Kabinettsbeschluss 07. Nov 2024 Von Sebastian Wolking Lesezeit: ca. 5 Minuten

Personelle Lage der Bundeswehr: Wehrdienst als Lösung?

Mehr Aufwand, weniger Ertrag: Trotz größter Bemühungen, frische Hände und Köpfe für sich zu gewinnen, geht der Personalbestand der Bundeswehr peu à peu zurück. Das Verteidigungsministerium reiht weiterhin Maßnahme an Maßnahme. Jetzt bekam Boris Pistorius grünes Licht für seine Wehrdienst-Pläne.

Jägerbataillon 91 übt im Gefechtsübungszentrum Heer
Gemeinsam einsam: Die Bundeswehr verliert kontinuierlich ­Personal. Nun hat Boris Pistorius grünes Licht für seine Wehrdienstpläne erhalten.
Foto: Bundeswehr/Julia Dahlmann

Nichts lässt die Bundeswehr unversucht. 46 Einzelmaßnahmen setzte die Truppe seit dem Jahr 2022 in Gang, alle mit dem Ziel, die angespannte Personalsituation zu verbessern, neue Soldaten zu gewinnen und alte zu halten. Seit 2023 gibt es eine Task Force Personal. Neu ist zum Beispiel die Initiative „Bring your Buddy“, die es freiwillig Wehrdienstleistenden ermöglicht, gemeinsam mit einem Freund oder einer Freundin in derselben Einheit zu dienen.

Seit April wird der Ansatz im Karrierecenter der Bundeswehr in Erfurt erprobt, Ende des Jahres erfolgt die Bewertung. Prinzipiell sollen die Einstellungsverfahren von Bewerbern, von denen manche mehrere Monate dauern, schneller vonstattengehen, genauso wie die Soldateneinstellungsüberprüfungen, die zu Beginn der Grundausbildung erfolgen, um Extremisten den Zugang zu versperren.

Personalmaßnahmen der Bundeswehr verzögern sich

Auch ein Online-Assessment ist geplant, eine Testplattform im Internet, auf der Interessenten per Selbsteinschätzung und Online­diagnostik ihre Eignung für den Soldatenberuf überprüfen können. Noch aber befindet sich die Plattform, die ursprünglich Ende 2023 an den Start gehen sollte, laut einer Sprecherin der Bundeswehr in Köln „in der Entwicklungsphase“.

Ebenfalls noch unausgegoren ist die Strategie der Grundbeorderung, die im Oktober 2021 anlief. Alle wehrfähigen Soldaten, die aus dem Dienst ausscheiden, sollen seitdem automatisch für die Reserve eingeplant werden, so der Plan. Laut dem Jahresbericht der Wehrbeauftragten, der im März veröffentlicht wurde, sind seit 2021 von allen ausgeschiedenen und infrage kommenden Soldaten aber nur 32 % für die Grundbeorderung einberufen worden, mittlerweile ist die Quote nach Bundeswehr-Angaben auf immerhin 39 % angestiegen.

Offen ist indes, was mit den Soldaten nach Ablauf der sechsjährigen Grundbeorderung geschieht, ob diese verlängert oder aufgehoben wird. „Eine zügige Antwort hierauf ist die Bundeswehr den Reservistinnen und Reservisten schuldig“, heißt es im Jahresbericht. „Aktuell wird die Strategie der Reserve routinemäßig überarbeitet“, so dazu die Sprecherin der Bundeswehr in Köln. „Die Weiterentwicklung der Grundbeorderung beziehungsweise gegebenenfalls eine mögliche Anschlussbeorderung ist Teil der Überlegung.“ Dass die Soldaten pauschal bis zum Ende ihres 65. Lebensjahres grundbeordert würden, sei aber weder vorgesehen noch zweckmäßig.

Bundesregierung will neuen Wehrdienst

Mit der Grundbeorderung verknüpft ist der sogenannte Auswahlwehrdienst von Verteidigungsminister Boris Pistorius, der die klaffende Lücke wieder schließen soll, die die Aussetzung der Wehrpflicht in der Ägide von Kanzlerin Angela Merkel gerissen hatte. Ziel ist es laut Pistorius, die „fittesten, geeignetsten und motiviertesten“ jungen Menschen zu rekrutieren – auf freiwilliger Basis.

„Wir versenden einen digitalen Fragebogen. Junge Männer, die 18 Jahre alt werden, sind verpflichtet, ihn auszufüllen. Damit erheben wir die nötigen Daten, die wir für eine Erfassung brauchen. Die Musterung eines ganzen Jahrgangs ist nicht nötig“, erklärt Pistorius. „Auch die gleichaltrigen Frauen bekommen den digitalen Fragebogen. Sie sind allerdings nicht verpflichtet, ihn auszufüllen, da es im Grundgesetz nur eine Wehrpflicht für Männer, nicht aber für Frauen gibt.“

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Wer fit und motiviert erscheint, erhält eine Aufforderung zur Musterung. Die Auserwählten absolvieren daraufhin den Grundwehrdienst, können sich hiernach weiterverpflichten, weiterqualifizieren und in der Reserve weitertrainieren.

Dabei soll die Basisausbildung für den neuen Wehrdienst sechs Monate dauern – mit der Option, für Spezialisierungen auf bis zu 23 Monate verlängern zu können. Im Raum steht ein Sold von mindestens 1800 €, den Umständen nach auch bis zu 200 € mehr.

Artikelgesetz zur Zeitenwende

Ein mittelgroßer Baustein ist das Artikelgesetz zur Zeitenwende, auf das sich die Bundesregierung Anfang September einigte und welches flexiblere Arbeitszeiten und finanzielle Anreize für Soldaten vorsieht. Wer zum Beispiel nach der Rückkehr aus einem Auslandseinsatz zwischen Wohnort und Dienststätte pendeln muss, erhält nun neben einer Umzugskostenvergütung auch Trennungsgeld. Für Soldaten mit Alarmierungsverpflichtungen, die im Notfall schnell reagieren müssen, soll eine Vergütung in das Bundesbesoldungsgesetz aufgenommen werden. Vorgesehen sind auch neue Stellenzulagen für bestimmte Aufgabenbereiche, eine Ausweitung der Zuschläge an Entgeltpunkten in der gesetzlichen Rentenversicherung und erweiterte Erstattungsmöglichkeiten von Betreuungskosten. Die Bundesregierung rechnet mit Mehrausgaben zwischen 40 Mio. € und 170 Mio. € in den kommenden Jahren. Bezeichnenderweise steht im Gesetzentwurf unter dem Punkt Alternativen: „Keine“.

Stetiger Rückgang des Personalbestands der Bundeswehr

Doch ob all die Maßnahmen greifen, wird sich in den kommenden Jahren erst noch zeigen. Bislang jedenfalls ist keine personelle Gesundung der Bundeswehr zu beobachten, im Gegenteil. Exakt 180.145 aktive Soldatinnen und Soldaten zählte die Bundeswehr im August 2024, 800 weniger als im Juli und weit unterhalb der für das Jahr 2031 angepeilten Marke von 203.000 Dienenden. Zum Stichtag am 31. Dezember 2023 taten noch 181.514 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst. Diese Zahl wiederum lag um 1537 unter der aus dem Jahr 2022. Der schleichende Rückgang setzt sich somit unverändert fort. Eine Trendwende ist am Horizont selbst mit Fernglas nirgends zu erspähen. Denn parallel gehen auch immer weniger Bewerbungen ein. Vor dem Krieg in der Ukraine waren es zwischen 53.000 und 57.000 pro Jahr, 2021 immerhin noch rund 49.200 und im vergangenen Jahr nur noch ca. 43.200.

Vor allem Unteroffiziersposten, für die in den meisten Fällen eine abgeschlossene Berufsausbildung erforderlich ist, bleiben häufig unbesetzt. Insgesamt waren von mehr als 118.000 militärischen Dienstposten oberhalb der Mannschaftslaufbahnen Ende 2023 knapp 21.000 nicht besetzt, die Vakanz betrug fast 18 %. Auch Spezialisten gibt der Bewerbermarkt kaum her, darunter etwa Piloten, Ingenieure für den technischen Bereich oder IT-Spezialisten für den Cyber- und Informationsraum, der seit Mai neben Heer, Luftwaffe und Marine offiziell die vierte Teilstreitkraft der Bundeswehr darstellt. Nicht umsonst zählen IT-Kenntnisse neben Sprachkenntnissen für die Bundeswehr zu den sogenannten „Hochwert-Fähigkeiten“.

Überbesetzt: Posten für Piloten und Spezialpioniere

Für die Prognose, dass technisches Know-how in Zukunft weiter an Wert gewinnen wird, braucht es keine Glaskugel. Erst kürzlich wurde durch eine öffentliche Ausschreibung bekannt, dass die Bundeswehr probeweise ihre ersten vier Roboterhunde bestellt hat. Es handelt sich um Schreitroboter vom Typ Ghost Vision 60 des US-Herstellers Ghost Robotics aus Philadelphia. Von der Ukraine werden die Robo-Dogs bereits im Feld eingesetzt, zur Aufklärung im Gelände etwa, von den USA zur Absicherung von Basen und von Japan, um nach verschütteten Erdbebenopfern zu suchen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Drohnen im Bestand der Bundeswehr, nach Berechnungen des Reservistenverbands ist sie auf mittlerweile 618 angewachsen, darunter hauptsächlich Aufklärungsdrohnen bei der Artillerie des Heeres. Langfristig ist sogar die Aufwertung der „Drohnenarmee“ zu einer eigenen Truppengattung oder gar Teilstreitkraft nach ukrainischem Vorbild denkbar.

Dem Bereich „Ausrüstung, Informationstechnik, Nutzung“, der für die Beschaffung und Bereitstellung von Waffensystemen zuständig ist und in dem Ingenieure, Logistik- und Beschaffungsexperten tätig sind, gehören aktuell mehr als 1900 Soldaten an, 100 mehr als ein Jahr zuvor. Hinzu kommen noch mehr als 11.500 Zivilbeschäftigte in diesem Bereich, darunter viele Ingenieure im gehobenen oder höheren Dienst. Doch nicht für jeden Spezialisten hat das Militär Verwendung. Überbesetzt sind etwa die Positionen der Spezialpioniere Pipeline und die Feldwebel für „Fluggerätetechnik Flugwerk Hydraulik Tornado“. Auch an Assistenzpersonal in der Medizintechnik herrscht kein Mangel. Kaum retten kann sich die Bundeswehr vor Bewerbern, die als Offiziere im Sanitätsdienst Humanmedizin studieren und auf diese Weise den Numerus-clausus-Bestimmungen an den staatlichen Hochschulen ausweichen wollen. Dass man es auf diesem Weg weit bringen kann, zeigt das Beispiel von Nicole Schilling. Die 50-jährige frühere Truppenärztin rückte im Oktober als erste Soldatin zur Leiterin einer Abteilung im Verteidigungsministerium auf.

Geld für die Bundeswehr wird nicht reichen

Bei einer Veranstaltung der FDP-Bundestagsfraktion im September verriet Oda Döring, Abteilungsleiterin für Personal im Verteidigungsministerium, dass schon jetzt 99 % der Planstellen für Offiziere für das ganze Jahr ausgeschöpft seien, viele Offiziere ihre Dienstzeit dementsprechend nicht verlängern könnten. Das Problem sei, „dass wir wachsen wollen, aber nicht können, weil es an den nötigen Finanzen fehlt“, sagte Döring dem Onlineportal „Augen geradeaus!“ zufolge. „Wenn keine neuen Planstellen kommen, wird es Probleme auch bei den Neueinstellungen geben.“ Der Kampf ums Geld wird jedenfalls weitergehen. Bei der Vorstellung des Verteidigungshaushalts für 2025 sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius angesichts der insgesamt rund 75 Mrd. € – Sondervermögen inklusive –, die für Deutschlands Sicherheit zur Verfügung stehen: „Das wird nicht reichen. Wir werden in Zukunft mehr Geld ausgeben müssen, auch mehr als die 2 %. Daran führt kein Weg vorbei.“

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