DIW-Studie zur Kernkraft 12. Mrz 2020 Von Stephan W. Eder Lesezeit: ca. 4 Minuten

Atomkraft verliert weltweit an Schwung

Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) zufolge ist die Kernkraft weltweit auf dem Rückzug. Mehr Stilllegungen als Neubauten bis 2030, nur vier Länder wollen neu in die Technik einsteigen.

Kernkraftwerk Tihange in der Nähe von Huy, Belgien.
Foto: panthermedia.net/coddie

International sieht sich die Kerntechnikbranche angesichts der Suche nach dem schnellen Aufbau einer treibhausgasneutralen Energieversorgung gut aufgestellt. Agneta Rising, die Generaldirektorin des Welt-Kernenergieverbands WNA (World Nuclear Association), skizzierte im November letzten Jahres im Gespräch mit VDI nachrichten eine weltweite Renaissance der Energietechnik.

Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) kommt hingegen zu einem anderen Schluss: „Von einer Renaissance der Atomkraft kann nicht die Rede sein. Dennoch ist dieses Narrativ im öffentlichen Diskurs weit verbreitet“, fasst Studienautorin Claudia Kemfert das Ergebnis zusammen.

207 Kernreaktoren weltweit überschreiten bis 2030 ihre geplante Lebensdauer

Das DIW-Team untersuchte, ob weltweit tatsächlich verstärkt auf Kernkraft gesetzt wird. Sie kamen dabei auf 207 Reaktoren, die bis 2030 zurückgebaut werden müssten, weil sie die üblicherweise angesetzte technische Lebensdauer von etwa 40 Jahren überschritten; diesen Reaktoren stünden nur 46 Neubauprojekte gegenüber.

Wobei die Rechnung nicht zwangsläufig aufgeht. Zunehmend wird die technische Lebensdauer mit Zustimmung der Aufsichtsbehörden verlängert. In Frankreich stehen alle zehn Jahren umfassende Begutachtungen der Reaktoren an, Pläne sehen vor, so die WNA in einem ebenfalls erst jüngst vorgelegten Update zur weltweiten Lage der Kerntechnik, die technisch erlaubte Lebensdauer auf 60 Jahre zu erhöhen. Das dürfte allerdings in Teilen mit umfangreichen Auflagen der französischen Sicherheitsbehörde ASN einhergehen.

Laufzeitverlängerung soll Kapazitätsschwund bremsen

Noch weitreichender sind die Laufzeitverlängerungen der nationalen Regulierungsbehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission) in den USA. Die Reaktoren dort sind für 25 bis 40 Jahre konzipiert. Laut WNA hat die NRC inzwischen für 85 Reaktoren Verlängerungen auf 40 bzw. 60 Jahre stattgegeben.

In einzelnen Fällen sogar auf 80 Jahre: Anfang März erhielt der Kraftwerksbetreiber Exelon die Erlaubnis, die Reaktorblöcke 2 und 3 des Kernkraftwerks (KKW) Peach Bottom jetzt bis 2053 bzw. bis 2054 zu betreiben. Bereits im Dezember hatte die NRC erstmals eine 80-jährige Laufzeit zugestanden, und zwar für die Blöcke 3 und 4 des KKW Turkey Point

Anteil der Kernkraft an globaler Stromerzeugung geht zurück

„Der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung ist gering und aufgrund eines überalterten Kraftwerksparks stark rückläufig“, argumentiert Claudia Kemfert. Habe der Kernkraftanteil 1996 noch für rund 17 % der weltweiten Stromerzeugung gestanden, seien es heute nur noch rund 10 %.

Das ist entsprechend auch den jüngsten Zahlen der WNA zu entnehmen. Derzeit würden 440 Kernkraftwerke in 31 Staaten mit einer gesamten elektrischen Leistungskapazität von rund 400 GW betrieben. 2018 hätten sie 2563 TWh an Strom erzeugt.

In zehn Ländern werden neue Reaktoren gebaut

Neben Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA als westlichen Industriestaaten steht auch in China, Indien und Russland der Neubau von Kernkraftwerken an. Alle sechs besitzen bereits eine größere Flotte an entsprechenden Kraftwerken. Vier Länder wollen erstmals entsprechende Anlagen errichten lassen: die Vereinigten Arabischen Emirate, Belarus (Weißrussland), die Türkei und Bangladesch.

Das DIW verweist auf die WNA-Liste der „Emerging Nuclear Energy Countries“. Sie beinhaltet nicht vier, sondern mehr als 30 Länder, „die demnach angeblich vor dem Einstieg in die Atomwirtschaft stehen“, so das DIW. Das Berliner Wirtschaftsinstitut kritisiert damit, dass die WNA nicht nur Länder erfasst, die wirklich konkret Anlagen bauen, sondern auch jene Länder mit sogenannten „Kooperationsverträgen“ mit potenziellen Lieferanten von Kerntechnik.

DIW: Probleme beim Neubau von Kernkraftwerken

„Unsere Analyse zeigt jedoch zum einen, dass die wenigen Projekte, die in nur vier Ländern umgesetzt werden, unter großen technischen und finanziellen Schwierigkeiten leiden“, berichtet DIW-Studienautor Christian von Hirschhausen. „In allen anderen Ländern gibt es zum anderen zwar eine Reihe von Kooperationsabkommen, jedoch keine konkreten Baupläne.“

Der ehemalige Chef des Öko-Instituts und Kernkraftexperte Michael Sailer sagte zu den Schwierigkeiten beim derzeitigen Neubau von Kernkraftwerken letztes Jahr in dieser Zeitung: „Man wird nur große Reaktoren heutigen Typs bauen, weil es die einzigen sind, die im Verhältnis zum Leistungsoutput halbwegs bezahlbar sind. Trotzdem wird man kaum einen Investor finden, der heute in ein Kernkraftwerk investieren will. Alle Neubauprojekte, die weltweit jetzt laufen, sind in staatlicher Umgebung angesiedelt. Das ist symptomatisch. Das wird diesen Staaten in 20 bis 30 Jahren auch extreme ökonomische Schwierigkeiten bringen.“

DIW sieht bei Neueinsteigern in die Kernkraft das Schielen nach der militärischen Option

„Die Gruppe von atomstromproduzierenden Ländern ist eigentlich ein elitärer Club von Industrienationen und natürlich haben viele Länder die Absicht, in diesen Club reinzukommen“, sagt Studienautor Ben Wealer über die Beweggründe dieser Länder. „Andere Motivationen können auch militärisch geprägt sein. Auffallend ist dabei, dass es sich bei den Neueinsteigern um weniger demokratische Staaten handelt.

Eine Analyse habe ergeben, dass Länder umso wahrscheinlicher in die Gruppe der potenziellen Atomkraft-Newcomer eingeordnet werden, je geringer das Ausmaß der demokratischen Freiheiten ist, so das DIW. Für Länder mit vielen demokratischen Freiheiten sei es hingegen sehr unwahrscheinlich, dass diese als potenzielle Neueinsteiger-Länder klassifiziert seien.

Michael Sailer bestätigt im Grunde diese Beobachtung; seiner Meinung nach sprächen ein militärisches Argument und ein Krisenargument gegen den Bau von Kernkraftwerken. Zum einen versetze sich jedes Land, das Kernkraftwerke selbst betreibt – und nicht von ausländischen Unternehmen betreiben lässt – damit in die Lage, Atomwaffen herzustellen. Dabei müsse die Waffenoption gar nicht a priori gewollt sein.

Zudem, so Sailer, habe man durch Fukushima gelernt, „dass ein Kernkraftwerk nicht überlebt, wenn es nicht an einem stabilen Netz ist. Weil man jederzeit Fremdstrom braucht, wenn die Anlage in die Knie gegangen ist, damit die wieder gestartet werden kann.“ Also könne man aus Risikogesichtspunkten nur in Ländern mit einem stabilen Netz unterwegs sein. „Dann ist noch wichtig, wie ein Land ausgerüstet ist und wie das Land dann in einem Konfliktfall aussieht. Wenn es auf der Krim ein Kernkraftwerk gegeben hätte, dann wäre ich als Beobachter sehr gespannt gewesen, wie das abgelaufen wäre.“

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