BIOÖKONOMIE 13. Jul 2017 Bettina Reckter Lesezeit: ca. 6 Minuten

Die chemische Industrie kann auf Erdöl verzichten

Über kurz oder lang könnten deutsche Chemieunternehmen grün werden. Viele innovative Verfahren setzen auf die Nutzung von pflanzlichem Material, um daraus Basischemikalien herzustellen.

Die Herstellung von Bio-Anilin klappt bereits im Labormaßstab. Jetzt will Projektleiter Gernot Jäger (Mitte) die Ergebnisse mit seinem Team auch in größeren Anlagen testen.
Foto: Covestro

Was tun, wenn die Natur den Hahn zudreht? Wenn die Ölquellen nicht mehr reichlich sprudeln und der Industrie der äußerst bequeme und etablierte Rohstoff für Kosmetik, Kunststoff, Düngemittel, Farben und Lacke ausgeht? Betroffen sind dann rund 90 % aller chemischen Produkte. Sie beinhalten Kohlenstoff, der meist aus Erdöl oder aus Erdgas und Kohle stammt. Nachhaltig sind diese fossilen Quellen alle nicht. Nachwachsende Rohstoffe sowie Kohlendioxid (CO2) aus Abgasen oder der Luft könnten hier eine umweltverträglichere und vor allem längerfristig nutzbare Alternative sein.

Weder an Pflanzen noch an CO2 herrscht wirklich ein Mangel. Und auch nicht an Erfolgen, die Forscher in den Labors nahezu aller großer Chemieunternehmen sowie in der anwendungsnahen Wissenschaft erzielen. So lässt sich bereits eine Vielzahl chemischer Grundstoffe biotechnologisch aus Zucker, Stärke oder auch Holz erzeugen.

„Wir arbeiten daran, den Anteil an Produkten aus pflanzlichen Rohstoffen kontinuierlich zu erhöhen“, bestätigt Thierry Vanlancker. Er ist im Vorstand von AkzoNobel für Spezialchemikalien zuständig. Dort verfolgt man verschiedene Initiativen mit biobasierten Materialien, zum Beispiel mit Holz und Mais. „So sind wir schon recht weit gekommen auf dem Pfad weg vom Öl“, meint der Chemieingenieur.

Damit Plattformchemikalien aus Biomasse aber wirtschaftlich werden, braucht es neue Prozesstechniken. Zum Beispiel die Methoden der Biotechnologie oder des Metabolic Engineerings. Dabei werden wahlweise Mikroorganismen oder Pflanzen genetisch so umprogrammiert, dass ihr Stoffwechsel die gewünschten Produkte herstellt.

Bei Bulkchemikalien, also Massenchemikalien, die für die weitere Produktion in den Markt gehen, war das allerdings bislang schwierig. Nur wenige Substanzen wurden überhaupt biotechnologisch erzeugt, etwa Bioethanol als alternativer Kraftstoff, Acrylamid für Polymere und Farbstoffe, Propandiol für die Herstellung des Hochleistungskunststoffs Polytrimethylenterephthalat (PTT) oder Milchsäure für synthetische Polyester.

Mit 2 Mio. t Biomasse deckt die deutsche Industrie heute immerhin schon mehr als 10 % ihres Rohstoffbedarfs für die stoffliche Nutzung ab. Häufig wird das Pflanzenmaterial dafür in großen Raffinerieanlagen verarbeitet.

Solche Bioraffinerien müssen anders konzipiert werden als die Anlagen in der Petrochemie. Mit der Richtlinie 6310 hat der VDI Gütekriterien für deren optimalen Bau und Betrieb entwickelt. Bioraffinerien der ersten Generation veredeln Stärke etwa aus Mais und Zucker aus Rüben oder Zuckerrohr – zum Beispiel zu Ethanol. In Brasilien produziert der Chemiekonzern Braskem solches Bioethanol bereits preiswerter als vergleichbares Ethylen, das auf Erdölbasis entsteht. Wird dieses zu Polyethylen vernetzt, liegt bereits ein vielseitig nutzbarer Massenkunststoff vor.

In Bioraffinerien der zweiten Generation werden nicht einzelne Produkte, sondern die Pflanzen als Ganzes in unterschiedliche Stoffströme zerlegt. Im Jahr 2009 gelang es zum Beispiel dem Chemiekonzern Wacker, Essigsäure erstmals im Tonnenmaßstab in einem selektiven Verfahren aus Bioethanol herzustellen. In einem Anschlussprojekt, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms „Bioindustrie 2021“ fördert, arbeiten die Forscher daran, Essigsäure und Ethylen beispielsweise aus Stroh zu produzieren. Für viele Basischemikalien stecken die Herstellungsverfahren aus Biomasse zwar noch in den Kinderschuhen, trotzdem können die Forscher aktuell entscheidende Ergebnisse für sich verbuchen.

Die Basischemikalie Anilin etwa lässt sich aus Zucker gewinnen. Der Bayer-Tochter Covestro in Leverkusen gelang mit einem komplett neuen Verfahren jetzt ein beachtlicher Forschungserfolg. Bisher synthetisiert die Branche Anilin aus Benzol, einem Rohstoff auf Basis von Erdöl. Covestro aber wandelt Zucker aus Futtermais, Stroh oder Holz mithilfe eines mikrobiellen Katalysators in ein Zwischenprodukt um. Daraus entsteht durch anschließende chemische Katalyse Anilin.

„Unser Verfahren führt im Vergleich zur konventionellen Technik zu einem deutlich verbessertem CO2-Fußabdruck des Anilins“, freut sich Gernot Jäger, Projektleiter bei Covestro. Anilin ist ein wichtiger Ausgangsstoff für viele chemische Produkte, etwa für Polyurethan-Hartschaum, mit dem Kühlgeräte und Gebäude gedämmt werden. Die Jahresproduktion liegt bei 5 Mio. t weltweit. Covestro zählt mit einer Kapazität von etwa 1 Mio. t zu den führenden Herstellern.

Noch funktioniert die Bio-Anilin-Produktion allerdings nur im Labor. Jägers Team aber will sie schon bald in größere technische Dimensionen überführen. Ziel ist schließlich, die biobasierte Grundchemikalie im Industriemaßstab zu gewinnen.

Bei der Herstellung von Isobuten aus Zucker ist man schon einen entscheidenden Schritt weiter. Global Bioenergies (GBE) hat eine weltweit einmalige Anlage zur biotechnologischen Gewinnung der Plattformchemikalie im Fraunhofer-Zentrum für chemisch-biologische Prozesse (CBP) in Leuna installiert. Aus Isobuten entstehen Gummi, Kunststoffe, organisches Glas, Farben und Kosmetika oder auch Kraftstoffe.

„Die direkte fermentative Produktion von gasförmigem Isobuten ist ein neues Feld, auf dem wir Pionierarbeit leisten“, erklärt GBE-Geschäftsführer Ales Bulc. In einer vom Bundesforschungsministerium geförderten Demonstrationsanlage mit einer Kapazität von 100 t/Jahr hat sich das Verfahren, das mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen arbeitet, bereits bewährt.

„Im Prinzip hätten wir vor zwei Jahren, als der Rohölpreis noch über 80 € je Barrel lag, wirtschaftlich produzieren können.“ Ales Bulc, Geschäftsführer von Global Bioenergies (GBE) in Leuna. Foto: GBE

Inwieweit sich der Prozess rechnet, vermag Bulc derzeit nicht zu sagen. „Im Prinzip hätten wir vor zwei Jahren, als der Rohölpreis noch über 80 € je Barrel lag, wirtschaftlich produzieren können.“ Gemessen am Innovationsgrad, sei das schon ein bemerkenswertes Ergebnis. Auf Basis heutiger Mineralölpreise von knapp über 40 €/Barrel und ohne eine weitere Prämie wäre es allerdings schwierig, die Wirtschaftlichkeit zu bestätigen.

Im nächsten Projekt, das die EU im Rahmen des Programms „Horizon 2020“ fördert, will das Team von GBE nun gemeinsam mit zwei der größten Chemiekonzerne Europas zeigen, dass die Fermentation auch mit Stroh und Holz gelingen kann. Der Schweizer Spezialchemiekonzern Clariant liefert dazu die Sunliquid-Technologie zum Aufschluss von Stroh in glukose-, also zuckerreiche Hydrolysate. Nach deren Umwandlung zu Isobuten bei GBE in Leuna stellt Kunststoffproduzent Ineos aus der Schweiz dann Oligomere daraus her. Damit wird die gesamte Wertschöpfungskette gemeinsam abgebildet.

Den Chemierohstoff Methanol aus Biomasse in einer neuen Prozesskette herzustellen, ist eine Herausforderung, der sich Forscher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) stellen. Methanol gilt als Ausgangsstoff für die Produktion von Ameisen- und Essigsäure, von Formaldehyd sowie von Lacken und Farben. Der weltweite Bedarf an Methanol lag 2015 bei immerhin 65 Mio. t.

Im Fokus des vom BMBF geförderten Projekts, an dem von industrieller Seite Infraserv Höchst in Frankfurt beteiligt ist, stehen die energiesparende Biogaserzeugung durch Druckfermentation sowie ein neuartiges Reaktorkonzept zur Methanolsynthese. „Der Prozess wird ganzheitlich bilanziert. Seinen Wirkungsgrad und seine Ökobilanz wollen wir mit Methanol-Herstellungsprozessen basierend auf Erdöl, Kohle oder Erdgas vergleichen“, beschreibt der KIT-Katalyseexperte Siegfried Bajohr die ehrgeizigen Ziele der Forscher.

Einen biobasierten Härter für Klarlack haben jetzt Audi, BASF und Covestro gemeinsam entwickelt. Als oberste Schicht des Lacks sorgt der Klarlack für Kratzfestigkeit, Glanz und Schutz vor Witterung. Gut 70 % des im Härter enthaltenen Kohlenstoffs stammen aus Pflanzen. Nun wurden mit dem „Biolack“ Testkarossen des Audi Q2 im Werk Ingolstadt unter seriennahen Bedingungen erfolgreich beschichtet.

Mit der Lackkomponente gewinnt Biomasse im Automobilbau eine neue Dimension. Bisher war die Verkleidung im Innenraum oft das einzige „grüne“ Bauteil. Zunehmend spielen jetzt biobasierte Kunststoffe in der Branche eine Rolle. Und nun also sogar der Lack. „Mit diesem Projekt übernimmt Audi die Vorreiterrolle für dieses Thema in der Autoindustrie“, freut sich Thomas Heußer, Leiter Werkstoffe und Verfahren bei Audi.

Für die am Projekt beteiligte BASF gelten Verfahrensinnovationen als Schlüssel zum Rohstoffwandel. Der Anteil von Biomasse am globalen Einkaufsvolumen lag bei dem weltgrößten Chemiekonzern im Jahr 2015 bei rund 5,8 %. Die Ludwigshafener mischen zudem bei vielen erfolgreichen Umsetzungen mit. Zusammen mit der Technologiefirma Avantium hat BASF beispielsweise 2016 das Unternehmen Synvina zur Herstellung von Furandicarbonsäure aus nachwachsenden Rohstoffen gegründet. Daraus entsteht Polyethylenfuranoat (PEF), das als Folie oder Kunststoffflasche verpackte Produkte länger frisch hält als herkömmliche Polymere.

Für chemische Verfahren Erdöl durch Biomasse zu ersetzen, war bis vor fünf Jahren auch bei Evonik, einem weltweit führenden Hersteller von Spezialchemie und Hochleistungsmaterialien, ein wichtiges Thema. Ein Schwerpunkt der Forschung lag auf der Fertigung von Spezialkunststoffen oder deren Vorprodukten aus Zucker oder pflanzlichen Ölen. Doch dann fiel der Erdölpreis.

„Wenn dann aber Biomasse plötzlich doppelt so teuer ist wie Erdöl, wird es schwierig, diesen Ansatz weiter zu verfolgen“, räumt Thomas Haas ein. „Trotzdem forschen wir weiter daran, chemische Produkte aus alternativen Basisstoffen herzustellen“, sagt der Leiter des Bereichs Science & Technology bei Creavis, der strategischen Innovationseinheit von Evonik in Marl. Interessante Ansätze bieten seiner Meinung nach neben der Biotechnologie die Elektrochemie und die Plasmachemie. Bei beiden Verfahren erfolgt die Synthese mithilfe von Strom, allerdings muss nicht notwendigerweise immer ein nachwachsender Rohstoff eingesetzt werden.

Erdöl nutzt die chemische Industrie in Deutschland nur zu 14 % für die stoffliche Verarbeitung. Weitere 4 % stammen aus anderen fossilen Rohstoffen wie Gas und Kohle. panthermedia.net/3dart

Heute setzt Evonik rund 9 % nachwachsende Rohstoffe ein. Wäre rein theoretisch auch eine stoffliche Chemie komplett ohne Erdöl möglich? „Nein, so weit sind wir noch nicht“, gesteht Haas. „Geforscht wird aber an Chemikalien, die Eigenschaften zeigen, die über Erdöl nicht zugänglich sind.“ Etwa an Biotensiden, also an waschaktiven Substanzen.

Der Markt für Bioökonomie ist riesig. „Bioökonomie“ meint hier alle wirtschaftlichen Prozesse, die Pflanzen, Tiere oder Bakterien irgendwie nutzen. Der Jahresumsatz beträgt laut dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) in der EU rund 2100 Mrd. €. Auf Deutschland entfallen 600 Mrd. €. Den Grundstein dafür hat die Bundesregierung mit ihrer Politikstrategie „Bioökonomie“ gelegt. In 20 Jahren hat sich die deutsche Biotech-Branche mit über 700 Firmen entwickelt. Zudem arbeiten über 200 Institute an bio- und gentechnischen Verfahren.

Das volle Innovationspotenzial ist aber noch längst nicht ausgeschöpft. „Die Gründerkultur speziell in der Chemiebranche muss gefördert werden“, fordert deshalb Kurt Wagemann, Geschäftsführer der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie (Dechema) in Frankfurt. „Und es sind mehr Technologiezentren nötig, um von der Idee zur Umsetzung zu kommen“, ist Robert Schlögl vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft überzeugt. Dann könnte eine Chemie ohne Erdöl vielleicht schon bald Realität werden.

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