Urban Mining: Heidelberg baut neue Häuser aus abgerissenen Gebäuden
Begrenzte Rohstoffe, teure Müllentsorgung: Die Stadt Heidelberg setzt auf Urban Mining und schafft ein Materialkataster seiner Gebäude. Mit dem Material der abgerissenen Häuser sollen dann neue gebaut werden.
Bis vor wenigen Jahren war Heidelberg einer der wichtigsten amerikanischen Militärstützpunkte in Europa. Mit ihrem Abzug verschwanden plötzlich ganze Stadtteile. Die hinterlassenen Gebäude waren oft nicht schön. Sie werden nun nach und nach abgerissen oder umgebaut. So auch die schmucklosen weißen 1950er-Jahre-Wohnblöcke im Patrick-Henry-Village (PHV). Etwa die Hälfte von ihnen soll nun abgerissen werden. Aus dem frei werdenden Bauland soll ein neuer Stadtteil für rund 10 000 Heidelberger entstehen.
Rund 460 000 t Baustoffe erfasst
Das Patrick-Henry-Village war eine rund 97 ha große amerikanische Wohnsiedlung im Heidelberger Stadtteil Kirchheim. Seit dem Abzug der US-Armee stehen die meisten Gebäude leer. Etwa die Hälfte der 169 Wohngebäude soll nun abgerissen werden. Die Baumaterialien sollen fast vollständig wiederverwendet werden. „Wenn wir 90 % erreichen, sind wir zufrieden“, sagt der Erste Bürgermeister Jürgen Odszuck.
Auch interessant: Gebäude aus Hanf und Beton revolutionieren den Bau
Mithilfe eines Programms hat die Stadt ein Kataster mit rund 466 000 t Baustoffen erstellt. Heidelberg will die gewonnenen Baustoffe stadtweit recyceln und Vorreiter beim sogenannten Urban Mining werden. Dabei geht es darum, die in einer Stadt vorhandenen, aber nicht mehr genutzten Rohstoffe zu identifizieren und wieder nutzbar zu machen. Das können – wie in Heidelberg – alte Gebäude sein, aber auch nicht mehr genutzte Smartphones oder andere Elektrogeräte.
Kein vergleichbares Projekt mit ähnlichem Umfang bekannt
Sarah Lichtenthäler, Ökonomin am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, hat bisher kein vergleichbares Projekt mit einem solchen Register gefunden. Felix Müller, Experte für Urban Mining beim Umweltbundesamt, zeigt sich beeindruckt von der systematischen Herangehensweise an Urban Mining im Bauwesen, die das Projekt auszeichnet, sowie von den erheblichen Investitionen in das detaillierte Kataster. Er betont, dass die Stadt damit eine Vorreiterrolle einnimmt, auch wenn andere Städte wie Hamburg, Berlin und Dresden ähnliche Ansätze verfolgen. So legt Berlin bei öffentlichen Bauprojekten großen Wert auf umweltgerechten Abriss und Wiederverwertung der Materialien.
Urban Mining gewinnt auch auf nationaler Ebene an Bedeutung. Die Bundesregierung verfolge das Ziel, eine nationale Strategie zum Urban Mining zu entwickeln, die in Kürze in die Ressortabstimmung gehen soll, betonte Müller.
Urban Mining als zentrales Thema der Bauwirtschaft
Laut Sarah Lichtenthäler spielt der Bausektor im Zusammenhang mit Urban Mining eine Schlüsselrolle, da ein Großteil der verwendeten Materialien mineralischer Natur ist, darunter Natur-, Kalk- und Gipsstein sowie Bausand, Kies und Ton. Das sind alles Materialien, die nur endlich auf der Erde vorhanden sind und bei denen der Abbau große Schneisen in die Umwelt schlägt.
Jürgen Odszuck berichtet, dass die Initiative Ende 2021 in Heidelberg in Zusammenarbeit mit dem Bauberatungsunternehmen Drees & Sommer, dem Forschungsinstitut Epea und dem Unternehmen Heidelberg Materials ins Leben gerufen wurde. Er betont die moralische Verpflichtung gegenüber den verwendeten Materialien und den natürlichen Ressourcen des Landes, die auch von globaler Bedeutung sind, als Hauptantrieb für das Projekt.
„Es ist in erster Linie tatsächlich getrieben durch die Verantwortung, die wir fühlen gegenüber den Materialien und letztendlich den Bodenschätzen, die wir in unserem Land haben, die wir vielleicht auch global haben“, erklärt Odszuck. „Das ist auch getrieben dadurch, dass wir irgendwo schon gar nicht mehr wissen, wo wir entsorgen sollen.“ Bei der Erweiterung der Kläranlage seien etwa im vergangenen Jahr Tausende Tonnen Baumaterial nach Nürnberg gefahren worden – „eine Schweinerei“, wie Odszuck sagt.
Rohstoffe teuer und Mangelware
Schwierigkeiten gibt es auch bei der Beschaffung von Rohstoffen, wie Jürgen Odszuck aus seiner Erfahrung als Architekt und Bauunternehmer berichtet. Er weist darauf hin, dass insbesondere für den Straßenbau einfache Materialien wie Kies oder Schotter nur schwer und zu hohen Kosten auf dem Markt erhältlich sind. Bei der Neugestaltung des Patrick-Henry-Village sollen vor allem Beton, Mörtel, Putz und Ziegel wiederverwendet werden.
Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie weist darauf hin, dass abgebaute mineralische Baustoffe überwiegend als Zuschlagstoffe z. B. im Straßen- oder Betonbau wiederverwendet werden können. Allerdings ist die Nachfrage deutlich höher als das Angebot. Nach Angaben des Verbands Kreislaufwirtschaft im Bauwesen werden jährlich rund 77 Mio. t dieser Gesteinskörnungen produziert, was nur etwa 13 % des Gesamtbedarfs deckt.
Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Verbands, lobt dennoch die Heidelberger Bemühungen: „Das Projekt kann eine gute Blaupause für die Darstellung von Potenzialen in der urbanen Mine werden. Wir brauchen auch hier digitale Lösungen, die den Ist-Zustand sichtbar machen.“ Diese könnten wiederum bei der Verwendung aller möglichen Stoffe helfen.
Heidelberg verfügte bereits nach eigenen Angaben über detaillierte Informationen zu den Gebäuden im Patrick-Henry-Village, einschließlich Baujahr, Größe, Typ, Nutzung und Standort. Diese Informationen wurden mit einem Computerprogramm, dem Urban Mining Screener, verknüpft, das allgemeine Daten über die in den 1950er-Jahren in der Region verwendeten Baumaterialien enthält. Die vermuteten Mengen und Materialien wurden in einem Kataster erfasst. Odszuck räumt ein, dass die Daten eine gewisse Ungenauigkeit aufweisen. Durch die Entnahme von Proben aus den Wänden und Böden der Gebäude soll die Genauigkeit der Daten verbessert werden.
Kosten lassen sich keine sparen
Bei dem Projekt geht es Heidelberg nicht in erster Linie um unmittelbare Kosteneinsparungen, wie Jürgen Odszuck berichtet. „Man ist froh, wenn man dadurch keine Kostensteigerung bekommt. Was wir hier machen, das sind alles noch Sonderwege, Prototypen“, erklärt er. Gleichzeitig steht die Stadt vor der Aufgabe, die Grundstücke von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) zu erwerben, die ebenfalls Interesse an einer Erweiterung und Neuentwicklung auf dem Gelände zeigt und offen ist, sich an dem Projekt zu beteiligen.
Sarah Lichtenthäler, Wirtschaftswissenschaftlerin, weist auf die Herausforderungen im Bereich Urban Mining hin, insbesondere hinsichtlich der Flexibilität in Bezug auf die verfügbaren Materialmengen. „Man kann sich nicht immer auf das Angebot verlassen. Es gibt nur das, was gerade abgerissen wir“, erklärt sie. Ein weiteres Problem sei der Aufwand für die Aufbereitung der Materialien. „Auch für die energieintensiven Prozesse der Aufbereitung werden Ressourcen verbraucht.“ Entscheidend sei auch, dass die Qualität der recycelten Materialien gewährleistet bleibe.
Trotz dieser Herausforderungen sieht Lichtenthäler vielversprechende Ansätze im Heidelberger Projekt. Das erstellte Kataster könnte künftig die Planung von Neubauten dahingehend beeinflussen, dass eine spätere Wiederverwertung der Baustoffe bereits bei der Konzeption berücksichtigt wird. „Man hat eine Datenbank, die ausgewertet werden kann, zum Beispiel von welchen Gebäuden konnten welche Rohstoffe wie recycelt werden? Man kann aus den Daten lernen“. (dpa/hoc)