Arbeitsmarkt: Kompetenzen und Anforderungen im Wandel
Eine anpassungsflexible und nachhaltige Industrie kann nicht nur auf klassischen Bildungssäulen ruhen, meinen Wissenschaftler. „Future Skills“ sind gefragt. Aber was ist das?
Zukunftsprobleme sind keine Probleme, die in der Zukunft zu lösen sind. Es gilt, sie jetzt anzupacken. Bei der EU-Klimakonferenz in Glasgow sei die Chance verspielt worden, wichtige Pflöcke für eine zukunftstaugliche Wirtschaft einzuschlagen, beklagt die Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP). „Die Industrie kann viel mehr“, heißt es aus den Reihen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die Forschung und Lehre der Produktionstechnik in Deutschland vertreten. „Eine neue Form von Industrie ist möglich.“
Forderung nach einer „Revolution“
Es brauche nur etwas mehr Mut – den das Glasgower Treffen habe vermissen lassen. Es seien zwar Begriffe wie „grüner Stahl und Aluminium“ gefallen, doch damit sei der Sektor Industrie auch schon abgehakt worden, obwohl er global der drittgrößte Verursacher bei den energiebedingten CO2-Emissionen sei. „Insgesamt nimmt die Geschwindigkeit dieser Entwicklung leider jene einer Evolution an. Was wir heute brauchen, ist jedoch eine Revolution auf breiter und internationaler Front“, verlangt Jens Wulfsberg, Vizepräsident der WGP. Hierzu bedürfe es einer industriellen Produktion, die nicht nur auf hohe Produktivität und niedrige Stückkosten bei gehobener Qualität ausgerichtet ist, sondern auch auf ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit. „Wir brauchen den Willen, Visionen zu realisieren und die dafür notwendigen großen Schritte in produktionstechnischer Forschung, Entwicklung, Erkenntnistransfer und Realisierung zu gehen.“
Über grünen Stahl hinaus, so Wulfsberg, arbeiteten Professorinnen und Professoren erfolgreich an einer anders gearteten Produktion, die etwa auf Abfallvermeidung, Kreislaufwirtschaft, Energie- und Materialeffizienz sowie Leichtbau basiere. Ein praktikables Beispiel von mehreren sei die globale Initiative „Fab City“, der sich Hamburg angeschlossen habe. Dabei werden mithilfe digitaler Instrumente Methoden erforscht, Datenmodelle von Produktideen in der nötigen Stückzahl und Qualität, pünktlich je nach Kundenwunsch und -ort zu produzieren. Basis sind neuartige Produktionsmaschinen und Methoden der Planung, Steuerung und Qualitätssicherung, die unter Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger der Praxistauglichkeit unterzogen werden. Wulfsberg: „Wir stellen die Wertschöpfungskette auf den Kopf und bieten den Menschen ein System an, von dem jeder profitieren kann – die klassische Industrie inklusive.“
Deutschland hat ideale Wettbewerbsbasis
Oder das Prinzip der Update Factory. Mit ihm ließen sich Lebenszyklen von Produkten drastisch verlängern, Abfälle vermeiden und Materialkreisläufe schließen. Dadurch könne, verspricht Wulfsberg, der den Produkten anhaftende CO2-Rucksack länger genutzt und „abgeschrieben“ werden. „Das Konzept geht weit über bestehende Reparatur-, Remanufacturing- oder Upcycling-Ansätze hinaus.“
Den Professor graust es bei der Vorstellung, die sich bietende Chance nicht zu nutzen. „Stellen Sie sich vor, Deutschland ginge international voran in Sachen ökologisch nachhaltiger Produkte und Produktion. Die Grundlagen hierfür haben wir – vor allen anderen Playern. Wir stellen Spitzenmaschinen her und sind wichtiger Fabrikausstatter für die ganze Welt. Wäre es nicht eine neue Chance, jetzt weltweiter Ausstatter für ökologisch nachhaltige Produktion zu werden?“
Schön und gut. Aber sind Fachleute hierzulande mit diesen Herausforderungen vertraut? Haben sie das Rüstzeug, der „Revolution“ zum Erfolg zu verhelfen? Wulfsberg hält das deutsche Bildungssystem für eine solide Grundlage zur Kompetenzgewinnung, für nicht mehr und nicht weniger. Bildung müsse generell offener für individuelle Gestaltungsprozesse werden, Stichwort: Lebenslanges Lernen. „Die Entwicklung von updatefähigen Produkten und der Betrieb von Update-Fabriken erfordern das ständige Weiterentwickeln der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiter“, meint Wulfsberg. Ihr Spezialwissen zu Maschinen, Verfahren oder örtlichen Prozessen erhielten die „Maker“ durch die Kommunikation in den Communities und das selbstständige Auswählen frei verfügbarer Lern- bzw. Wissensinhalte. „Inhalte, Formate, Didaktik und Wissensmanagement sind von den Bildungsträgern und Unternehmen bereitzustellen. Universitäten nehmen hier eine wichtige Rolle ein.“
Ruf nach der Fähigkeit, Visionen zu entwickeln
Was Fertigungstechniker Wulfsberg ausführlich beschreibt, fassen Stifterverband und die Berater von McKinsey unter „Future Skills“ zusammen. Auch sie kommen in zwei Studien zu der Erkenntnis, dass die Disziplin Technik sich öffnen und sich kritisch hinterfragen müsse. Neben technologischen gewännen auch transformative Kompetenzen an Bedeutung. In einer Studie heißt es: „Konkret geht es dabei zum Beispiel um die Fähigkeit, Qualitätsunterschiede zwischen verschiedenen Informationsquellen beurteilen zu können (Urteilsfähigkeit) oder die Fähigkeit, Visionen entwickeln und andere Menschen davon überzeugen zu können (Missionsorientierung), aber auch um die Fähigkeiten, Dinge zu hinterfragen und neue Ideen umsetzen zu können (Innovationsfähigkeit).“
Hier stünden nicht allein die klassischen Ausbilder akademischer Karrieren in der Verantwortung. Der massive Ausbau technologischer und technologienaher Studiengänge (seit 2018 hat sich die Zahl spezialisierter Studiengänge laut Studien von 111 auf 311 fast verdreifacht) sei zwar zu begrüßen, der Wissensbedarf werde aber allein durch mehr Absolventinnen und Absolventen nicht zu decken sein. „Dem Thema Up- und Reskilling von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Techfähigkeiten wird in den kommenden Jahren eine zentrale Bedeutung zukommen.“ McKinsey-Partnerin Julia Klier resümiert: „Unternehmen müssen die für sie besonders wichtigen Future Skills identifizieren und mit den vorhandenen Kompetenzen ihrer Mitarbeiter abgleichen. Eventuelle Kompetenzlücken müssen geschlossen werden – durch Neueinstellungen und vor allem durch Qualifizierungen der Beschäftigten. Nur so können Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben.“
Die „Heimat für radikale Neudenker:innen“
Klassische Bildungseinrichtungen legen die Basis, die Bundesagentur für Sprunginnovation (Sprind) setzt einige Schritte weiter an. Sie soll disruptive Technologien und Visionsbereitschaft fördern sowie dafür sorgen, dass kluge Köpfe sich jenseits des vorhandenen Wissens tummeln können, oder, wie es auf ihren Internetseiten heißt, eine „Heimat für radikale Neudenker:innen“ sein. Sprind-Gründungsdirektor Rafael Laguna de la Vera weiß, dass Erfindungen auf Ideen von „Verrückten“ basieren, diesem Typus Mensch aber nicht immer die nötige Offenheit entgegengebracht wird. „Wir fördern Leute, die mit Biss und einer Portion Dickköpfigkeit für ein Thema brennen, die den Drang nach Wirkung haben, die wollen, dass das umgesetzt wird, was sie machen. Und die sich trauen zu scheitern. Wir haben solche Typen, wir müssen aber dafür sorgen, dass die mit ihren Ideen nicht ins Ausland gehen.“
WGP und Sprind in Kurzporträts
Der bekennende „Fortschrittsoptimist“ ist großer Anhänger technologischer Lösungen, kein Fan von Dogmen und Verboten. „Angst ist kein guter Ratgeber. Die Welt ist in den vergangenen 200 Jahren durch Wissenschaft und Technik, durch Ingenieurinnen und Ingenieure besser geworden. Probleme von Technologien werden durch bessere Technik behoben. Denkverbote sollten wir uns a priori nicht geben. Wir sollten in Technik investieren und nicht in Verzichtpredigten.“
„Die Gefahr ist groß, dass die Transformation verschlafen wird“
Aus Sicht des Ökonomen Marcel Fratzscher sind Klimaschutz und digitale Transformation die entscheidenden Eckpfeiler, deutsche Unternehmen in zehn bis 20 Jahren im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu halten. „Wie die Erfahrung der Automobilbranche mit alternativen Antrieben und autonomem Fahren zeigt, ist die Gefahr groß, dass die Transformation verschlafen wird“, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Wie Jens Wulfsberg von der Gesellschaft für Produktionstechnik fordert auch Fratzscher mehr Mut zum Handeln. Die Transformation werde in den kommenden Jahren zwar riesige Investitionen von Staat und Unternehmen erfordern, die ambitionierten Ziele seien aber nur durch ein massives privates und öffentliches Investitionsprogramm erreichbar. Der Schlüssel liege vor allem in politischen Händen. „Nicht die inhaltlichen Prioritäten der neuen Bundesregierung werden entscheidend für einen langfristigen Erfolg oder ein Scheitern der ökologischen und digitalen Transformation sein, sondern der Mut, die Geschwindigkeit und die Entschiedenheit der Umsetzung.“