Neuer Emscherkanal: Eine Kloake taucht ab
Bislang galt sie als Europas größte Kloake. Nun soll die Emscher mit ihrer stinkenden Fracht unter die Erde verbannt werden. Der Umbau gilt als Jahrhundertprojekt. Eine Flussfahrt durchs Ruhrgebiet.
Das braune Wasser wälzt sich zwischen kilometerlangen steilen Betonwänden hindurch. An heißen Tagen wabert der faulige Geruch von Fäkalien und Industrieabwässern die Deiche des Abwasserflusses entlang.
„Du gehst nicht zum Kanal, Junge“, erinnert sich Ralf Janyga an die Worte seines Vaters vor über 40 Jahren. Auch in Lünen nahe Dortmund, Janygas Geburtsort, wurde in dieser Zeit das Abwasser der Region einfach ungeklärt in die Emscher geleitet. Trotz aller Sicherungsmaßnahmen mit hohen Zäunen: Die steile Böschung mit glitschigen Ablagerungen, die starke Strömung, Schadstoffe aus der ansässigen Industrie sowie Fäkalbakterien machten den Ort bisweilen zur Todesfalle. Im Jahr 1983 starb der „Zeit“-Journalist Michael Holzach im flüssigen Abfall, als er seinen Hund aus dem Kanal retten wollte.
Der Kot-Bach gehörte einfach zum Leben
Für Janyga, Ingenieur beim Büro Pöyry, gehört das braune, stinkende Emscherwasser seit seiner Kindheit zum Ruhrgebiet wie der Bergbau. Letzterer ist auch der Grund für einen offenen Schmutzwasserlauf. Durch den Kohleabbau sank in der Region immer wieder die Erde ein. Solche Bergsenkungen hätten im Erdreich verlegte Kanalrohre leicht verschoben oder zerbrochen. Eine gefahrlose Ableitung des Abwassers in einem geschlossenen Röhrensystem war zu dieser Zeit nicht möglich.
Also fanden sich die Gemeinden und Unternehmen der Region 1899 in der Emschergenossenschaft zusammen und bauten den Fluss zum Abwasserkanal um. Aufgrund seiner oben offenen Bauweise konnten Veränderungen und Risse am Bauwerk schnell entdeckt und behoben werden.
Heute ist Janyga Leiter des Geschäftsbereichs Wasser. Vom Ufer aus blickt er auf die „Köttelbecke“, wie der Kanal von der Bevölkerung auch genannt wird. Übersetzt heißt das so viel wie „Kot-Bach“.
Der Kot, so der Plan, soll nach rund 150 Jahren endlich aus dem Fluss verschwinden. Pöyry ist im Auftrag der federführenden Emschergenossenschaft seit rund einem Jahrzehnt zusammen mit den Ingenieurbüros Stein & Partner, Sweco und Dorsch an einem großen Bauabschnitt beteiligt.
Ein komplett neues Kanalsystem – diesmal unter der Erde
Ein neues Kanalsystem über 51 km Länge soll das Abwasser in Rohren unter der Erde ableiten. Das ist nun möglich, weil sich mit dem Ende des Bergbaus auch das Erdreich stabilisiert hat. Danach will man den Fluss und seine Nebenläufe in naturnahe Gewässer umbauen. „Von Dortmund bis zur Emschermündung in den Rhein bei Dinslaken entsteht hier eines der modernsten Abwassersysteme der Welt“, erklärt ein Sprecher der Emschergenossenschaft. Der Verband ist dabei, ein Übel, das er damals bauen musste, wieder aus der Welt zu schaffen.
Rund 5 Mrd. € sind für den Emscherumbau veranschlagt. Das Großprojekt schafft und sichert 1400 Arbeitsplätze pro Jahr in der eher strukturschwachen Region.
Das neue Kanalsystem wird parallel zum Flusslauf gebaut. Mit Abständen von über 1 km werden 130 Schächte mit Durchmessern bis 35 m ausgehoben. In der Tiefe erfolgt dann der waagerechte Kanalbau unter Häusern, Straßen und Industrieanlagen. Der unterirdische Vortrieb erfordert gute Planung.
Herausforderung Fliegerbomben
Das Licht fällt von der leuchtend grünen Außenseite durch zwei Fenster in den hellen Innenraum des Baucontainers: Hier befindet sich die Planungszentrale nahe Herne. Die Wände sind ringsherum plakatiert mit Plänen des Kanals und technischen Zeichnungen der Tunnelbohrmaschinen.
Janyga und sein Kollege Kürsat Altun, bei Pöyry in der Bauüberwachung tätig, überfliegen die haarfeinen Linien der aktuellen Pläne. „Die Baustelle erstreckt sich enorm weit. Es sind über 80 Einzelbaustellen, die in anderen Projekten zum Teil selbst Großbaustellen gewesen wären“, gibt Altun zu bedenken.
Trotz Tausender Stichproben aus dem Untergrund, trotz Sondierung des Geländes auf Fliegerbomben aus dem letzten Weltkrieg kommt es im Verlauf des unterirdischen Kanalbaus auch zu unliebsamen Überraschungen.
Es gibt Rückschläge, wie dann, wenn der Kanalbohrer im weichen Boden zu viel Material ausgräbt und die Deckschicht einsackt. Bei solch einem Tagbruch sinkt die Erde sogar an der Oberfläche ein, es bildet sich ein sichtbarer Trichter. Bauoberleiter Jürgen Flicke vom Büro Dorsch erinnert sich an einen kritischen Moment, als ca. 4 m hinter der Unterquerung des Rhein-Herne-Kanals die Erde einsackte.
„Wäre uns das unter dem Rhein-Herne-Kanal passiert, hätte dies Folgen für die Schifffahrt und den Kanalbau haben können“, sagt er. Der Experte bleibt allgemein, aber es ist leicht vorzustellen, was passiert wäre, hätte man den Kanal sozusagen von unten angebohrt. Zum Glück für das Projekt gab es nur wenige Rückschläge. Terminschiene und Kostenrahmen stünden weiterhin, so Flicke.
Auf 100 Blechstufen in die Tiefe
Über der Baustelle liegt der Geruch von feuchtem Beton. Von dem grasgrünen Turmdrehkran sieht man auf den ersten Blick nur etwa die Hälfte. Der Rest verschwindet in einem riesigen Loch inmitten eines Schotterplatzes.
Mit Warnweste und Schutzhelm steht Kürsat Altun am Rand eines Kanalschachts. Der Projektingenieur stützt sich auf das Geländer der Gerüsttreppe und blickt in den Schacht. 100 geschlitzte Blechstufen führen zum 17 m tiefer gelegenen Grund des Bauwerks.
Diese Stufen ist Altun schon öfter hinabgestiegen, um die vielen Details des Baus zu überprüfen, etwa ob der Kanal dicht ist. „Zwischen zwei Rohrenden darf keine Lücke sein, da sonst Abwasser ins Grundwasser sickern könnte“, erklärt er. Insgesamt werden bei dem Projekt 35 000 Kanalrohre mit einem Innendurchmesser zwischen 1,4 m und 2,8 m verlegt.
„Der Emscherkanal wurde von Dortmund bis Bottrop mit dem Rohrvortriebsverfahren gebohrt“, erklärt der Ingenieur. Hydraulische Pressen schieben dabei den Bohrkopf von einem Start- in einen Zielschacht durchs Erdreich. Hinter dem Bohrkopf werden immer wieder Kanalsegmente aus Stahlbeton eingeklinkt und mitgeschoben. Hat der Bohrkopf den Zielschacht erreicht, liegt der rohe Kanal schon im Boden.
Wenn hier in den kommenden Jahren Abwasser durchfließt, wird der Betongeruch eine süße Erinnerung sein. Um den Gestank kümmern sich dann modernste Abluftanlagen. Sie behandeln die Kanalluft fotochemisch. Energiereiches UV-Licht sorgt für die Aufspaltung von organischen Geruchsstoffen. Entstehen dabei Elementarstoffe wie Schwefel, ziehen sie Aktivkohlefilter aus der Luft.
Der Umbau bei laufendem Betrieb gleicht einer Operation am offenen Herzen
Vor den Toren des Klärwerks Emschermündung in Dinslaken fließen auf der einen Seite jetzt noch ein schillernder Fettfilm und diverses Treibgut von Laub bis zur Slipeinlage in die Anlage. Direkt daneben kräuselt sich die Wasseroberfläche der gereinigten Emscher, die aus dem Werk herausfließt und ihren Weg Richtung Rhein fortsetzt. Wenn der Wasserspiegel der Emscher hier durch starke Regenfälle ansteigt, dann fließt das Abwasser über die Betonschwelle ungeklärt in den Rhein, statt den Umweg über die Kläranlage zu nehmen.
Das soll sich ändern. In Zukunft strömt vor dem Tor nur noch Flusswasser vorbei, während das Abwasser durch den neuen Kanal zum Klärwerk gelangt. Das bedeutet deutlich weniger Volumen, dafür aber umso höher konzentriertes Abwasser. „Wird heute eine Abwassermenge von 7000 l/s nur sehr selten unterschritten, geht man zukünftig von etwa 1000 l/s aus“, heißt es von der Emschergenossenschaft.
400 000 m3 Erde für den Hochwasserschutz auf Baustelle transportiert
Ein 100 Mio. € teurer Umbau soll diese Kläranlage, die zu den größten Deutschlands zählt, an die veränderten Bedingungen anpassen. Das geschieht zurzeit bei laufendem Betrieb, was einer Operation am offenen Herzen gleicht.
Ingenieur Paul Kaczmarczyk steht auf der Aussichtsplattform des Containerbüros, von dem aus er den Umbau des Klärwerks überwacht. Hinter ihm blubbern die Belebungsbecken, vor ihm erstreckt sich die Baustelle. Der Wind trägt Hammerschläge, Bohrgeräusche und das Brummen der Bagger heran – und von den Klärbecken einen Geruch, den Bauern gern „gute Landluft“ nennen.
Kaczmarczyk überwacht den Umbau der Kläranlage. Zwischen dem Bürocontainer und den drei eiförmigen Faultürmen ragen Betongerippe aus dem Boden. Die runden Formen lassen schon die Vorklärbecken, der hohe Kasten daneben das Rechenwerk erkennen. Die Fundamente der neuen Gebäude sind tiefer gelegen als der Rest der Anlage.
Um das Erdniveau später anzugleichen, wurden 400 000 m³ Erde nach Dinslaken gekarrt, die auf einem riesigen Haufen hinter der Baustelle auf ihren Einsatz warten. „Von den 6,80 m hohen Betonwänden werden später nur noch etwa 80 cm über die Erde hinausragen“, sagt Kaczmarczyk.
Das höhere Niveau schützt die Anlage bei Hochwasser. Außerdem wird das Schmutzwasser aus dem Kanal in Zukunft nur einmal direkt am Anfang angehoben und läuft dann durch das komplette Klärwerk bergab, bis es in die Emscher zurückgeleitet wird. Dieser eine Hub mit sogenannten Archimedesschrauben ist teuer in der Anschaffung, dafür aber robuster und günstiger im Betrieb als die heutigen Pumpwerke.
Rückbau: Vom Abwasserkanal zum naturnahen Gewässer
Wenn einmal alle Arbeiten an Klärwerken und Kanal abgeschlossen sind, soll der vom Abwasser befreite Fluss so weit wie möglich zu einem naturnahen Gewässer zurückgebaut werden.
So idyllisch wie am Phoenix-See – keine 10 km Luftlinie von der Emscherquelle entfernt – wird es am Rest der Emscher wohl vorerst nicht werden. Wo einst ein Stahlwerk stand, liegt nun ein See, der sich aus Grundwasser speist. Stille, Schilf und moderne Einfamilienhäuser statt Lärm, Rost und Stahlrohre prägen jetzt das Bild.
Als Hochwasser-Rückhaltebecken schützt der See flussabwärts liegende Wohn- und Gewerbebebauung an der Emscher vor Hochwasser. Wenn er bis zu 240 000 m³ zusätzliches Wasser aufgenommen hat, erhöht sich sein Wasserstand um gut 1 m.
Die Deiche der Emscher sollen bleiben – schon für den Hochwasserschutz, eine der Kernaufgaben der Emschergenossenschaft. Die ökologische Verbesserung ist eine planerische Herausforderung, da der begradigte Flusslauf und die angrenzende Infrastruktur mit Brücken für Straße und Bahn mit berücksichtigt werden müssen.
Trotzdem wird allein schon der Wegfall des üblen Geruchs die Gegend deutlich lebenswerter machen. Und wenn die Betonrinne irgendwann einmal wieder an einen natürlichen Fluss erinnert, wird das Ruhrgebiet auch für Firmen und Arbeitnehmer an Attraktivität gewinnen.