Zurück zum Fluss
Wie die Zukunft einer Mittelstadt aussieht, lässt sich am Architektenwettbewerb im schwäbischen Backnang erahnen. Die Sieger stehen jetzt fest.
Die Situation ist so komplex wie ein Schaltplan: Eine Stadt mit 38 000 Einwohnern im Einzugsgebiet von Stuttgart will ein 17 ha großes Areal rekultivieren. Dieses Stadtquartier, das in etwa so groß ist wie die Altstadt von Backnang, um die es hier geht, dümpelt seit Jahrzehnten vor sich hin.
Neben Firmen wie dem Technologiekonzern Tesat, der in grauen Bürogebäuden residiert, finden sich auf dem Areal verfallene Industriehallen, eine alte Mühle, kleine Handwerksbetriebe, eine Secondhand-Boutique, ein Jugendzentrum, die örtliche Tafel und ein Aldi.
Vielen Gebäuden sieht der Betrachter den Renovierungsstau an. Das städtische Technikmuseum ist der einzige sanierte Glanzpunkt. Die Murr, der örtliche Fluss, der sich durch das von Hügeln eingefasste Stadtgebiet schlängelt, wurde vor Jahrzehnten vergraben und mit 1000 Parkplätzen zubetoniert. Wohnraum gibt es im Quartier Backnang-West keinen, dafür aber eine Handvoll Eigentümer, deren Grundstücke auf dem Areal teils seit der Industrialisierung im Familienbesitz sind und teils neureichen Industriellen gehören.
Backnang – und im Speziellen das Quartier West – ist bekannt und berüchtigt für seine Lederfabriken, die längst stillgelegt sind. Aber bis heute ist der Boden mit Chemikalien von damals belastet. Die Murr diente lange als billiger Abwasserkanal.
Hoffnung kommt aus den Metropolen
„Da kommt die Internationale Bauausstellung 2027 – die IBA‘27 – der Stadt-Region Stuttgart genau richtig“, sagt Baudezernent Stefan Setzer. Unter deren Fittichen lobte die Mittelstadt einen Architektenwettbewerb aus. 103 Büros von London bis Vietnam bewarben sich. Aus 22 anonymen Arbeiten wählte die 25-köpfige Jury schließlich einen Sieger: eine Arbeitsgemeinschaft der Büros Teleinternetcafe und Treibhaus, die aus Berlin und Hamburg stammen.
Die Büros für Stadtbau und Landschaftsarchitektur arbeiten seit zehn Jahren zusammen, vorwiegend für städtebauliche Projekte. Ihr Entwurf begeistert Jury, Verwaltung und Gemeinderat. Selbst bei den heterogenen Grundstückseigentümern, die mit in der Jury sitzen, findet er Anklang.
Dabei ist das Neue ein wenig das Alte. Statt auf glitzernde Verkaufsprospektarchitektur mit gläsernen Fassaden besinnen sich die kreativen Köpfe aus dem Norden auf den schwäbischen Baubestand. Sie schaffen Raum für bis zu 1000 Wohnungen und graben den Fluss aus, wollen ihn mit 2 ha Grünfläche als Lebensachse des Quartiers inszenieren. Ein Höhenpark mit regional typischen Stäffele (Treppen) sorgt für gutes Klima.
Ein Boulevard fürs Rad
Die bisherige Hauptverkehrsachse, die quer durch das Viertel läuft, legen die Architekten still und schicken sie als Fahrradboulevard in die Zukunft. Alte Industriebrachen sollen erhalten und verdichtet werden. Die Idee ist eine Gebäudetypologie, die aus Bestandssockeln besteht. Sie sollen in vielen Fällen um mehrgeschossigen Wohnraum erweitert werden. Drei Hochhäuser mit bis zu 15 Stockwerken, was in etwa 50 m Höhe entspricht, könnten zudem als Hochpunkte des neuen Quartiers herausragen.
Planerisch teilen die Architekten das Areal in vier Abschnitte: Der City-Campus bildet die Brücke zur Kernstadt. Hier bleiben das Technikmuseum und die alte Lederfabrik inklusive Schornstein erhalten, ergänzend kommen urbanes und temporäres Wohnen hinzu.
Manche Bestandsgebäude (im Plan grau) sollen in Teilen aufgestockt werden. Freie Flächen auf den Sockeln mutieren zu erhöhten Grünflächen. Unten finden sich künftig proaktive Höfe. Sie werden nutzbar für das angesiedelte Gewerbe und sind zum öffentlichen Aufenthalt vorgesehen. „Reihenhäuser, Vorstadtgärten und Zäune wird es im neuen Quartier keine geben“, sagt Jury-Sprecherin Jórunn Ragnarsdóttir, Stuttgarter Architektin und Mitglied des Deutschen Städtebaupreises 2020.
Schwerpunkt ist auch ein Gebiet für soziales Wohnen
Den zweiten Quartiersteil nennen die Planer „Stadtwerk“, in Anlehnung an die vorhandenen Gebäude der örtlichen Stadtwerke, die erhalten bleiben (im Plan gelb). Hier findet sich auch die Nahversorgung. Ein Ziel der Stadtgestalter ist es, dass alle alltagsnotwendigen Geschäfte und Dienstleister binnen 15 min zu Fuß erreichbar sind.
Ein Schwerpunkt soll in diesem Gebiet soziales Wohnen sein. Wohnraum findet auch hier in der Höhe statt. Drittes Quartier ist die „Wohn-Fabrik“ (im Plan rot). Sie ist mit den anderen Quartieren in östlicher Richtung via Park-Aue verbunden und hat produktive Landschaftsflächen am Westende. Dazwischen liegen ein Gewerbepark und wieder Gebäude mit diesmal großformatiger Sockeltypologie: oben Wohnen, unten Gewerbe mit Räumen für eine Fahrradwerkstatt, Carsharing und andere Dienstleister.
Aus Sicht der Sieger-Architekten eignet sich dieser Quartiersteil für genossenschaftlichen Wohnbau, der mittels Tauschwohnungen Mehrgenerationenformate generieren soll. Die Senioren-WG kooperiert mit der Azubi-WG im gleichen Gebäudetrakt, so die gesellschaftliche Vision der Planer.
Große Grünflächen und ein Mobilitäts-Hub
Die Park-Aue schließlich ist die große Grünfläche des Entwurfs. Sie ist öffentliches Gelände und, wie der Name schon sagt, eine vom Fluss geprägte Uferlandschaft, die auch als Überflutungsfläche dienen soll. Hier könnten mehrere Brücken und wassernahe Parks entstehen, vielleicht auch neue Badestellen. Die wegfallenden 1000 Parkplätze verdichten die Stadtgestalter übrigens in drei Parkhäusern, die in den jeweiligen Quartiersteilen aufzustellen sind. Hinzu kommt ein Mobility Hub. So wird die Stadt der Zukunft autofrei – und das im Heimatland von Mercedes, Bosch und Porsche. Ganz schön mutig.
Ein Wort noch zum Verfahren selbst. Auch hier hat „Backnang Mut bewiesen, einen neuen Weg auszuprobieren“, bescheinigt IBA‘27-Intendant Andreas Hofer. Das anonyme Skizzenverfahren habe sichergestellt, dass Ideenreichtum, Kompetenz und Auseinandersetzung mit dem Ort für die Auswahl der Teilnehmerinnen ausschlaggebend waren. Dass am Ende nun zwei deutsche Büros den Sieg einfahren, spricht für die Qualität ihrer Arbeit im internationalen Vergleich.