Chef der IEA sieht Chance für Comeback der Atomenergie
Einer neuen Studie der IEA zufolge könnte die derzeitige Lage an den globalen Energiemärkten ein Comeback der Kernkraft begünstigen. Regierungen und Industrie müssen aber die Weichen richtig stellen.
Die Internationale Energieagentur (IEA) ist eine jener Organisationen, die sich im globalen Maßstab regelmäßig mit der Kernkraft beschäftigen. Erst in einem Bericht aus dem letzten Jahr sagte IEA-Chef Fatih Birol voraus, der Klimawandel begünstige die Stromerzeugungstechnik. Und daher rechnet sein Haus unter anderem mit einer Verdoppelung der weltweiten Kernkraftwerkskapazitäten bis 2050. Gestern kam eine neue Studie. Fazit: Es baue sich derzeit in vielen Ländern – aufgrund des Umfelds steigender Brennstoffpreise und wachsender Sorgen um die Versorgungssicherheit – ein Momentum pro Kernkraft auf.
Beschuss von Atomkraftwerken: „extrem besorgniserregende Lage“
Frankreich, so Birol (die IEA sitzt in Paris), plane 2028 den Bau von sechs neuen großen Reaktoren – mit der Option, acht weitere bis 2050 folgen zu lassen. Auch Großbritannien plant acht neue Kernkraftwerke (KKW), Polen hat ein Programm aufgelegt, um sich im Rahmen seiner Klimaschutzanstrengungen zu dekarbonisieren und von der Kohleverstromung wegzukommen. Alles eine Folge, so Birol, der Bedenken in Sachen Versorgungssicherheit und Anstieg der Gaspreise.
Atombranche muss ihre Hausaufgaben machen
Allerdings muss die Branche auch ihre Hausaufgaben machen, Regierungen und Industrie müssen das Ihre tun. Ungeklärte Entsorgungslage, sich über Jahre, gar Jahrzehnte verzögernde Neubauvorhaben, steigende Preise, überalterte Anlagen und damit ein Sicherheitsrisiko – kein Werbetrailer für eine Hochsicherheitstechnik. Das schrieb Birol der Branche auch ins Stammbuch und dementsprechend arbeitet die Studie wesentliche Empfehlungen dafür heraus, wie ein Wiedererstarken im globalen Maßstab möglich sei (s. Kasten).
Nachbarland Belgien überdenkt Atomausstieg
Sorgen macht Birol dabei unter anderem, dass neue Reaktoren derzeit vor allem von China und Russland gebaut würden; 52 Reaktoren mit 54 GW sind insgesamt derzeit weltweit im Bau. Von den 52 wurden seit 2017 31 Neubauprojekte von der IEA registriert, davon stammen 27 aus russischer oder chinesischer Herstellung. Russland ist vor allem Exporteur, China baut im eigenen Land. Andere Hersteller sind wenig aktiv: Zwei Reaktoren mit europäischem Design würden in Großbritannien errichtet, die Südkoreaner errichteten zwei im eigenen Land mit eigener Technik, so die Studie.
Zumindest in einem Punkt sieht Birol Fortschritte: bei der Laufzeitverlängerung. Eines der wesentlichen Ergebnisse einer IEA-Studie von 2019 war, dass die Laufzeitverlängerung bestehender KKW sich als Schlüsseloption für die Verringerung von Emissionen hervortue, während es zudem auch eine kosteneffektive Option sei. „Wir sind erfreut zu sehen, dass es seit diesem Bericht einen guten Fortschritt in dieser Sache gibt“, betonte Birol gestern, „denn seitdem wurde 10 % der globalen Kernkraftwerkskapazitäten eine Laufzeitverlängerung zugestanden.“ Dabei sind 63 % der weltweit betriebenen KKW laut IEA heute schon älter als 30 Jahre.
In Deutschland ist eine Laufzeitverlängerung für die alten Atomkraftwerke umstritten
Fast zeitgleich zur IEA-Studie stellte die Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) eine neue Metaanalyse auf. Fazit: Atomkraft sei im zukünftigen Energiesystem weder notwendig noch rentabel. Die ca. 25-seitige Publikation beinhaltet einen Szenarienvergleich für die Jahre 2030 und 2045, basierend auf den meistdiskutierten Studien der aktuellen Energiewendedebatte, die ein breites politisches und inhaltliches Spektrum abdeckten.
Die Metaanalyse kommt durch diesen Studienvergleich u. a. zu folgenden Ergebnissen:
- Energiewende und Klimaschutz sind auch ohne Atomkraft realisierbar.
- Das Erreichen der Klimaschutzziele steht und fällt mit den erneuerbaren Energien.
- Wasserstoff wird eine große Rolle spielen.
Aktuelle Analysen würden, so die AEE, zudem zeigen, dass die Atomkraft auch kurzfristig keine Abhilfe bei Energieknappheit schaffen könne. Es fehle an Brennelementen, Personal und Sicherheitsvorkehrungen, die sich gar nicht schnell genug beschaffen bzw. umsetzen lassen, um die noch bestehenden KKW einfach weiterlaufen lassen zu können.
Ebenfalls gestern gab es im Sächsischen Landtag im Ausschuss für Energie, Klima, Umwelt und Landwirtschaft eine Anhörung zum Thema längere Laufzeit der drei noch in Deutschland in Betrieb befindlichen KKW (Emsland, Isar 2, Neckarwestheim 2, Stilllegung laut Gesetz ab dem 1. 1. 2023 vorgesehen). Nach Bericht der Deutschen Presseagentur sah die Hälfte der sechs geladenen Experten zumindest theoretisch die Chance, Kernkraft über das Jahr 2022 hinaus zu nutzen. Die anderen sahen die Zukunft im stärkeren Ausbau erneuerbarer Energien.