ARBEIT 08. Mai 2015 Wolfgang Schmitz Lesezeit: ca. 4 Minuten

Zu viele Studenten, zu wenige Facharbeiter?

Als Angela Merkel 2008 die „Bildungsrepublik“ ausrief, war damit das Ziel verbunden, möglichst viele Menschen an die Hochschulen zu bringen. Nun werden Zweifel laut. Die duale Berufsausbildung sei größter Trumpf der deutschen Wirtschaft, sie müsse gesellschaftlich wieder aufgewertet werden, mehren sich die Stimmen.

Die Überwachung komplexer Technologien erfordert komplexes Wissen. Die deutsche Berufsausbildung bietet die Grundlage dafür.
Foto: Rainer Weisflog

Arbeit wird komplexer. Ungelernte, deren Muskelkraft die entscheidende Ressource ist, werden kaum noch gebraucht. Der Umgang mit Hightech benötigt eine fundierte Bildung. Ein Ausbildungsleiter bei Siemens sagt bezeichnenderweise: „Das, was früher die Ingenieure machten, machen bei uns heute die Facharbeiter.“

Abiturienten erobern den Ausbildungsmarkt

Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes werden Abitur und mittlerer Schulabschluss mehr und mehr zum Standard auf dem Ausbildungsmarkt. 67,3 % der Jugendlichen im dualen Ausbildungssystem verfügen demnach über solche Abschlüsse. 2009 waren es noch 63,3 %. Für diesen Trend sei vor allem die wachsende Zahl der Abiturienten im dualen System verantwortlich. Sie sei in nur vier Jahren um 5 % gestiegen: von 20,3 % (2009) auf 25,3 % (2013).

„Der Anteil der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss hingegen sinkt kontinuierlich“, so der DGB. Lag er 2009 bei 33,1 %, sei er inzwischen erstmals unter die 30-Prozent-Marke gerutscht (29,5 % im Jahre 2012).

Kein Wunder: Mit der steigenden Zahl an Abiturienten wächst die der Azubis mit Hochschulreife. Wenn sie ihre Lehrjahre hinter sich haben, sind sie hoch qualifizierte Technik-Experten ihres stetig komplizierter werdenden Fachs. Da ist für Hauptschüler kein Platz mehr.

Da ein Studium trotz der Studentenschwemme als beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit gilt – im vorigen Studienjahr immatrikulierten sich laut Statistischem Bundesamt rund eine halbe Million junge Menschen in Deutschland, fast doppelt so viele wie zu Beginn der 90er-Jahre –, nahmen laut Bundesregierung rund 57 % eines Jahrgangs eine akademische Karriere auf; ein großer Teil der restlichen Schulabgänger mit Hochschulreife kommt Jugendlichen mit Real- oder Hauptschulabschluss bei den Lehrberufen zuvor.

Mehr Wertschätzung für die duale Ausbildung wünscht sich der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Hubertus Heil, vor allem aber mehr Engagement der Unternehmen, sich auch Ausbildungssuchenden mit schlechten Schulabschlüssen anzunehmen. „Um diese Menschen müssen sich die Unternehmen verstärkt bemühen, anstatt nur über fehlende Ausbildungsreife zu lamentieren.“

Heil beruft sich auf den jüngst vorgestellten „Berufsbildungsbericht 2015“ der Bundesregierung. Danach bleiben immer mehr Lehrstellen unbesetzt, zugleich stellen immer weniger Betriebe Ausbildungsplätze zur Verfügung. Die Quote der Ausbildungsbetriebe lag 2014 mit 20,7 % auf dem niedrigsten Wert seit 1999.

Diese Passivität der Unternehmen widerspricht der Forderung von Eric Schweitzer nach dual ausgebildeten Jugendlichen. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) dachte jüngst in „Die Welt“ laut darüber nach, die Zahl der Studienplätze „wieder zu verknappen“. Der Studenten-Boom gehe zulasten der dualen Ausbildung. „Wir leiden an einer Überakademisierung … Wenn in manchen Stadtteilen mehr als 60 % eines Jahrgangs aufs Gymnasium gehen, rüttelt so eine Haltung an den Fundamenten unseres Wirtschaftssystems.“

Der Bedarf von Wirtschaft und Wissenschaft an Akademikern beträgt rund 26 %.

Viele Studierende seien in einer Lehre besser aufgehoben, würden aber durch das Signal, das Abitur sei das Nonplusultra, von einer dualen Ausbildung ferngehalten. Schweitzer belegt diese These mit den immer noch hohen Abbruchquoten Studierender und mit einer aktuellen DIHK-Studie, nach der die Erfahrungen der Wirtschaft mit Bachelorabsolventen zusehends schlechter werden. Eine Erkenntnis, die der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) nach einer aktuellen Umfrage nicht teilen. Von Skepsis in Unternehmen könne nicht die Rede sein, der Bachelor sei inzwischen hoch geachtet. „Bei der großen Mehrheit der Unternehmen gibt es keine Positionen, für die ein Masterabschluss zwingend erforderlich wäre. In über 80 % der Unternehmen werden Bachelorabsolventen als Projektleiter eingesetzt, in knapp 60 % sogar als Bereichs- oder Abteilungsleiter“, heißt es vom Stifterverband.

Mit schlecht bis mittelmäßig ausgebildeten Absolventen dürften sich Hochschulen nicht zufrieden geben, gibt der Dachverband der Studierenden, fzs, dem DIHK recht. Dass viele Studienveranstaltungen zu „reinen Massenevents verkommen sind und an Qualität verloren haben“, sei aber keine Folge der Studentenschwemme, sondern unterfinanzierter Hochschulen. „Der Zugang zur Hochschulbildung muss weiterhin allen offenstehen, nicht nur einem kleinen elitären Kreis“, meint fzs-Vorstand Daniel Gaittet.

Wissenschaftlich untermauert wird die Forderung nach breiter gesellschaftlicher Öffnung vom Soziologen Steffen Schindler. Während Akademikerkinder ihren Eltern auf deren Karrierepfaden nur zu folgen brauchten und in einem Studium den gesellschaftlichen Status reproduzierten, müssten Kinder aus nichtakademischen Familien bei der Entscheidung für die Hochschule aus ihrer gesellschaftlichen Hülle ausbrechen und neue Wege gehen. Schindler spricht in diesem Zusammenhang von der „Aufstiegsangst“ der Arbeiterkinder. Eine Abschottung der Hochschulen wäre demnach kontraproduktiv.

Nicht abschotten, sondern eindämmen, rät Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. „Wenn Steigerungsraten bei den tertiären Abschlüssen und die Abnahme bei der dualen Ausbildung anhalten, haben wir in Deutschland in absehbarer Zeit einen Akademikerüberhang.“ Bosch belegt das mit Zahlen: Wirtschaft und Wissenschaft benötigten einen Akademikeranteil von 25 % bis 27 %. Daran werde auf absehbare Zeit auch die Digitalisierung nichts ändern. Werde darüber hinaus akademisch ausgebildet, was derzeit bei 40 % bis 50 % der Schulabsolventen der Fall sei, drängten diese auf mittlere Firmenpositionen, für die sie nicht entsprechend qualifiziert seien.

Die Hauptschule als klassische Bildungsstätte für Berufe im Handwerk habe ausgedient. Sie erweise sich mittlerweile mehr als Stolper- denn als Karrierebaustein, meint Bosch. „Es gibt einen beachtlichen Anteil Jugendlicher, die in der Lage wären, eine Ausbildung zu machen, die aber als Absolventen der Hauptschule, die zu einer ,Restschule‘ verkommen ist, von vornherein diskriminiert sind.“

Eine weitere Hürde für Nicht-Abiturienten seien die wählerisch gewordenen Arbeitgeber. Viele Banken, Versicherungen und IT-Firmen nähmen nur noch Abiturienten für ihre Ausbildungsstellen.

Da Hochschulen für jeden Studienanfänger Fördergelder bekommen, werden sie weiter um Schüler werben, ist Bosch überzeugt. Um mehr Azubis zu gewinnen, sollten die Unternehmensverbände Eltern signalisieren, dass die berufliche Bildung für ihre Kinder eine Karrierealternative ist. Voraussetzung: „Das Signal darf nicht symbolisch bleiben. Anerkennung, Karriereperspektiven und Bezahlung müssen stimmen.“

Wichtig sei das Miteinander, nicht das Gegeneinander der Qualifikationen. Bosch: „Ingenieure, Meister und Facharbeiter kommunizieren in Deutschland auf Augenhöhe. Deshalb funktioniert die Zusammenarbeit so gut.“ In angelsächsischen Unternehmen hingegen gehe ein Riss durch die Belegschaften: unten die Angelernten, oben die Ingenieure. Der eine verstehe den anderen nicht.

Glaubt man den Marktforschern von Forsa, hat die Frage „Facharbeiter oder Akademiker?“ aus Arbeitgebersicht an Brisanz verloren. Eine Umfrage für den Chemiekonzern Altana ergab, dass sich der Handlungsdruck deutscher Unternehmen in Sachen Fachkräftemangel entspannt habe. War das Thema 2014 noch Top-zwei-Herausforderung, ist es mittlerweile auf Rang vier abgerutscht.

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