Der Weg zur technologischen Souveränität Deutschlands
Hightech-Entwicklungen sollen Deutschland technologisch unabhängig machen. Welche das sind, skizziert ein Impulspapier des BMBF.
Die Informatikerin Ina Schieferdecker hat eine klare Vision: „Wir wollen in Deutschland Schlüsseltechnologien für die Zukunft selbst mitgestalten.“ Die Abteilungsleiterin für technologische Souveränität und Innovationen im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) weiß: „Fehlen hierzulande diese Kompetenzen und Fähigkeiten, verliert man die Möglichkeit, wichtige Zukunftstechnologien nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln oder entsprechende Standards zu prägen.“ Das habe man in den vergangenen 20 Jahren bei Datenplattformen, der Batteriefertigung oder der Medikamentenentwicklung gesehen. „Nur mithilfe der wesentlichen Schlüsseltechnologien können wir in Zukunft die notwendige wirtschaftliche Kraft auf die Straße bringen – und für Wohlstand sorgen.“
Gelingen kann das nur in engem Schulterschluss mit Europa. Denn allen Beteiligten ist klar: Im nationalen Alleingang könne man mit den USA oder China nicht mithalten. Auch deshalb wurde die Wirtschaft ganz bewusst früh mit ins Boot geholt. Jetzt sei es an der Zeit, eine Linie zu definieren, welche Schlüsseltechnologien weiter gefördert werden müssen, aber auch, welche die kommenden sind (s. Kasten). Ein passendes Impulspapier macht dafür zurzeit die Runde – in der Politik ebenso wie in der Industrie.
Wirtschaft fordert Priorisierung
Katja Windt, Mitglied der Geschäftsführung der SMS Group GmbH, eines weltweit führenden Anlagenbauers insbesondere im Stahlsektor, findet diesen Ansatz dringend notwendig. „Entscheidend wird die Priorisierung der technologischen Initiativen sein“, sagt sie. „Gerade Europa kann mit speziellen Technologien eine Führungsposition weltweit einnehmen.“ Diese seien mit geeigneten Förderinstrumenten zu unterstützen.
Indikatoren und Kennzahlen müssen also her, anhand derer ein technologisch relevantes Feld als wesentlich für kritische Infrastrukturen zu erkennen ist. Dann folgt die Analyse: Wo steht Europa bei Kompetenzen und der Herstellung von Komponenten für diese Technologie? Was braucht es, um Lücken zu füllen? Wie teuer ist das? Und wie sehen die Erfolgsaussichten aus? Das alles läuft neben der klassischen Technologiesichtung. „In dem aktuellen Prozess kann gesteuert werden, wo die dann doch begrenzten Mittel für Forschung und Innovation eingesetzt werden“, sagt BMBF-Frau Schieferdecker.
Beispiele gefällig?
Mikroelektronik: Dieses Thema wird seit Jahrzehnten am konsequentesten gefördert. Stolz bilanziert Schieferdecker die aktuellen Fördermaßnahmen. Die „Forschungsfabrik Mikroelektronik Deutschland“ gehört dazu, oder das EU-Industrieförderprogramm IPCEI (Important Project of Common European Interest) on Microelectronics, bei dem der enge Schulterschluss zwischen BMBF und Bundeswirtschaftsministerium deutlich wird. Mit Infineon und NXP gebe es europäische Player, die allerdings eher den B2B-Bereich bedienen. Im November wurde ein neues Rahmenprogramm der Bundesregierung für die Mikroelektronik verabschiedet, das vor allem vertrauenswürdige und nachhaltige Mikroelektronik fördern und offene Schnittstellen und Prozessorarchitekturen weiterentwickeln soll.
Industrielle Produktion hängt von Halbleitern ab
Wie wichtig es ist, gerade den Bereich Halbleiter und Chips zu stärken, wissen auch Industrieexpertinnen wie Claudia Nemat, Vorstandsmitglied Technologie und Innovation der Deutschen Telekom. Davon hänge der gesamte relevante industrielle Sektor ab. Produktion, Forschung, ganze Wertschöpfungsketten würden von Firmen aus den USA, Taiwan und Südkorea dominiert. „In Europa gibt es ein Riesendefizit. Ich halte das für fatal.“ Bei Schieferdecker klingt das optimistischer. „Auf Taiwan-Niveau kommen wir bei den Produktionszahlen natürlich nicht, das Volumen fehlt; aber um bei Industrie 4.0 und kommenden Wertschöpfungen zu punkten, sind wir auf dem richtigen Weg.“
Förderung führt zu Ansiedlungen in Europa
Batteriefertigung: Die noch junge Forschungsfertigung Batteriezelle in Münster soll den Weg von der Forschung in die Produktion und damit den Transfer in die Wirtschaft verbessern. Schieferdecker: „Wir haben den Eindruck, dass die gezielte Förderung bereits zu Ansiedlungen in Europa geführt hat.“ Man wisse mittlerweile, dass es hierzulande kompetente Fachkräfte gibt. Chinesen und Koreaner kämen nach Deutschland. Umgekehrt exportierten deutsche Unternehmen wie die Manz AG nach Kanada. „Das alles hilft.“
Europa muss bei 6G aufpassen
Kommunikationstechnik: Nach 4G und 5G will Europa bei 6G noch maßgeblicher die Standards setzen. Deutschland und Europa seien bei der Forschung in Sachen Mobilfunk gut aufgestellt, glaubt Schieferdecker. Hier müsse man jetzt die Wirtschaftsseite stärken.
Entscheidend sei, dass es Europa gelinge den neuen Standard mitzugestalten, mahnt Telekom-Managerin Nemat: „Wenn wir das den USA und China überlassen, kommt für Europa nichts heraus.“ Und sie warnt eindringlich: „Da müssen wir wirklich aufpassen.“ Standards und Frequenzvergaben sollten aus der Anwendung heraus spezifiziert werden – also zusammen mit Sensorik- sowie Geräteherstellern etc. Und das müsste diesmal – im Gegensatz zum 5G-Prozess – gemeinsam mit Netzanbietern und -ausrüstern geschehen.
Mehr Haushaltsmittel im Forschungsministerium
Das BMBF kann sich dank des Zukunftspakets, das mitten in der Corona-Krise zur Stärkung der Wirtschaft verabschiedet wurde, erfreulich üppiger Fördermittel bedienen, um weitere brennende Technologiefelder zu bespielen: die grüne Wasserstofftechnologie oder die Impfstoff- und Medikamentenforschung und -entwicklung. Einen kräftigen Schub sollen auch künstliche Intelligenz (KI), Höchstleistungsrechner und Quantentechnologien erhalten. „Wir haben in den nächsten zwei, drei Jahren viel Schwungmasse“, freut sich Schieferdecker.
Der Haushalt des Ministeriums ist im Jahr 2021 auf gute 21 Mrd. € angewachsen. Mit dem Zukunftspaket stellt die Bundesregierung gerade für KI, Quantentechnologien, Kommunikationssysteme und grünen Wasserstoff erhebliche zusätzliche Mittel bereit. Wichtig sei nun, die Gelder richtig zu investieren.
Passende Förderimpulse seien entlang der jeweiligen Schlüsseltechnologie für die kommende Legislaturperiode zu setzen. Technologische Souveränität sei immer im Dreiklang mit wirtschaftlicher und politischer Souveränität zu sehen. Und Schieferdecker klingt bescheiden: „Wir machen jetzt erst mal im BMBF unsere Hausaufgaben als Förderhaus für Forschung und Innovation.“
Führungsrolle für Deutschland
„Deutschland kann innerhalb Europas in vielen Bereichen eine Führungsrolle einnehmen“, ist Katja Windt überzeugt. Für die Geschäftsführerin im weltweit agierenden metallurgischen Dienstleistungsunternehmen SMS Group stehen als Schlüsseltechnologien die Dekarbonisierung der Werkstofferzeugung, die Digitalisierung und die Werkstoffentwicklung fest. Strategische Bedeutung sieht sie zudem bei grünem Wasserstoff und bei CO2 als Rohstoff. Zusammen mit Digitalisierungstechnologien könnten deutsche Unternehmen hier einen signifikanten Beitrag leisten.
Die Erzeugung von Wasserstoff mithilfe erneuerbarer Energien beispielsweise durch die Hochtemperaturelektrolyse führt zu Großprojekten zur Herstellung von synthetischen Kraftstoffen. Allein die Ernte von CO2 aus der Luft werde durch Projekte im Milliardenbereich realisiert werden. „Wir unterschätzen zurzeit die Wirkung der synthetischen Kraftstoffe auf die Dekarbonisierung“, ist sich Windt sicher. Betreibt man Verbrennungsmotoren damit, wird kein neues CO2 produziert. Das sei in der Politik noch nicht ganz angekommen. Um solche Zusammenhänge klar zu machen, ist ein Impulspapier von strategischer Bedeutung. Entscheidend für die Dekarbonisierung ist aber die Herstellung von großen Mengen preiswerten grünen Wasserstoffs. Derzeit reichen die Kapazitäten hier aber nicht. „Das finale Ziel der Elektromobilität wird letztendlich die Brennstoffzelle sein“, glaubt Windt.
Positives Beispiel: Gaia-X
Auch für Nemat ist grüner Wasserstoff eine der entscheidenden Schlüsseltechnologien, doch die Telekom-Expertin fordert von Ministerien und Gesetzgebern noch mehr: „Wir sollten den gesetzlichen Rahmen für industrie- und unternehmensübergreifende Kooperationen erweitern.“ Es müsse mehr Spielraum im vorwettbewerblichen Bereich geben. Ein positives Beispiel ist für sie das europäische Cloud-Projekt Gaia-X – da sei die Politik eingestiegen und habe eine Plattform für Zusammenarbeit initialisiert. Apropos Gaia-X: Hier meint Nemat, dass es jetzt an der Zeit wäre, „einfach mal zu machen“. Der riesige öffentliche Sektor könne hier gut als Nachfrager einsteigen.
Werteorientierte Entwicklung
Europa eint nicht nur die Suche nach Schlüsseltechnologien, sondern auch gemeinsame Werte bei deren Entwicklung. Beim Datenschutz wie bei Fairness in der KI. „Werteorientierte Entwicklung“, so heißt es immer wieder im Impulspapier.
Im Vergleich zu China beispielsweise sei nachhaltige Technologiepolitik in einer Demokratie naturgemäß aufwendiger und anstrengender. Doch für Expertin Schieferdecker ist das Ergebnis überzeugender. Diversität, das Ringen um gemeinsame Lösungen und das Nutzen vieler Quellen stärken die Resilienz von Wirtschaft und Gesellschaft.