Die Hochdekorierte
Die Ingenieurin Britta Nestler erhielt den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis – nach einer unfreiwilligen Warteschleife.
Wer es in der Welt der Wissenschaft zu etwas bringt, erhält eine Auszeichnung. Die Anzahl möglicher Ehrentitel ist lang: Von A wie Alfried-Krupp-Wissenschaftspreis über D wie Deutscher Zukunftspreis, H wie Helene-Lange-Preis bis Z wie Zittelmedaille.
Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis wird seit 1986 jährlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehen. Pro Jahr können bis zu zehn Preise mit einer Preissumme von jeweils 2,5 Mio. € verliehen werden. Bislang wurden 348 Leibniz-Preise vergeben, davon gingen 115 in die Naturwissenschaften, 101 in die Lebenswissenschaften, 79 in die Geistes- und Sozialwissenschaften sowie 53 in die Ingenieurwissenschaften.
Zwei Ingenieure erhielten in diesem Jahr den Preis. Neben Britta Nestler wurde der Verfahrenstechniker Lutz Mädler (45) von der Universität Bremen ausgezeichnet. Er entwickelte eine Technik für die Synthese innovativer und komplexer Nanopartikel-Materialien, die heute für Lacke, Textilien, Zahnfüllungen, Gassensoren und als Katalysatoren angewendet werden.
Viele Preise wetteifern auf Champions-League-Niveau, einer spielt in seiner eigenen Liga: Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis gilt als wichtigster Forschungsförderpreis hierzulande. Auf seiner illustren Liste tauchen der Philosoph Jürgen Habermas, die Nobelpreisträger Christiane Nüsslein-Volhard und Stefan W. Hell sowie der Maschinenbauer und Präsident der Leibniz-Gemeinschaft Matthias Kleiner auf.
In diesem Jahr ging der Preis an zehn Wissenschaftler, drei Frauen und sieben Männer, die Ehrung erfolgte im März. Auf den Fotos, auf denen sich Bundesforschungsministerin Johanna Wanka im erlauchten Kreis der Spitzenforscher zeigt, sucht man eine Preisträgerin vergebens. Weil sie damals nicht geehrt wurde. Der Materialwissenschaftlerin Britta Nestler wurde der Preis zunächst vorenthalten. Anonyme Hinweise hatten die Leiterin des Instituts für Angewandte Materialien am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) des „wissenschaftlichen Fehlverhaltens“ bezichtigt.
Das ist nun Schnee von gestern, die Vorwürfe sind entkräftet, der Preis in den Händen der Ingenieurin. Kleine Narben bleiben. „Ein wenig Ärger schwingt immer noch nach“, sagt Britta Nestler. „Die Freude überwiegt aber, schließlich wurde mein Lebenswerk ausgezeichnet. Wäre es anders, hätte derjenige, der meinen Ruf schädigen wollte, sein Ziel erreicht.“ Über Details möchte die 45-jährige Professorin nicht reden. Aufgrund des sehr allgemeinen und grundlegenden Charakters der Vorwürfe könnte die Kenntnis Nachahmer zu ähnlichen Kleinkriegen ermuntern.
Jetzt ist erst einmal Genießen angesagt. Was zählt, ist die Laudatio der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die gebürtige Aachenerin habe mit ihren „international anerkannten Forschungsarbeiten in der computergestützten Materialforschung zur Entwicklung neuer Materialmodelle mit multiskaligen und multiphysikalischen Ansätzen beigetragen … Mit ihrer kreativen Anwendung und Weiterentwicklung der Phasenfeldmethode hat Nestler herausragende grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse erzielen können, die auch große praktische Relevanz haben. Ihre Simulationsrechnungen helfen etwa bei der Vorhersage der Rissausbreitung in Konstruktionswerkstoffen wie Bremsscheiben und ermöglichen so, deren Lebensdauer zu verlängern“.
Mit dem Preisgeld in Höhe von 2,5 Mio. € will Britta Nestler das Personal ihrer Forschergruppe erweitern. Mit dem vergrößerten Team will sie zu neuen wissenschaftlichen Ufern aufbrechen. „Das Geld ist nicht an bestimmte Projekte gebunden, was uns großen kreativen Spielraum bietet.“ Basis bildet weiterhin die Erforschung mechanischer Belastungsgrößen von Werkstoffen, Ziel ist deren Optimierung auf allen denkbaren Ebenen. Die Liste der Profiteure wäre ellenlang und reichte von der Automobilindustrie über die Wasserwirtschaft bis zur Medizin.
Neugierde und Begeisterung, zumindest einige der schier unendlichen Naturphänomene zu ergründen, treiben die Materialpionierin seit zwei Jahrzehnten voran. „Ich habe Freude am Forschen, habe nie verbissen auf ein Ziel hingearbeitet, sondern Karriere und Herausforderungen auf mich zukommen lassen.“ Das war im Studium der Mathematik und Physik genauso wie später als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Access-Institut und am Gießerei-Institut der RWTH Aachen. Talent, harte Arbeit und die günstigen Gene kommen hinzu. Die Wissenschaftlerin ist erblich vorbelastet, Mutter und Vater arbeiteten in chemietechnischen Berufen.
Ginge es nach Britta Nestler, treten ihre vier Kinder eines Tages in die mütterlichen Fußstapfen. „Jetzt schon, in der Grundschule, versuche ich sie für Mathematik zu begeistern. Sie sollen früh erfahren, wie nützlich mathematisches Wissen im Alltag ist.“ Spätestens, wenn sie den Kinderschuhen entwachsen sind, würden sie das Fach zu schätzen wissen. Schließlich hätten naturwissenschaftliche und mathematische Disziplinen einen enorm nachhaltigen Wert. „Man kann mit ihnen auch beruflich glücklich werden. In manchen anderen Fächern verebbt das Interesse schnell, weil es auf Dauer an Möglichkeiten, Anspruch und Herausforderungen mangelt.“
Setzt sich der Wunsch der Mutter durch, sorgt Familie Nestler womöglich für ein Novum in der Geschichte des Leibniz-Preises. Vielleicht sagt sich ja der Nachwuchs: „Was Mama kann, schaffe ich auch!“ An den Genen sollte es nicht scheitern.