Urwahn baut Fahrradrahmen, die aus dem Rahmen fallen
Sie sind aus Stahl – aber trotzdem leicht. Sie haben keine aktiven Dämpfer – schlucken aber etwaige Bodenwellen. Zu verdanken ist das einer Geometrie, die erst durch den 3D-Druck möglich wurde. Fahrräder, made in Magdeburg.
Menschen in den Straßen reiben sich ungläubig die Augen, wenn ein Fahrrad des Jungunternehmens Urwahn an ihnen vorbeizieht: „Bin ich blind? Fehlt da nicht was?“
Hintergrund der Verwunderung: Der Rahmen aus der Magdeburger Manufaktur hat kein durchgängiges Sattelrohr: Sattelstange und Tretlager sind also nicht – wie bei klassischen Diamantrahmen üblich – miteinander verbunden. Stattdessen geht das Sattelrohr nach etwa 25 cm organisch fließend direkt in den Hinterbau über.
Dem Designer des Fahrrads, Sebastian Meinecke, geht es mit diesem Kniff bzw. Knick nicht darum, Aufmerksamkeit zu erhaschen. Der Co-Geschäftsführer der Urwahn Engineering GmbH erläutert: „Diese Form hat eine Funktion. Sie bietet den Fahrenden Komfort. Der Rahmen hat dank seiner Konstruktion nämlich Dämpfungseigenschaften. Bodenwellen schluckt er weg.“ Gleichzeitig räumt der 33-Jährige ein: „Mit einer federgelagerten Sattelstange ist das nicht zu vergleichen.“ Es sei aber auch nie das Ziel gewesen, ein Sofa auf zwei Rädern zu bauen. „Der Rahmen ist schon noch knackig und steif, das Rad eher sportiv.“
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Möglich wird die außergewöhnliche Form mithilfe der additiven Fertigung. Allerdings kommt nicht der komplette Rahmen aus dem 3D-Drucker. „Wir beschränken uns auf die geometrisch komplexen Freiformen. Dazu zählen der Steuerrohrverbinder zur Aufnahme der Gabel-Lenker-Einheit, das Tretlager, zwei Ausfallenden zur Lagerung der Hinterradnabe und natürlich der Sattelrohrverbinder zur Aufnahme des Sattels.“
3D-gedruckt wird per pulverbettbasiertem Laserschmelzen
Hergestellt werden diese sogenannten „Konnektoren“ bei Partnerunternehmen, etwa Oerlikon. Genutzt wird dazu das pulverbettbasierte Laserschmelzen.
Ebenfalls ausgelagert ist das Post Processing. Dazu zählt neben dem Entpulvern, dem Absägen von der Bauplattform und dem Entfernen der Stützstrukturen auch das spanende Finish. Meinecke: „Wir müssen beispielsweise Passflächen glätten und die Lageraufnahmen runden. Zu diesem Zweck kommt eine 5-Achs-CNC-Fräsmaschine zum Einsatz.“
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Zwischen den gedruckten Teilen verbaut das Jungunternehmen Rohre aus Chrommolybdän-Stahl (25CrMo4). „Das Material lässt sich gut verarbeiten und hat eine Grundelastizität“, so Meinecke. Vor dem Fügen wird der Querschnitt der Rohre noch in eine Tropfenform gebracht, um die Steifigkeit zu erhöhen.
Zum Verschweißen werden die Teile in eine eigens angefertigte Rahmenlehre gespannt. Vereinfacht wird dieser Schritt durch eine Art Nut- und Federsystem. „Alle Teile lassen sich formschlüssig zusammenstecken“, erläutert der 3D-Druck-Enthusiast.
Nach dem Schweißen werden die Nähte glatt geschliffen. Ergebnis sind unsichtbare Übergänge. Noch passiert beides – fügen und glätten – manuell. „Wir sind aber schon in Gesprächen mit Experten für Schweiß- und Schleifrobotik“, so Meinecke. Auch das Post Processing solle künftig stärker automatisiert werden.
Kunden können bei den Fahrradrahmen 218 verschiedene Farben wählen
Farbe kommt ins Spiel durch eine dreifache Pulverbeschichtung. Hier arbeitet Urwahn mit führenden Unternehmen zusammen. „Unsere Lacke müssen nämlich nicht nur schlagresistent und witterungsbeständig sein“, so der junge Vater, „sie müssen auch dauerhaft elastisch bleiben.“ Aktuell können Kunden aus 218 unterschiedlichen Farbtönen wählen.
Jedes Fahrrad ist dank 3D-Druck maßgeschneidert
Aber nicht nur die Farbe ist individuell wählbar. Kaum ein Urwahn-Bike gleicht dem anderen. Denn Käufer werden zunächst nach ihren Fahrgewohnheiten befragt – und anschließend vermessen. So kann sich jeder, der zwischen 1,58 m und 2,05 m groß ist, seinen Drahtesel maßschneidern lassen. Und er kann aktuell wählen zwischen Citybike, Gravelbike und Rennmaschine. In der Pipeline sind außerdem bereits eine Cargo-Variante sowie ein S-Pedelec.
Auch bezüglich der Anbauteile besteht weitgehend Wahlfreiheit. „Wir versuchen, nahezu allen Wünschen nachzukommen. Bei etwaigen Lieferengpässen haben wir meist Alternativen in petto.“ Montiert wird firmenintern am Standort Magdeburg.
Alle Modelle sind auch mit E-Motor verfügbar. Hier setzen die Magdeburger bisher ausschließlich auf den 250 W starken und fast unsichtbaren Nabenmotor „Ebikemotion“ vom Stuttgarter Antriebsspezialisten Mahle. Gespeist wird dieser von einem Akku, der sich elegant im Unterrohr versteckt und für Wartungszwecke entnommen werden kann.
Überhaupt kommen alle Urwahn-Räder sehr clean daher: Alle Kabelzüge verlaufen im Rahmen, die LED-Lichteinheiten sind in Sattelstange bzw. Vorbau oder Lenker integriert. Auch der Firmenname ist erst bei genauem Hinsehen zu erkennen. Meinecke: „Das Design soll für sich sprechen, der Rahmen soll in seiner ganzen Schönheit wahrgenommen werden können.“
Das Gewicht des Rads liegt inklusive E-Antrieb unter 15 kg
Gemessen am Gewicht müssen sich die Stahlräder nicht vor alternativen Materialien verstecken. „Inklusive Motor liegen wir – dank 3D-Druck und Topologieoptimierung – noch unter 15 kg“, so Meinecke. „Damit lassen wir Aluminium schon alt aussehen.“
Und die Kosten? Eine unmotorisierte Basisvariante ist schon ab 3999 € erhältlich. Vollausgestattete Sondereditionen können aber auch mit fast 10 000 € zu Buche schlagen. Im laufenden Jahr wollen die Magdeburger etwa 600 Räder verkaufen. In Zukunft sollen die Absatzzahlen dann vierstellig sein.
Das gesamte Interview hören Sie im Podcast
Wie ist das Fahrgefühl? Ist etwaige Materialermüdung ein Problem? Welche Antriebe sind verfügbar? Diese und weitere Fragen beantwortet Urwahn-Mitgründer Sebastian Meinecke im Podcast „Druckwelle“, Folge 45 – also hier:
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