Besonders stabil bei hohen Temperaturen: chaotisches Material für Synthese von Kraftstoff
Kristalle, die aus wild gemischten Zutaten bestehen – sogenannte Hochentropie-Materialien – sind bei extrem hohen Temperaturen besonders stabil. Deshalb könnten sie etwa für Energiespeicher und chemische Produktionsprozesse eingesetzt werden. Die geheimnisvollen keramischen Materialien sind erst seit 2015 bekannt und werden unter anderem in der Schweiz erforscht.
Entropie ist ein Maß für die Unordnung. Ein Weinglas, das versehentlich mit dem Ellbogen von der Küchentheke gestoßen wird, hat bis zum Kontakt mit dem Boden eine gewisse Ordnung, danach zerspringt es in Tausende Teile. Damit sind zwei Dinge feststellbar: Erstens, die Entropie bzw. die Unordnung hat zugenommen. Und zweitens: Im Normalfall wird sich das Glas nicht spontan von selbst wieder zusammenfügen.
Auch thermische Kraftwerke, die aus einem ordentlichen Stapel Holz oder einem Häufchen Steinkohle eine gewaltige Dampfwolke über ihrem Kühlturm erzeugen, arbeiten getrieben von der Entropie. Die Unordnung nimmt bei vielen Verbrennungsprozessen dramatisch zu – und der Mensch nutzt dies aus und zapft aus dem laufenden Prozess Energie in Form von Elektrizität für seine Zwecke ab.
Unordnung am Limit: hochentropische Kristalle
In einer Kristallstruktur sind in der Regel alle Gitterbausteine sauber und auf kleinstmöglichem Volumen dicht nebeneinander sortiert. Kristalle sind also im Materialvergleich ziemlich geordnet. Umso bizarrer wirkt die Idee, Kristalle könnten durch Entropie stabilisiert werden. Doch genau das wird an der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (Empa) versucht.
Entropiestabilisierte Materialien sind ein noch junges Forschungsgebiet. Den Anfang machten 2004 sogenannte Hochentropie-Legierungen, also Gemische von fünf oder mehr Elementen, die sich untereinander vermengen lassen. Wenn die Mischung gelingt und alle Elemente homogen in der Legierung verteilt sind, zeigen sich bisweilen besondere Eigenschaften, die nicht von den einzelnen Zutaten herrühren, sondern von deren Mixtur. Wissenschaftler nennen diese Eigenschaften auch „Cocktail-Effekte“.
Kristall wie eine Studierenden-WG: trotz Unordnung stabil
Seit 2015 ist bekannt, dass sich keramische Kristalle durch die „Kraft der Unordnung“ stabilisieren lassen. Während übergroße und zu kleine Bausteine einen Kristall im Normalfall zerstören würden, passen sie in diesem Fall hinein. Die Auswahl der Kristallbausteine nimmt dadurch noch zu. Dem Empa-Team gelang es, neun verschiedene Atome in einen Kristall einzusetzen.
Der Vorteil: Selbst wenn solche Kristalle hohen Temperaturen ausgesetzt sind, bleiben sie stabil – denn eine „Umsortierung“ der Bausteine würde nicht wie regulär zu größerer Unordnung führen, sondern paradoxerweise zu größerer Ordnung. Das natürliche Streben nach maximaler Unordnung stabilisiert also die ungewöhnliche Kristallstruktur – und damit das gesamte Material – auch unter Extrembedingungen.
Chaotische Oberfläche kann bei der Synthese von CO2 und Wasserstoff zu Methan helfen
„Bei bis zu vier Komponenten im Kristall ist alles noch normal, ab fünf Komponenten ändert sich die Welt“, erläutert Michael Stuer, Forscher in der Empa-Abteilung „High Performance Ceramics“. Seit der in Luxemburg aufgewachsene Forscher 2019 an die Empa kam, bearbeitet er das Forschungsfeld der Hochentropie-Kristalle. „Diese Materialklasse eröffnet uns eine Vielzahl neuer Chancen“, sagt Stuer. „Wir können hochaktive Kristalloberflächen schaffen, die es vorher noch nie gab, und nach interessanten Cocktail-Effekten suchen.“
Gemeinsam mit seiner Kollegin Amy Knorpp konzentriert er sich auf katalytisch aktive Materialien. Bei der chemischen Reaktion, für die die beiden sich interessieren, geht es um die Verbindung von CO2 und Wasserstoff zu Methan. „Wir wissen, dass CO2-Moleküle auf bestimmten Oberflächen besonders gut adsorbiert werden und die gewünschte Reaktion dann leichter und schneller abläuft“, sagt Amy Knorpp. „Nun versuchen wir entropische Kristalle herzustellen, an deren Oberflächen solche hochaktiven Bereiche existieren.“
Andere Anwendungsgebiete sind Hochleistungsbatterien, supraleitende Keramik oder Katalysatoren für Autoabgase und andere chemische Produktionsprozesse.
Chaotische Mischungen am Fließband
Um rascher voranzukommen, haben die Forscher mithilfe der Empa-Werkstatt ein spezielles Synthesegerät gebaut, in dem vielerlei chemische Mixturen wie am Fließband nacheinander getestet werden können. Im Tubular-Flow-Reaktor laufen kleine blaue Bläschen durch einen Schlauch, in denen die jeweilige Reaktion abläuft. Am Ende werden die Bläschen entleert, und das darin enthaltene Pulver kann weiterverarbeitet werden.
„Der Tubular-Flow-Reaktor hat einen riesigen Vorteil für uns: Alle Bläschen sind gleich groß, darum haben wir für unsere Synthesen immer ideale und gleichbleibende Randbedingungen“, erläutert Stuer. „Falls wir von einer besonders vielversprechenden Mischung größere Mengen brauchen, produzieren wir einfach mehrere Bläschen mit der gleichen Mixtur nacheinander.“ Aus dem Vorproduktpulver werden dann durch verschiedene Trocknungsverfahren feine Kristalle der gewünschten Größe und Form.
Methan-Synthese: dank der Unordnung sauber bleiben
Für das erste große Projekt arbeitet das Team der Empa mit dem Paul Scherrer Institut (PSI) zusammen. Hier wird in einem Versuchsreaktor die mögliche Methanisierung von CO2 untersucht, das aus Biogasanlagen und Klärwerken stammt. Die PSI-Forschenden haben bereits Erfahrungen mit verschiedenen Katalysatoren gesammelt und stoßen immer wieder auf ein Problem: Der Katalysator, an dessen Oberfläche die chemische Reaktion stattfindet, wird mit der Zeit schwächer. Das liegt daran, dass Schwefelanteile im Biogas die Oberfläche verschmutzen oder dass sich bei hohen Temperaturen die Katalysatoroberflächen chemisch umwandeln.
Hier suchen die Forscherinnen und Forscher nach einem Durchbruch mithilfe von entropischen Kristallen; denn diese sortieren sich auch bei hohen Temperaturen nicht um – sie werden ja durch Chaos stabilisiert. „Wir hegen die Hoffnung, dass unsere neuartigen, entropischen Kristalle bei dem Prozess länger durchhalten und möglicherweise gegen Schwefelverschmutzungen unempfindlicher sind“, sagt Stuer.