Unternehmensführung 18. Feb 2021 Von Peter Steinmüller Lesezeit: ca. 7 Minuten

Managementautor Sprenger: „Harmonie ist die Ausnahme“

Konflikte sollten nicht als Probleme gesehen werden, sondern als Befreiung, sagt Managementvordenker Reinhard K. Sprenger.

Reinhard K. Sprenger: Unternehmen müssen mit Mehrdeutigkeiten umgehen können, um die Demotivation ihrer Mitarbeitenden zu verhindern.
Foto: www.sprenger.com

VDI nachrichten: Herr Sprenger, Ihr aktuelles Buch heißt „Magie des Konflikts“. Jeder der die Nickligkeiten aus offenen und verdeckten Konflikten sowohl in seiner Zweierbeziehung wie am Arbeitsplatz kennt, wird diesen Titel als Provokation verstehen. Was ist bitteschön an einem Konflikt magisch?

Sprenger: Magisch am Konflikt ist beispielsweise, dass er Menschen verzaubert. Sie sind in Konflikten nicht mehr dieselben wie davor oder danach. Manche sind sogar kaum wiederzuerkennen. Zudem besitzen Konflikte einen hohen Unterhaltungswert. Wir werden von ihnen gleichzeitig angezogen und abgestoßen. In konfliktlosen Situationen herrscht im Grunde Stillstand. Manchmal sogar Rückschritt. Deshalb muss man sich in Unternehmen immer wieder klar machen, dass der Konflikt nicht das Problem ist, sondern die Lösung. Lösung im Sinne von Befreiung und Aufbruch.

Sie haben dem Buch eine Warnung vorangestellt: „Dieses Buch könnte Ideen enthalten, die Sie vielleicht gar nicht lesen wollen.“ Welche Ideen darin sind denn so schmerzhaft?

Zunächst einmal ist es für Menschen schwierig zu verstehen, dass der Konflikt das Normale ist und die Harmonie die Ausnahme. Dass Konflikt die Textur unseres Lebens ist. Und dass er nicht negativ zu bewerten ist, sondern positiv. Dass er in Bewegung bringt. Dass beispielsweise die Perspektivverengung der Eindeutigkeit, der Tod jeder Innovation ist. Viele Menschen können auch nur schwer anerkennen, dass Konflikte nicht lösbar sind, weil sich die unterschiedlichen Interessen ja nicht einfach auflösen. Vielmehr geht es darum, wie die Beteiligten trotz Konflikt weitermachen können. Wie sie im Konflikt die gemeinsame Zukunft vorbereiten. Und wie sie richtig Streiten. Zum Beispiel, dass sie im Konflikt niemals alten Ärger präsentieren dürfen.

„Mehrdeutigkeit ist die Bedingung unserer Freiheit“

Sie plädieren dafür, im Umgang mit Konflikten Mehrdeutigkeiten anzuerkennen. Inwiefern sind Berufseinsteiger und Nachführungskräfte darauf vorbereitet?

In der Mehrheit sind sie schlecht vorbereitet. Gerade die Naturwissenschaften haben Probleme mit Mehrdeutigkeit. Gegenwärtig sind zum Beispiel nur wenige Virologen bereit anzuerkennen, dass Wissenschaft immer wieder stolpert. Weiterhin gilt, dass es keinen Wert gibt ohne einen genauso akzeptablen Schwesterwert. Es gibt keine Stabilität ohne Wandel, kein Vertrauen ohne Kontrolle, keine Dezentralität ohne Zentralität. Diese Mehrdeutigkeit müssen wir nicht nur aushalten, sie ist vielmehr die Bedingung unserer Freiheit, unserer Autonomie. Wir müssen Polaritäten als „gleich-gültig“ anerkennen. „Gleich-gültig“ ist aber nicht egal. Mehrdeutigkeit bringt uns in die Situation, dass wir entscheiden müssen. Und diese Entscheidung fällt häufig nur eine Nuance auf die eine oder die andere Seite. Das bedeutet für einen verantwortungsvollen Menschen: Raus aus dem Entweder/Oder! Hin zu einem Mehr-oder-Weniger! Wir dürfen uns nicht hinter einer inszenierten Alternativlosigkeit verstecken, die sich häufig unter dem Deckmantel des Expertentums verbirgt.

Die Unternehmen haben in den vergangenen Jahren enorm in Weiterbildung investiert. Aber das Thema „Umgang mit Mehrdeutigkeit“ ist dabei zu kurz gekommen?

Wahrscheinlich. Ich rate Unternehmen immer wieder, dass sie Ambiguitätstoleranz thematisieren müssen. Allein schon, um Zynismus und Demotivation bei den Mitarbeitern zu verhindern. Also Fragen diskutieren: Wie gehe ich mit Paradoxien um, wie mit Mehrdeutigkeiten? Schwierig wird es, wenn ich die strukturellen Konflikte, die sich aus dem Sachgebiet ergeben, personalisiere. Es hilft nicht, wenn ich den Controller doof finde, den Vertriebler für einen Verrückten halte oder den Personaler für einen Geldvernichter. Wir kämpfen sehr häufig Scheinkonflikte, die nur deshalb so erbittert geführt werden, weil wir keine Einsicht haben in die Tatsache, dass Unternehmen Widerspruchsverarbeiter sind. Sie müssen das Eine tun und gleichzeitig das Andere.

„Manager müssen streiten, nicht schmusen“

Welche Voraussetzungen müssen denn Unternehmen mitbringen, um diesen organisierten Konflikt produktiv zu nutzen?

Unternehmen sollten anerkennen, dass solche Ideen wie „Wir ziehen alle an einem Strang“ oder „Wir sind eine harmonische Gemeinschaft“ falsch sind. Manager müssen streiten, nicht schmusen. Denn Unternehmen sind multirationale Veranstaltungen. Es gibt nicht die eine Rationalität, sondern unterschiedliche Rationalitäten. Die Rationalität des Controllings ist eine völlig andere als die des Vertriebs, die wiederum anders als die der Produktion, die wiederum anders als die der Personalabteilung. Diese unterschiedlichen Rationalitäten müssen permanent im Streit ausbalanciert werden, niemals darf eine Rationalität die anderen dominieren. Das ist das Überlebensrezept von Organisationen. Dazu braucht das Unternehmen Führungskräfte, die diesen Prozess des Balancierens immer wieder anstoßen. Wer nicht mehr in Konflikte investiert, hat sich von einer gemeinsamen Zukunft verabschiedet. Deshalb ist Konfliktfähigkeit die wichtigste Führungskompetenz unter den zu erwartenden wirtschaftlichen Bedingungen.

„Jogi Löw hätte sich längst verabschieden sollen“

In Ihrem Buch „Gut aufgestellt“ von 2008 vergleichen Sie die Aufgabe von Führungskräften mit jenen von Trainern. Seitdem hat sich vieles verändert. Was lässt sich heute vom Fußball auf Führung übertragen?

In jedem Fall, dass die Erfolgsrezepte der Vergangenheit selten die Erfolgsrezepte der Zukunft sind. Wer einmal nachliest, was jeweils nach einer Weltmeisterschaft als Erfolgsrezept galt, erkennt, dass das größte Problem für den Erfolg von morgen der Erfolg von gestern ist. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation der deutschen Fußballnationalmannschaft könnten wir uns in Erinnerung rufen, was ich damals schrieb: Erfolg macht lernbehindert. Löw hätte sich längst verabschieden sollen. Führungskräfte scheitern nicht, weil sie etwas falsch machen, sondern weil sie etwas Richtiges zu lange machen.

Welches von Ihren rund ein Dutzend Büchern zu Management und Führung empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern am dringendsten?

Wenn ich auf meinem Sterbebett liege und darüber nachdenke, was ich beigetragen habe zu einer Welt, in der ich selber gerne leben möchte, dann wäre es mein Buch „Die Entscheidung liegt bei dir“. Es hat Klarheit in das Privat- und Berufsleben vieler Menschen gebracht. Das ist aber kein Managementbuch, sondern angewandte Lebensphilosophie. Wenn es um Führung und Management geht, empfehle ich „Magie des Konflikts“.

„Führungskräfte, die ihren Job nicht machen wollen“

Widersprechen Sie der These, dass „Mythos Motivation“ das wirkmächtigste Ihrer Bücher gewesen ist?

Nein. Es ist das „Signature-Buch“, mit dem ich verbunden werde und das bis heute diskutiert wird. Es wurde zunächst wahrgenommen als eine Kritik von Bonussystemen, als eine Warnung vor der Zerstörung der Motivation durch Incentives, Lob und Prämien. Nur auf den zweiten Blick wurde erkannt, dass ich eigentlich auf schwache Führungskräfte abziele. Auf jene, die weder führen können noch wollen, und die Anreizsysteme nutzen, um ihren eigentlichen Job nicht machen zu müssen.

Mit dem Abstand von 30 Jahren: Wie sehr hat das Buch zum Wandel im Management beigetragen?

Viele Unternehmer und Führungskräfte sind nachdenklich geworden. Sie haben erkannt, dass Unternehmen Kooperationsarenen sind, keine Koordinationsarenen. Dass es nichts nützt, individuelle Leistung anzureizen, wenn die Gesamtmannschaft dadurch geschwächt wird. Sie haben auch erkannt, dass kluge Menschen in dummen Organisationen keine Chance haben. Etwa weil Unternehmen vor allem autistisch mit sich selbst beschäftigt, ja geradezu kundenfeindlich sind, und nicht mehr aus dem Fenster schauen. Es gab nur wenige Konzerne, aber sehr viele Mittelständler, die Incentives und Bonussysteme abgeschafft haben. Gesellschaftlich müssen wir aber noch weiterkämpfen, etwa was die Anreizwirkung des Steuersystems betrifft.

„Viele Menschen gerne mit ihrer Hand in der Tasche anderer.“

Anlässlich Ihres vor 16 Jahren erschienenen Buches „Der dressierte Bürger“ beschrieben Sie das Wahlvolk folgendermaßen: „Die eine Hälfte der Bürger will ihr Leben leben, aber nicht führen. Sie hält mit hartnäckigem Willen zur Ohnmacht an der Monstranz des Wohlfahrtstaates fest. Die andere Hälfte will ihr Leben selbstverantwortlich führen.“ Was hat sich seitdem geändert?

Ich fürchte die erste Gruppe ist noch größer geworden. Ich sehe grundsätzlich eine immer größer währende Neigung zu einem Leben, dass nanny-staatlich geführt wird. Man schaue sich die Unterwerfungsbereitschaft zu Zeiten der Pandemie an! Zudem leben viele Menschen gerne mit ihrer Hand in der Tasche anderer. Etliche bürden die Konsequenzen ihrer Lebensentscheidung anderen Menschen auf und nennen das Solidarität. Bürgerstolz, aufrechter Gang und Selbstverantwortung haben gegenwärtig einen schweren Stand.

Sie sind, man merkt es aus diesen Worten, ein überzeugter Liberaler. Aber um den Liberalismus scheint es für Sie nicht gut bestellt zu sein?

Der Liberalismus hat seinen zentralen Wert verkauft – die Freiheit. Er hat sich zu sehr dem Zeitgeist angepasst, der ja häufig Zeit minus Geist ist. Klar, der Liberalismus ist intellektuell zu herausfordernd, um wirklich mehrheitsfähig zu sein. Man muss schon einmal um die Ecke denken und sich nicht moralisierend verblenden lassen. Aber 10 % bis 15 % der Bevölkerung könnte er doch hinter sich scharen, wenn er wirklich für die Freiheit und das Individuum eintritt. Für die Freiheit als Normalzustand und nicht als politische Gnade.

„Ich habe mich bei Günter Netzer bedankt“

Auf die Frage „In wessen Rolle würden Sie gerne einmal schlüpfen?“ haben Sie einmal geantwortet: „In die Günter Netzers bei seiner Selbsteinwechselung im Pokalfinale Gladbach gegen Köln 1973.“ Damals hatte Trainer Hennes Weisweiler seinen Spielmacher Netzer auf der Ersatzbank schmoren lassen, weil der zuvor seinen Wechsel zu Real Madrid bekannt gemacht hatte. In der Verlängerung wechselte sich Netzer selbst ein und erzielte bei seiner ersten Aktion das Siegestor. Steckt in Ihrem eben zitierten Wunsch der Traum, endlich einmal nicht als Experte an der Außenlinie zu stehen, sondern selbst aktiv das Geschehen gestalten zu dürfen?

(Lacht). Also das wäre ein bisschen überinterpretiert. Vielmehr hat mir dieser dramatische Augenblick einen der schönsten Momente meines Lebens geschenkt. Obwohl ich kein Gladbach-Fan war, konnte ich eine Träne nicht unterdrücken. Als ich vor einigen Jahren einmal neben Herrn Netzer im Flugzeug saß, habe ich mich bei ihm dafür bedankt.

Wenn ein erschütterter Weisweiler Sie in einem Ihrer Seminare zur Seite genommen und gesagt hätte: „Stellen Sie sich vor, was sich einer meiner Mitarbeiter kürzlich geleistet hat.“ Was hätten Sie geantwortet?

Dann hätte ich gesagt: Wir brauchen ab und zu eine loyale Reparaturintelligenz von unten, eine Kleinkunst des konstruktiven Ungehorsams. Es wäre nicht auszudenken, wenn der ganze Blödsinn, der von oben auf die einzelnen Unternehmensteile heruntergebrochen wird, dort auch wirklich ernst genommen würde. Zu unterscheiden, wo diese brauchbare Illegalität notwendig ist, und wo man sie unterbinden muss, das erfordert Mut und Urteilskraft. Das Zweite kann man lernen.

 

Das komplette Gespräch mit Reinhard K. Sprenger hören Sie in unserem Karriere-Podcast Prototyp. Darin geht es auch um Sprengers Musikerkarriere mit Herbert Grönemeyer und Tina Turner.

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