Das ist die Königsliga der Innovation
Armin Grunwald, Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), fordert mehr Nüchternheit bei der Bewertung von Innovationen.
VDI nachrichten: Sie sind ja auch Technikphilosoph. Was ist eigentlich Innovation?
Grunwald: Sie scheint jedenfalls in der öffentlichen Debatte irgendwas Gutes zu sein, denn alle wollen sie. Das finde ich eine Nachfrage wert, weil das eine normative, moralische Vorbewertung ist, die etwas über uns aussagt, aber nicht unbedingt über die Innovation, um die es gerade geht. Der Grad der Neuheit scheint für unsere Bestimmung für Definition wichtig zu sein. Eine Innovation ist etwas, was in irgendeiner Form besonders neu sein muss und vom Bekannten auf eine besondere Weise abweicht. Was das Besondere ist, hängt ganz stark vom Feld ab, was man betrachtet. Technik, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft – das sieht überall anders aus. Aber es muss ein etwas größerer Abstand zum Bekannten sein als bei den normalen Dingen des Lebens.
Gehen wir mal in ein Unternehmen: Wenn da ein Produkt etwas verändert wird – würden Sie da schon von Erneuerung, Innovation sprechen, einer evolutionären Innovation?
Es gibt das Wort von der inkrementellen Innovation. Ein großer Teil der neuen Produkte, Dienstleistungen und Systeme, die in der Wirtschaft erzeugt werden, sind von diesem Charakter. Sie unterscheiden sich in bestimmten Teilen vom Vorgängermodell, ob bei Autos oder Versionsnummern von Softwareapplikationen. Es gibt nach meinem Wissen keine klare Definition, ob man die Differenz von Alt und Neu nach einer objektiven Skala messen könnte, dass man sagen kann: Oberhalb eines Sprunges von 3,5 nennen wir es nach der Richterskala Innovation und darunter eben nicht. Das ist schon immer eine Sache von Bewertungen, auch subjektiver Art, das kann man nicht objektiv entscheiden.
Es gibt ja immer das Wort „Disruptive Technologien“ oder „Disruptive Innovationen“. Die Bundesregierung hat eine Agentur für Sprunginnovationen in Leipzig eingerichtet. Wie ist das zu werten?
Das sind solche Innovationen, die gerne den eben genannten inkrementellen gegenübergestellt werden, die nicht nur hier und da ein paar Leistungsparameter usw. verbessern, sondern den Sprung ermöglichen in eine neue Welt von Dienstleistungen, Produkten oder Systemen. Wie die Digitalisierung vieler solcher Sprünge ermöglicht. Nehmen wir mal die gute alte analoge Fotografie. Da hat man viel entwickelt und die ganzen Aufsätze, technischen Möglichkeiten, Linsen immer weiter verbessert. Das war inkrementell, eine wunderbare Erfolgsgeschichte. Aber dann kam die Digitalisierung und es wurde ein ganz neues Speicherverfahren mit neuen Möglichkeiten der Bildverarbeitung etabliert. Das war disruptiv, weil das die alte Welt der analogen Fotografie mit den ganzen chemischen Prozessen, Filmen usw. in wenigen Jahren überflüssig gemacht und zum Ruin der entsprechenden Firmen wie Kodak, das berühmteste Beispiel, geführt hat.
Deshalb fördert das die Bundesregierung: Die Hoffnung ist, wenn so was in Deutschland gefunden, erfunden, gemacht würde, dann gäbe das der deutschen Industrie, der Wirtschaft einen Vorsprung, in einem Feld vom inkrementellen Verbesserer bestimmter Dinge zum Vorreiter zu werden, und vielleicht sogar mal weltweit. Das ist die Hoffnung dahinter.
Eigentlich sind alle Innovationen inkrementell
Ist die berechtigt? Wie entstehen Innovationen in dieser Form?
Da würde ich zunächst mal zwischen inkrementell und disruptiv unterscheiden. Die inkrementellen werden einfach geplant, Beispiel Automobilindustrie: Wie da inkrementell innoviert worden ist, über Jahrzehnte – wenn Sie sich mal einen benzinschluckenden amerikanischen Straßenkreuzer der 50er- und 60er-Jahre vorstellen und demgegenüber ein hoch effizientes Oberklasseauto der heutigen Zeit, dann ist das einfach Wahnsinn, was da an Fortschritt passiert ist. Das ist im Wesentlichen geplant und da ist viel Geld in die Hand genommen worden, ganze Abteilungen sind in den großen Konzernen auf die Spur gesetzt worden, Antriebstechnologien hier und da noch ein bisschen zu verbessern, Leichtbau zu ermöglichen, KW-Werte zu verbessern usw.
Dahinter stecken umfangreiche Prozesse der industriellen Produktion. Die disruptive, das sagt schon der Name, ist schlecht bis gar nicht planbar. Sie ist so etwas wie die radikale Idee von Innovation. Wie kann man sozusagen das ganz Neue denken? Streng genommen geht das gar nicht, weil wir Menschen aus einer Vergangenheit kommen und dann ja eine neue Welt denken müssten und dabei möglichst die Vergangenheit vergessen. Und das ist schwierig. Selbst wenn die Digitalkamera, um bei dem Beispiel zu bleiben, als Paradebeispiel für disruptive Innovation genommen wird – wenn man näher hinschaut, verlegt sich dieser Sprung in eine ganze Reihe von kleineren Sprüngen. Digitalisierung ist ja nicht erst mit der Digitalkamera erfunden worden, sondern das gab es schon lange. Wenn man es näher anschaut, ist der Sprung nicht ein Sprung, der in einer Sekunde gemacht wird, in einem Geistesblitz, sondern ein Sprung, der sich durchaus mit den Technologien, die man dafür braucht, über zehn, 20, vielleicht sogar mehr Jahrzehnte hingezogen hat.
Ein Geistesblitz ist nicht planbar
Also braucht es keine Agentur für Sprunginnovationen?
Das ist der Punkt, auf den ich hinaus will: Wenn man unter einer Sprunginnovation den einen, intuitiven Geistesblitz eines Ingenieurs, eines Informatikers versteht, dann ist der nicht planbar. Dann nützt auch eine Bundesagentur für Sprunginnovationen nichts. Aber was schon förderbar und beeinflussbar ist: ein Klima zu schaffen, in dem ungewöhnliche Ideen besser und schneller daraufhin untersucht werden können, ob und unter welchen Bedingungen man damit marktfähige Produkte generieren oder sogar neue Märkte erzeugen kann. Das ist die Königsliga der Innovation. Dafür kann man durchaus ein förderliches Umfeld bereitstellen. So kann man diesem Wort „Sprunginnovationen“ einen gewissen Sinn geben. Wenn man es mit der Radikalität übertreibt, halte ich das Wort für unsinnig, aus dem eben genannten Grund, weil es praktisch keine Sprünge gibt, die von einer Sekunde auf die andere passieren und gleich große Märkte umwälzen. Das braucht alles seine gewisse Zeit.
Und noch etwas anderes: Nehmen wir an, es wäre so, dass ein Sprung von heute auf morgen die Welt in bestimmten Wirtschaftsbereichen komplett verändern würde, dann wüsste ich nicht, warum das wünschbar sein sollte. Denn der Sprung ist ja einer ins Unbekannte, das liegt in der Natur der Sache. Dann weiß man nicht, ob man in eine goldene Zukunft springt oder in den Abgrund. Und das kann sich die Bundesregierung nicht wünschen.
Technikfolgen sind nicht Folgen der Technik, sondern von Mensch-Technik-Verhältnissen
Da spricht der Technikfolgen-Abschätzer in Ihnen.
Man muss dazu sagen, ich bin technikfasziniert, sonst würde ich ja keine Folgenabschätzung betreiben. Es gibt immer noch ein paar Leute, die meinen, das habe was mit Bedenkenträgerei zu tun. Das Gegenteil ist der Fall. Mich schmerzt geradezu, dass es immer wieder diese Negativtechnikfolgen gibt. Und ich weiß nur zu gut, dass die allzu häufig nicht der Technik zuzuschreiben sind. Nur mal ein Beispiel am Rande: Die seit Jahren dauernden Sorgen um die Zukunft der Demokratie angesichts von Internethetze, -manipulation, Fake News, Corona usw. – wir haben das neulich alles erlebt und erleben es zurzeit immer noch –, kann man ja nicht den Internetinformatikern zurechnen. Denn das Internet funktioniert ja supergut, und dann gibt’s halt findige Menschen, die das für Zwecke nutzen, an die vorher keiner gedacht hat. So sind Technikfolgen nicht Folgen der Technik, sondern von Mensch-Technik-Verhältnissen.
Innovationen haben ihre eigene Ambivalenz
Ähnlich ist es bei Innovationen auch. Auch sie haben ihre eigene Ambivalenz. Wir neigen dazu, Innovation als an sich gut anzusehen, das ist der allgemeine Sprachgebrauch. Ich finde das streng genommen falsch und es ist auch in der Praxis oft falsch. Wenn Sie beispielsweise an Asbest denken: Das ist über Jahrzehnte hinweg als wundervolle Innovation der Bauwirtschaft gepriesen und genutzt worden, bis man dann froh gewesen wäre, das nie gemacht zu haben. Es gibt auch diese Innovationsgeschichten, die ab einem bestimmten Punkt, als neues Wissen über üble Folgen bekannt wurde, auf einmal gar nicht mehr so toll dagestanden haben. Bei vielen Innovationen weiß man das im Vorhinein nicht so ganz genau. Je radikaler Sie sind, je mehr Sprung drin ist, umso weniger weiß man vorher. Darüber muss man sich im Klaren sein, dass man da eben ein hohes Überraschungsmoment einkalkuliert.
Ich würde mir mehr Nüchternheit wünschen
Und welche Aufgabe hat dann die Gesellschaft in dem Augenblick?
Zunächst einmal würde ich mir mehr Nüchternheit wünschen. Das gibt es manchmal schon. Überschäumende Rhetorik, als ob man mit Innovation das Paradies bauen könnte, hört man gelegentlich von Politikern oder auch aus der Wirtschaft. Das halte ich für Rhetorik im schlechten Sinne. Da versucht man, Stimmung zu machen, aber die Sache ist nicht so. Ich warne auch davor, weil das nach hinten losgeht. Solche Geschichten wie Asbest oder das Ozonloch mit FCKWs im Rücken, wo es diese Negativeffekte gibt, fliegen irgendwann auf und zerstören dann das Vertrauen in diejenigen Leute, die in Paradiesseligkeit über Innovation gesprochen haben. Ich glaube, es stützt langfristig das Vertrauen in Innovation mehr, wenn man in aller Offenheit auch über mögliche Ambivalenzen spricht.
Die erste Pflicht würde ich in der nüchternen und offenen Weise sehen, darüber zu sprechen. Weder von vornherein ein Paradies zu erwarten – es gibt ja viele Nutzer und Konsumenten, die sehr technikgläubig sind –, noch sollte man alles schwarzmalen und in jedem neuen Produkt oder jeder neuen Technologie gleich irgendwas Schlimmes sehen. Darum muss man sich erst mal Gedanken machen, unvoreingenommen an diese Dinge herangehen, sich eine Meinung bilden im Voranschreiten eines ordentlichen, wissensbasierten Bewertungsprozesses, und nicht die Meinung schon haben, bevor dieser Prozess durchgeführt wird.
Ich kann nicht beurteilen, ob das ein Schlechtreden des Standortes Deutschland ist
Was läuft woanders besser?
Es wird seit den 90er-Jahren diese Geschichte erzählt: Wir Deutschen sind super in der Wissenschaft, aber sobald es um die Anwendung, marktfähige Produkte und damit um Innovation geht, sind andere besser. Das hat man zuerst den Japanern zugeschrieben, heute vor allem den Chinesen oder den Amerikanern, ausgehend vom Silicon Valley in der Digitalisierung. Ich kann leider nicht beurteilen, ob das ein Schlechtreden des Standorts Deutschland ist. Es gibt eine gewisse Mode, uns selbst schlechtzumachen. Ich wundere mich dann immer, warum wir jahrzehntelang immer so gut dastehen, wenn wir doch so schlecht sind im Vergleich. Etwas kann da nicht stimmen.
Dennoch denke ich, kann man von anderen immer was lernen. Man kann sicher lernen, dass man in den USA als kreativer Kopf schneller Venture Capital findet, mit dem man Dinge ausprobieren kann. Da hat sich in Deutschland etwas getan, wir sind sicher nicht mehr so konservativ wie vor 20 oder 30 Jahren. Aber da gibt es Unterschiede. Man kann auch klagen, dass manchmal Bürokratie unnötig ist. Da muss man im Detail gucken. Ich mag nicht dieses Pauschalschimpfen auf Bürokratie, weil sie im Einzelfall durchaus einen nachvollziehbaren Zweck hat. Oft wird sie aber überzogen. Da muss man im Detail hingucken und da ist sicher im Detail auch viel zu tun. Aber ich würde das ganze Pauschalschlechtmachen nicht mittragen.
Scheitern gehört zum Leben
Es gibt in Deutschland in der Tat immer noch den Blick: Menschen, bei denen mal was schiefgeht sind gescheitert. Das gilt leider auch übergreifend, nicht nur jetzt, wenn mal eine Innovation schiefgeht, sondern auch politisch, also Kritiker, die gescheitert sind bei uns mit irgendwas, haben es bei uns echt schwer, wieder hochzukommen. Dabei gehört Scheitern zum Leben generell dazu. Es bietet übrigens auch die optimale Chance, etwas zu lernen. Menschen oder auch Firmen nach dem Scheitern eine zweite Chance zu geben – darin sind wir in Deutschland nicht gut. An der Stelle würde ich auch den Pauschalvorwurf mittragen, da können wir in unserer Kultur durchaus was ändern.
Die EU hat sich auf die Fahnen geschrieben, bis 2050 klimaneutral zu sein. Ist das ein Push-Faktor für Deutschland im Bereich Innovation?
Wenn man in die Geschichte schaut, sieht man, dass in der Tat solche Vorhaben und Setzungen immer wieder einen Push erzeugt oder jedenfalls einen Impuls gegeben haben. 2050 ist ja lange hin, aber über die Zeit hinweg, wenn das auch entsprechend verfolgt wird, halte ich das durchaus für wahrscheinlich. Andere Innovationen sind auch nicht von der Wirtschaft ganz freiwillig geschehen, sondern da war ein staatlicher Druck förderlich. Ein Beispiel ist der Drei-Wege-Katalysator aus den 90er-Jahren. Ich finde, es ist ein wichtiges Innovationsmoment, wenn Firmen, Konzerne und Unternehmen wissen: Aha, da kommt etwas. Der Markt richtet viel, aber nicht alles. Manchmal braucht er eben doch Lenkung, und da finde ich die Mittel des langfristig Gesetzten viel besser als irgendwelche kurzfristigen Maßnahmen, weil die Firmen ihre Kreativität und ihre Innovationskraft darauf einstellen können, Planungssicherheit haben.
Mehr zum Thema finden Sie im Fokus „Innovationen in Deutschland“ in der aktuellen Ausgabe der VDI nachrichten.