als Auftragnehmer Avios. „Man wäre auf Gedeih und Verderb auf den Goodwill von Avio angewiesen gewesen. Das hätte nicht gut gehen können“, sagt ein Branchenkenner.
Seitdem wurde weiter verhandelt. Nun zeichnet sich ein abruptes Ende ab, auch wenn es noch keinen unterschriebenen Vertrag gibt. „Der letzte Kompromiss war umständlich“, sagt Paolo Bellomi, der bei Avio das Engineering und die Produktentwicklung leitet. „Ich gehe davon aus, dass alle P120-Motoren bei uns in Colleferro gebaut werden.“
Laut Bellomi ist die Reorganisation der Boosterfertigung vor allem aus finanziellen Gründen notwendig. „Die Einsparungen, die durch den automatisierten Wickelprozess in Augsburg erzielt worden wären, hätten nicht ausgereicht, um eine zweite Produktionslinie zu rechtfertigen“, sagt der Avio-Manager. „Die Einsparung für den reinen Wickelprozess ohne Rohstoffe und Thermalisolierung hätte mindestens 60 % betragen müssen, um den Mangel an Skalierbarkeit auszugleichen.“ MT Aerospace äußerte sich auf Anfrage nicht zum Ariane-6-Programm.
Einem Insider aus der Trägerraketenbranche zufolge ist die neue Lösung im Einklang mit dem Georeturn-Prinzip. Als Ausgleich für die wegfallende Gehäusefertigung würde die Fertigung der Sauerstoffturbopumpen für die Ariane-Familie von Avio nach Deutschland übertragen. Konkret sei der Standort Ottobrunn der ArianeGroup federführend. „Ab 2020 könnten die ersten Turbopumpen aus Ottobrunn kommen“, sagt der Insider. 50 % der Wertschöpfung gehen demnach über das MT-Tochterunternehmen Aerotech Peissenberg trotzdem an MT Aerospace.
Die Augsburger wären durch die neue Lösung strategisch gleich doppelt im Nachteil. Erstens beherrscht die ArianeGroup die Turbopumpenfertigung selber: Die Wasserstoffturbopumpen für die Ariane werden am Standort Vernon hergestellt. Und zweitens würde die Anwendung der neu entwickelten Wickeltechnik in weitere Ferne rücken. Trotzdem bleibt der Prozess wirtschaftlich vielversprechend. In Zukunft könnten damit dann nicht mehr nur Boostergehäuse hergestellt werden, sondern ganze Oberstufen, sogenannte „black stages“ aus Carbon. „Ziel ist es, die Ariane 6 in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre mit einer CFK-Oberstufe zu fliegen“, sagt ein Brancheninsider.
Aus deutscher Sicht ist das Tauschgeschäft die kostengünstigere Lösung. Rund 147 Mio. € wären für Entwicklung, Beschaffung und Installation der bayrischen Wickeltechnik angefallen, fünf mal so viel wie für die Einrichtung der Turbopumpenlinien. Eine endgültige Entscheidung könnte im Laufe des Aprils oder im Mai fallen.
Der Zeitplan für die Ariane 6 ist nach übereinstimmenden Aussagen nicht gefährdet. Avio will im Juni den P120-Motor zum ersten Mal zünden. Der sogenannte „static fire test“ wird auf einem Teststand am europäischen Weltraumbahnhof in Kourou durchgeführt. Der Erstflug der Ariane 6 ist für 2020 geplant.