Was Ukrainer über Löhne denken
Der Bedarf spielt im Bewusstsein der Ukrainer bei den Vorstellungen über Entlohnung eine große Rolle – eine Folge des schwach ausgebauten Sozialsystems. Das zeigt eine aktuelle Untersuchung. Schwarzarbeit ist weit verbreitet.
Für die Ukraine begann vor gut zwei Jahrzehnten – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – eine schwierige Phase der wirtschaftlichen Neuorientierung. Wertvorstellungen werden aber noch immer durch jene Übergangsphase beeinflusst. Das zeigen die Forschungen von Ksenija Gatskova vom Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg, in denen sie sich mit Haltungen zu Leistung und Einkommen in der Ukraine und Deutschland befasst.
Die Soziologin Gatskova erkannte zwischen beiden Ländern einen interessanten Unterschied: „Wenn ein individuelles Einkommen als gerecht oder nicht gerecht eingeschätzt werden soll, wird in Deutschland am stärksten auf die erbrachte Leistung geschaut. In der Ukraine ist das anders. Dort steht das Bedarfskriterium an oberster Stelle.“ Besonders Arbeitnehmern mit mehreren Kindern würden viele Ukrainer ein höheres Gehalt gönnen – auch unabhängig von ihrer Leistung. Gatskova, die selbst aus der Ukraine stammt, glaubt, den Grund dafür zu kennen: „In der Ukraine gibt es ein relativ schwach ausgeprägtes Sozialsystem. Vom Staat werden Familien mit Kindern zu wenig unterstützt.“
In der Realität sei es jedoch keineswegs so, dass Arbeitnehmer mit Kindern besser bezahlt würden als Kinderlose. Gatskova: „Die Arbeitgeber gleichen natürlich nicht das aus, was eigentlich der Staat verteilen sollte. Aber die Menschen verstehen nicht, dass sie das nicht vom Arbeitgeber, sondern von staatlichen Strukturen fordern müssen.“
Nach Ansicht der Soziologin ist das ein Erbe der Sowjetzeit. Damals steckte hinter den meisten Arbeitgebern der Staat. Auch Sozialleistungen wurden zwar vom Staat bereitgestellt, aber nicht selten durch den Arbeitgeber weitergegeben, so dass der Eindruck entstehen konnte, es handele sich um eine Leistung des Unternehmens. Vor allem viele ältere Ukrainer, die zu UdSSR-Zeiten ins Berufsleben starteten, sähen den Arbeitgeber deshalb noch immer als eine Art Patriarch an, erklärt Gatskova.
Solange das Existenzminimum nicht gesichert ist, so die Studie der Wissenschaftlerin, sollten sich die Löhne nach Ansicht der Ukrainer am Bedarf orientieren. Erst wenn die Löhne steigen, müssen sie durch Leistung gerechtfertigt sein. Anders in Deutschland. Hier sei der Mindestbedarf zumindest einigermaßen von den Sozialsystemen gewährleistet. Deshalb achteten die Menschen bei der Beurteilung von Lohngerechtigkeit hingegen stärker auf die Leistung, erklärt Gatskova.
Auch in der ukrainischen Bevölkerung ist diese Verknüpfung im Bewusstsein der Menschen vorhanden. So werden höhere Löhne im Osten des Landes eher als gerecht eingeschätzt als im Westen. Der Grund: Im stärker industrialisierten Osten ist die Wirtschaft deutlich besser entwickelt. Die bessere Bezahlung dort wird auch als Ausdruck einer höheren Leistung verstanden. Das Einkommen wird in diesem Landesteil vor allem an den Kriterien Leistung und Berufsprestige bewertet, weil die Grundbedürfnisse weitgehend abgedeckt sind.
Anders als in Deutschland unterscheidet das Steuersystem der Ukraine nicht zwischen Alleinstehenden und Verheirateten, zwischen Erwerbstätigen mit und ohne Kinder. Bis zu einem Einkommen von 9410 Ukrainischen Griwna (UAH) im Monat (rund 550 €) zahlt jeder 15 % Lohn- und Einkommensteuer, bei Einkommen, die darüber liegen, sind es 17 %. Seit Kurzem kommen 1,5 % Kriegsteuer hinzu.
Der Durchschnittslohn betrug 2012 (neuere Zahlen liegen nicht vor) nach Angaben von Germany Trade and Invest, der deutschen Gesellschaft zur Außenwirtschaftsförderung, gut 3000 UAH im Monat (2012 rund 295 €). Ein Ingenieur (Manager in der Produktion) kam im Raum Kiew, wo das Lohnniveau deutlich höher ist als im Durchschnitt des Landes, auf einen Medianlohn von gut 17 000 UAH. 2012 waren das rund 1670 €. Medianlohn heißt: Die eine Hälfte der Löhne liegt über, die andere unter diesem Wert.
Dass sich viele Ukrainer durch den einheitlichen Steuersatz benachteiligt fühlen, glaubt Ksenija Gatskova nicht – aus einem profanen Grund: „Viele Menschen bekommen ihr Gehalt oder ein Teil des Einkommens inoffiziell.“ Schwarzarbeit sei stark verbreitet und manche Arbeitnehmer hätten neben ihrer offiziellen Arbeit gleich mehrere nicht angemeldete Nebenjobs.
Gatskova: „Von den Steuern sind viele deshalb nur wenig betroffen. Der Schattensektor in der ukrainischen Ökonomie beträgt laut Expertenmeinungen etwa 40 % bis 60 %.“ Dieser hohe Anteil an Schwarzarbeit ist auch der Grund dafür, dass zuverlässige Angaben über das Lohnniveau kaum möglich sind, heißt es bei Germany Trade and Invest.
Dass viele Ukrainer inoffizielle Jobs vorzögen, liege aber nicht nur daran, dass damit Steuern umgangen werden. Wegen des hohen Maßes an Korruption sei das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen sehr gering. Deshalb unterstützten viele Bürger dieses System ganz bewusst nicht mit Steuern.
Für besonders wichtig hält die Forscherin aber vor allem eines: „Die Politik in der Ukraine muss mehr darauf achten, Familien mit Kindern zu unterstützen.“ Kinder zu bekommen, würden häufig mit Armut assoziiert.