Das Sägeblatt, das unbekannte Wesen
Alle Welt redet von Big Data und Industrie 4.0. Dass aber auch hinter scheinbar trivialen Technologien komplexe Prozesse und spannende Ingenieur-Karrieren stecken, davon können Wissenschaftler am Institut für Werkzeugmaschinen der Universität Stuttgart berichten. Hadi Ghassemi und Simon Weiland hat das Sägeblatt in seinen Bann gezogen.
Eine Kreissäge ist heute ein Werkzeug für jedermann und ein viel genutztes obendrein. In fast jedem Hobbykeller ist es zu finden, Generationen von Heimwerkern hat es zu schönerem Wohnen verholfen. Beim Zuschneiden von Holz, Kunststoffen, Metallen und Verbundmaterial vollbringt das Gerät wahre Wunder und ist deshalb aus Produktions- und Handwerksbetrieben nicht wegzudenken.
Die Stuttgarter Säge-Spezialisten
– Die Universität Stuttgart ist bundesweit eine von wenigen Hochschulen mit einem Forschungsbereich, der sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Sägen beschäftigt.
– Seit Oktober 2013 gibt es dort auch ein Kompetenzzentrum Sägen. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, über die Forschung hinaus auch anwenderbezogen über neueste Entwicklungen im Sägeprozess und über die Weiterentwicklung der Sägemaschinen sowie der Sägewerkzeuge zu informieren. Dies geschieht im Rahmen von Veröffentlichungen und Konferenzen gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung.
– Das Kompetenzzentrum sieht sich als enger Partner des Handwerks und der Industrie. ets
Was nur wenige wissen: Das Sägeblatt – das Herzstück dieses Hochleistungswerkzeugs – hat sich bisher erfolgreich einer systematischen wissenschaftlichen Beschreibung entzogen. Werkzeugmacher können ein Lied davon singen. Ihre Kenntnisse über die dünnen Scheiben beruhen vor allem auf Erfahrungswerten. Erst das Endprodukt lässt Aussagen über Lebensdauer und Schnittqualität zu.
Es sind Rotationsgeschwindigkeiten von mehr als 1000 Umdrehungen in der Minute, die das Sägeblatt zu einem Sensibelchen machen. Die Scheibe wird durch die Dynamik in Schwingung versetzt und kann in der Folge instabil werden. Bei Serienproduktionen hat das unter Umständen fatale Folgen, denn die ausgefransten Schnittkanten müssen nachbearbeitet werden. Dadurch erhöhen sich die Materialverluste, was wiederum Zeit und Geld kostet.
Licht ins Dunkel wollen jetzt Wissenschaftler der Universität Stuttgart bringen. Ihr Ziel ist es, aufgrund physikalischer Untersuchungen, kombiniert mit wissenschaftlichen Berechnungsmethoden und virtuellen Systemen, das Kreissägeblatt so zu beschreiben, dass es in der Herstellung eines Tages exakt den Bedürfnissen der Kunden angepasst werden kann. Doch das ist gar nicht so einfach, denn durch die Reibung, die während der Zerspanung entsteht, läuft das Kreissägeblatt heiß, es entstehen Spannungen und der Stahl beginnt sich zu wellen.
„Die Kunst besteht darin, ein Sägeblatt so dünn wie möglich zu machen, ihm aber gleichzeitig die größtmögliche Steifigkeit zu verleihen“, erklärt Hadi Ghassemi vom Institut für Werkzeugmaschinen (IfW), der an der TU Darmstadt Maschinenbau mit Schwerpunkt Mechatronik studierte, bevor er in Stuttgart anfing, sich mit Sägeblättern zu beschäftigen. Der Iraner hatte bereits drei Jahre lang in seiner Heimat Berufserfahrung gesammelt, bevor er sich für Deutschland entschied, denn „das Maschinenbaustudium ist hier weltweit mit führend“. Zunächst lockte den heute 36-Jährigen die Herausforderung Ausland, dann das Sägeblatt-Angebot der Universität Stuttgart. „Beim Herstellungsprozess von Kreissägen kann ich meine Kenntnisse aus Maschinenbau und Mechatronik ideal einbringen“, sagt Hadi Ghassemi.
Seinen Kollegen Simon Weiland, der der Faszination des Sägeblatts schon während seines Maschinenbaustudiums in Stuttgart erlegen ist, beeindruckt vor allem die Praxisnähe dieses Themas. „Ich brauche etwas Dreck und Krach, um mich zu erden“, sagt er.
Nicht etwa, dass es darum ginge, die Sägeblattforschung neu zu erfinden. Konventionelle Verfahren, durch die statische wie dynamische Eigenschaften eines Kreissägeblattes verbessert werden, existieren bereits. Eines davon ist das Spannungswalzen. Dazu wird das Blatt in eine Spannungswalzmaschine eingespannt und ringförmig ausgewalzt. Diese plastische Verformung in der Walzspurzone induziert eine gewisse Eigenspannung im Sägeblatt und verändert dadurch seine dynamischen und statischen Eigenschaften. Dämpfend wirken auch Dehnungsschlitze. Sie verlaufen vom Rand der Scheibe aus zur Mitte hin, sind haarfein und bieten den Spielraum, den das Material braucht, um sich ausdehnen zu können.
Höherwertige Sägeblätter erhalten außerdem oft Dämpfungsschlitze von etwa 1 mm Breite. Sie übernehmen eine Art „Unterbrecherfunktion“, das heißt, sie dienen dazu, die Weiterleitung der Schwingungen innerhalb des Materials zu verhindern oder die Eigenfrequenz so zu verlagern, dass sich die Betriebsschwingungen reduzieren.
Simon Weiland kann schon beim Anschlagen eines Sägeblattes am Klang erkennen, wie es um die Dämpfungsqualität steht. Klingt es hell wie eine Glocke, hat es eine starke Eigenschwingung, ein dumpfer Laut dagegen spricht für eine geringe Vibration.
Doch Weiland will es präziser, Dämpfungsschlitze sind genau sein Thema. Um die axialen Schwingungen zu minimieren, füllt er sie mit viskoseelastischem Material und schlägt die Scheiben mit einem Hämmerchen an. Ein Sensor registriert die Anschlagkraft, die Eigenfrequenzen und das Abklingverhalten der jeweiligen Schwingung. Mithilfe eines mathematischen Verfahrens werden die Stabilitätsgrenzen bewertet und bei jedem Arbeitsschritt die Simulationen den experimentellen Untersuchungen gegenübergestellt. Dadurch können die Modellparameter ständig aktualisiert werden, sodass am Ende ein validiertes Modellierungsverfahren existiert. Dies erlaubt exakte Vorhersagen über das statische und dynamische Verhalten eines Sägeblattes.
Zu mehr Stabilität will auch Hadi Ghassemi dem Kreissägeblatt verhelfen. Sein Ansatz liegt allerdings im Bereich des Spannungswalzens. Vom realen Walzvorgang ausgehend, simuliert er ein Modell mit einer Vielzahl an Variablen, angefangen bei den Kontaktverhältnissen zwischen den Walzen und dem Kreissägeblatt, über die reale Geometrie des Spannungswalzens, die Kinematik der Maschine mit ihren Randbedingungen, bis hin zur Plastifizierung des Sägeblattwerkstoffes. „Wir stehen heute an einem Punkt, an dem die mechatronische Seite, also das Zusammenwirken von mechanischen, elektronischen und informationstechnischen Elementen, eine immer größere Bedeutung bekommt“, so der Ingenieur.
Die Sägeblattforschung sei demnach keine isolierte Disziplin. Ihre Erkenntnisse ließen sich auf nahezu alle rotierenden Systeme übertragen, unabhängig davon, ob es sich um Sägeblätter, Turbinen oder Scheibenbremsen handelt. MONIKA ETSPÜLER/ws