Netzbetreiber zögern bei neuer Leiterseiltechnik
Auf derselben Strecke bis zu 100 % mehr Energie zu transportieren – das versprechen Hochtemperaturleiterseile (HTLS) und das hört sich verlockend an. In der Praxis erweist sich: Sie sind für die Stromnetzbetreiber nur eingeschränkt interessant.glossarinfobox
Fließt Strom durch einen Leiter, erhitzt er sich. Je mehr Strom übertragen wird, desto höher steigt die Temperatur. Hochtemperaturleiterseile halten Temperaturen von bis zu 200 °C aus, ohne wesentlich durchzuhängen. Herkömmliche Freileitungen, meist aus einem Stahlkern und darum gewickelten Aluminiumdrähten, machen dagegen – im wahrsten Sinne des Wortes – bereits bei etwa 80 °C schlapp. An wärmeren Tagen ohne Wind sind diese Temperaturen schnell erreicht.
Erst seit einigen Jahren sind die neuen hitzebeständigen Materialien auf dem Markt – im Vergleich zum Standardleiterseil sind sie je nach Material fünf- bis elfmal so teuer. Hinzu kommen Kosten für den Austausch der Seile. HTLS seien geeignet, um Lastengpässe zu überbrücken, sagt Andreas Preuß, Sprecher des Übertragungsnetzbetreibers Amprion in Dortmund. Ein großflächiger Einsatz scheidet aufgrund der derzeit noch fehlenden Langzeiterfahrung für den Netzbetreiber aus, der die Leiterseile auf einer Versuchsstrecke zurzeit testet. Ein Nachteil sind auch die etwa 2,5-fach höheren Verluste beim Energietransport – aus Sicht von Amprion sind diese, so Preuß, „exorbitant hoch“.
Ganz vorne mit dabei in der HTLS-Technologieentwicklung ist der US-Konzern 3M. Aluminium Conductor Composite Reinforced (ACCR) lautet die Formel, die auf Pilotstrecken sogar Temperaturen von 300 °C aushält und je nach Querschnitt der Leiterseile bis zu zweimal mehr Strom transportiert als Aluminium-Stahl-Leiterseile. Bereits 2001 wurden die Materialien in den USA zum ersten Mal eingesetzt und 2005 weltweit auf den Markt gebracht.
„Das Interesse ist groß, da es immer wieder spezielle Anwendungsfälle dafür gibt“, erklärt 3M-Vertriebsmanager Thomas Junck. Nicht nur bei 220-kV- und 380-kV-Netzen ist der Einsatz von HTLS möglich. Nach Erfahrung von Junck komme aufgrund der Überlastung der 110-kV-Verteilnetzebene eine große Bedeutung zu. Für Stromnetzbetreiber sei dies eine Alternative zum kostspieligen Ersatzneubau oder Erdkabel.
Auch der belgische Konzern Lamifil, das österreichische Unternehmen Lumpi-Berndorf Draht- und Seilwerk, die WDI-Westfälische Drahtindustrie aus Hamm und Nexans aus Hannover haben Hochtemperaturseile im Programm. Die Materialien, ursprünglich für Raumfahrt und Rennfahrzeuge entwickelt, sind dabei so unterschiedlich wie die Konzerne, die sie herstellen.
Ein Hochspannungsleiterseil besteht aus zwei Schichten. Innen liegt der Kern, der gerade bei hohen Temperaturen den Leiter trägt und bei 3M aus Aluminiumoxidfasern besteht. Außen umschließt ihn der Mantel, der zusammen mit dem Kern den Strom trägt. Der Mantel besteht immer aus einer Aluminiumlegierung und ist aus Sicht von 3M im Zusammenspiel mit dem Aluminiumkern ein Garant für Langlebigkeit, da diese Kombination der Korrosion trotzt.
Trotz der hohen Kosten aufgrund der verwendeten Materialien und dem damit verbundenen höheren Herstellungsaufwand kann eine Umrüstung wirtschaftlich sein. Eine Studie der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) im Auftrag von 3M hat gezeigt, dass bei einem Szenario mit 200 km Leitungslänge der Ausbau mit dem ACCR-Seil um 19 % günstiger ist als ein Ersatz der Strecke mit neuen Masten und herkömmlichen Seilen. Ausschlaggebend hierfür ist, dass die vorhandenen Strommasten weiter verwendet werden und langwierige Planfeststellungsverfahren entfallen. Das spart Zeit und Geld. Oder anders ausgedrückt: Die Investition würde statt 269 Mio. € bei 219 Mio. € liegen.
Ralf Puffer, Leiter des Instituts für Hochspannungstechnik an der RWTH, schränkt jedoch ein. „Es ist immer eine Einzelfallentscheidung.“ Denn die Leitungen müssen für den Umbau zugänglich und die Maststatik gewährleistet sein. Außerdem kann über einen Leitungskorridor nur eine bestimmte Menge an Strom übertragen werden, da es sonst zu Stabilitätsproblemen im Netz kommen und dies zu einer automatischen Abschaltung führen könnte.
Das theoretische Potenzial der Hochtemperaturleiterseiltechnik, 100 % mehr Strom zu transportieren, kann daher längst nicht immer genutzt werden. „In vielen Fällen dürfte die Steigerung der Übertragungskapazität eher bei 20 % bis 30 % liegen, bevor in einer Netzregion die Stabilitätsgrenze erreicht wird“, schätzt Puffer.
Auswirkungen auf den in Deutschland anstehenden Netzausbau haben die modernen HTLS offenbar nicht. Ein erhebliches Potenzial zur Minimierung der benötigten Trassenräume sei nicht zu erwarten, macht Tennet-Sprecherin Ulrike Hörchens deutlich. Die Übertragungsnetzbetreiber stünden der „fallweisen Verwendung von HTLS auf bestehenden Masten bei Vorliegen positiver Betriebserfahrungen aus den laufenden Projekten“ jedoch positiv gegenüber.
Beim Neubau von Stromleitungen werden aber verlustarme Seile mit höherem Querschnitt bevorzugt. Zurzeit testet der Übertragungsnetzbetreiber mit Sitz in Bayreuth auf einer 220-kV-Pilotstrecke zwischen Stade und Sottrum verschiedene Hochtemperaturleiterseile.
50Hertz testet seit einem Jahr HTLS zwischen Remptendorf in Thüringen und Redwitz in Bayern und konnte auf Basis von ACSS-Technik (Aluminium Conductor Steel Support, Aluminiumleiterseil mit Stahlkern) die Leistungskapazität von 1800 MW auf 2100 MW erhöhen – ohne den Bau zusätzlicher Trassen.
Die RWE Deutschland AG hat die neuen Materialien ebenfalls im Blick. Sie testet sie auf einer 12 km langen Pilotstrecke im Hunsrück, da sich in der Region die Einspeisung aus Windkraft innerhalb eines Jahres nahezu versechsfacht hat.
Zwar wurden rund 50 % mehr Energie transportiert – der Leistungsverlust war jedoch bis zu viermal so hoch wie bei herkömmlichen Alumiunium-Stahl-Leiterseilen. Ein Einsatz ist nach Ansicht von Peter Pietruschka, der das operative Asset Management bei RWE Deutschland leitet, daher nur bei volatiler Last sinnvoll. „Für dauerhaft ausgelastete Leitungen ist der Einsatz von HTLS-Leitern keine Alternative zum Netzausbau.“