Interview Kernkraftexperte zur Ukraine 08. Mrz 2022 Von Stephan W. Eder Lesezeit: ca. 5 Minuten

Kernkraftwerke in der Ukraine: „Das größte Risiko ist die Verfügbarkeit der Mannschaft“

Uwe Stoll, technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit in Köln, beobachtet seit dem Beschuss im KKW Saporischschja die Lage der dortigen Kernkraftwerke mit großer Sorge.

Karte mit den ukrainischen Kernkraftwerken. Nach Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gibt es derzeit zwei wesentliche Gefahren: erstens den unbeabsichtigten Beschuss im Verlauf der Kriegshandlungen, zweitens die Belastung der Belegschaften, was die Betreibssicherheit beeinträchtigen könnte. Quelle: Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH

Herr Stoll, müssen wir uns Sorgen machen?

Ich würde mir um das KKW Saporischschja die wenigsten Sorgen machen, weil die militärischen Aktionen dort aller Voraussicht nach vorbei sind und die russischen Okkupanten dort die Kontrolle über das Kraftwerk übernommen haben. Die ukrainischen Betriebsmannschaften sind vor Ort. Nach unseren Informationen finden die Schichtwechsel statt. Auch der Block zwei wurde wieder angefahren.

Aber die Front verläuft rund 40 km südlich des KKW Süd-Ukraine. Und da sehe ich die Gefahr, dass es dort zu ähnlichen Auseinandersetzungen um das Kraftwerk kommt wie in Saporischschja (Anm. d. Red.: In der Grafik andere Schreibweise: „Saporoshje“). Es war am KKW Saporischschja kein Angriff auf das Kraftwerk, um es zu zerstören. Aber es gibt dort eine Wachmannschaft, und das waren auch schon vor dem Krieg in der Ukraine Mannschaften der Nationalgarde, die einem Angreifer den Zutritt verwehren. Und bei solchen kriegerischen Handlungen besteht natürlich immer die Gefahr, dass auch Teile einer Anlage beschädigt werden, die für einen sicheren Betrieb wichtig sind. Das Gleiche kann sich natürlich an den anderen KKW-Standorten wiederholen, und das ist meine größte Sorge.

Die Kernkraftwerke haben einen Grundschutz gegen Flugzeugeinschläge

Wie hoch ist die Beschussfestigkeit der Reaktoren in der Ukraine?

Die klassischen WWER-1000, die den Großteil der Reaktorflotte in den ukrainischen KKW bilden, sind gegen den Aufprall eines Flugzeugs von 10 t Gewicht mit einer Geschwindigkeit von 750 km/h ausgelegt. Das heißt, dass es auch in solch einem Fall keine unzulässigen Zustände in dem Kraftwerk geben darf. Reaktor und die Sicherheitssysteme wie das gesicherte Nebenkühlwasser und die Notstromversorgung, alles das muss so geschützt sein, dass es einen solchen Aufschlag übersteht. Dadurch ist ein gewisser Grundschutz gegeben.

Beschuss von Atomkraftwerken: „extrem besorgniserregende Lage“

Bei der Auslegung werden mehrere Aspekte betrachtet. Zum einen allein die Erschütterung durch den Impakt, dadurch dürfen zum Beispiel keine Leitungen im Inneren des Gebäudes reißen. Zum anderen geht es um die Frage, inwieweit das Containment penetriert wird. Kommt es zu einem Durchstanzen der 1,5 m dicken Betonwand? Die Auslegung sollte so sein, dass kein Kerosin aus dem Flugzeug in den Reaktor eindringen und sich dort entzünden kann. Ein Kerosinbrand sollte außerhalb des Gebäudes stattfinden und dann dort auch keine sicherheitsrelevanten Systeme beeinträchtigen.

Das Personal in einem Kernkraftwerk ist eine kritische Ressource

Könnten russische Betriebsmannschaften, die ja auch mit den Reaktortypen in der Ukraine prinzipiell vertraut sind, die dortigen Anlagen fahren?

Das ist richtig, es sind prinzipiell die gleichen Reaktortypen, aber die Ukraine hat sich Mühe gemacht, sich abzugrenzen. Solch ein Kernkraftwerk sollte von der eigenen Betriebsmannschaft gefahren werden, ansonsten würde ich da schon ein Risiko sehen. Diese Teams müssen mit dem Reaktor und seinen Eigenheiten vertraut sein.

Das größte Risiko, was ich derzeit bei den ukrainischen KKW sehe, ist die Verfügbarkeit der Mannschaft. Vielleicht gibt es darunter Leute, die sich als Freiwillige bei der Armee melden, andere sind vielleicht auf der Flucht. Die Situation ist nicht einfach. Es sind nicht so sehr die technischen Dinge, die mir Sorgen bereiten, sondern die Verfügbarkeit von Personal

Welche Rolle spielt dabei die hoch angespannte Lage, unter der das Personal dort derzeit arbeiten muss?

Uwe Stoll, technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH, Köln. Foto: Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH, Köln

Die Leute arbeiten im Kraftwerk und sie leben damit, dass in der Stadt, in der sie wohnen, gekämpft wird. Die machen sich natürlich Sorgen um ihre Familien und sollen dann noch hoch konzentriert im Kraftwerk arbeiten. Das ist psychologisch hoch problematisch.

Sie berichteten, dass im KKW Saporischschja ein Schichtwechsel stattfindet. Aber im KKW Tschernobyl ist immer noch Wissenstand, dass die Mannschaft, die seit dem 24.Februar dort ist, immer noch dort arbeitet.

Ja, soweit wir wissen, hat es in Tschernobyl noch keinen Schichtwechsel gegeben. Über die Lage dort mache ich mir aber weniger Sorgen, weil die Leute dort reine Überwachungsfunktionen ausüben. Sicherlich aber ist es auch für die Belegschaft dort sehr belastend.

Und plötzlich war Umwelt ein Thema

Wenn der Strom aus dem Netz wegfällt, muss ein Kernkraftwerk schlagartig runterfahren

Reaktoren brauchen Strom. Wie lange lässt sich die Sicherheit der Anlage noch gewährleisten, wenn der Strom aus dem Netz entfällt?

Erstens: Kernkraftwerke sind nicht schwarzstartfähig. Um das Kraftwerk hochfahren zu können, braucht es eine Leistung von 50 MW – so viel könnten die Anlagen nur aus dem Netz oder von einem noch laufenden Nachbarblock beziehen. Zweitens: Falls der Strom aus dem Netz wegfällt, würde ein sogenannter Lastabwurf auf Eigenbedarf stattfinden. Das ist ein relativ komplexer Vorgang. Das heißt, die 1000-MW-Turbine, die sich unter Volllast mit 1500 Umdrehungen/min dreht, binnen weniger Sekunden auf 50 MW herunterzufahren. Da müssen Armaturen mit 450 ms schließen. Als Ergebnis läuft der Reaktor mit 30 % Leistung und die Turbine mit 5 % Leistung. Die Anlage kann sich in diesem Zustand tagelang halten – wenn dieser Prozess funktioniert. Da das ein komplexer Vorgang ist, klappt das aber nicht immer.

Energiepolitik: Der Krieg bringt eine Zäsur

Gelingt das nicht, werden dann die Notstromdiesel angefordert. Die großen WWER-1000 haben drei Notstromdiesel, die in der Lage sind, alle Sicherheitssysteme, die man braucht, mit Notstrom zu versorgen. Davon muss mindestens einer zur Verfügung stehen, das reicht für die Nachkühlung. Der Kraftstoff, der für jeden dieser Diesel bevorratet wird, reicht jeweils für drei bis sieben Tage.

Nach dem Unfall in Fukushima wurden dann noch zusätzlich mobile Notstrom-Dieselaggregate angeschafft, an die sich im Notfall die allerwichtigsten Sicherheitsfunktionen anschließen lassen. Ein Vorteil der ukrainischen Kernkraftwerke ist, dass mehrere Blöcke an einem Standort sind. Es braucht nur einen Reaktor, dann kann das gesamte Kraftwerk selbst seinen Eigenbedarf decken.

Das ukrainische Stromnetz im Inselbetrieb ist ein Risiko für die Kernkraftwerke

Das ukrainische Stromübertragungsnetz befindet sich derzeit in einem Inselbetrieb. Verschärft das die Lage?

Ja. Aus meiner Sicht erhöht das das Risiko eines Netzausfalls. Je größer ein Netz ist, desto besser kann man Verluste ausgleichen. Das ukrainische Netz hat eine Spitzenlast von 14 GW. Je kleiner ein Netz wird, desto komplizierter wird der Ausgleich, vor allem, wenn für das Netz die Einzelleistungen der Kraftwerksblöcke relativ groß sind. Das ist viel schwerer auszusteuern als ein großes Verbundnetz.

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