Haltbarkeit und Sicherheit verbessern 01. Jul 2020 Von Peter Kellerhoff/TU Wien Lesezeit: ca. 3 Minuten

Supercomputer entschlüsseln Materialverschleiß auf Atomebene

Revolutionäre neue Methoden für die Materialwissenschaft: Umfangreiche Computersimulationen erlauben an der TU Wien erstmals einen genauen Blick auf Verschleiß und Reibung.


Foto: panthermedia.net/valery

Verschleiß und Reibung sind ganz entscheidende Themen für viele Industriebereiche: Was passiert, wenn eine Oberfläche über eine andere gleitet? Mit welchen Materialveränderungen muss man dabei rechnen? Was bedeutet das für die Haltbarkeit und Sicherheit von Maschinen, Motoren oder Bremsen? Egal, ob Zahnrad, Walzlager oder auch ein Hüftgelenk: Verschleiß lässt sich nicht vermeiden. Überall, wo Materialien in direkten Kontakt geraten und wo Druck und Reibung auftreten, kommt es irgendwann zu Materialveränderungen und Verschleiß.

Ganz neues Untersuchungsverfahren

Was dabei auf atomarer Ebene passiert, lässt sich nicht direkt beobachten. Nun steht dafür allerdings ein neues zusätzliches wissenschaftliches Werkzeug zur Verfügung: Aufwendige Computersimulationen werden nun erstmals so leistungsfähig, dass man Verschleiß und Reibung realer Werkstoffe auf atomarer Skala simulieren kann. Dass diese neue Forschungsrichtung nun verlässliche Ergebnisse liefert, beweist das Tribologie-Team an der TU Wien, geleitet von Carsten Gachot, Professor vom Institut für Konstruktionswissenschaften und Produktentwicklung. Das Verhalten von Oberflächen aus Kupfer und Nickel konnte mit großen Hochleistungsrechnern simuliert werden. Die Ergebnisse stimmen verblüffend genau mit Bildern aus dem Elektronenmikroskop überein – liefern aber auch wertvolle Zusatzinformation.

Mikroskopische Veränderungen beobachten

Mit freiem Auge sieht es nicht besonders spektakulär aus, wenn zwei Oberflächen aneinander gleiten. Doch auf mikroskopischer Ebene laufen dabei hoch komplizierte Vorgänge ab: „Metalle, wie man sie in der Technik verwendet, haben eine spezielle Mikrostruktur“, erklärt Stefan Eder von der TU Wien. „Sie bestehen aus kleinen Körnchen – mit einem Durchmesser in der Größenordnung von Mikrometern oder noch kleiner.“

Wenn nun ein Metall unter großer Scherbelastung über das andere gleitet, dann geraten die Körnchen der beiden Materialien aneinander: Die Körnchen können dabei gedreht, verformt oder verschoben werden, sie können in kleinere Körnchen zerteilt werden oder durch erhöhte Temperatur oder mechanische Einwirkung wachsen. All diese Prozesse, die auf mikroskopischer Skala ablaufen, bestimmen letztlich das Verhalten des Materials auf großer Skala – und damit entscheiden sie auch über die Lebensdauer einer Maschine, wie viel Energie in einem Motor durch Reibung verloren geht oder wie gut eine Bremse funktioniert, in der eine möglichst hohe Reibkraft erwünscht ist.

Computersimulation und Experiment

„Das Ergebnis dieser mikroskopischen Prozesse kann man danach unter dem Elektronenmikroskop untersuchen“, sagt Eder. „Man erkennt, wie sich die Kornstruktur der Oberfläche verändert hat. Allerdings war es bisher nicht möglich, den Ablauf dieser Prozesse zu studieren und genau zu erklären, wodurch welche Effekte zu welchem Zeitpunkt verursacht werden.“

Diese Lücke schließen nun große Molekulardynamiksimulationen, die das Tribologie-Team der TU Wien in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzzentrum für Tribologie (AC²T) im Technologie- und Forschungszentrum Wiener Neustadt (TFZ) und mit dem Imperial College in London entwickelt hat: Atom für Atom werden die Oberflächen am Computer simuliert. Je größer das simulierte Materialstück und je länger der simulierte Zeitabschnitt, umso mehr Computerleistung wird benötigt. „Wir simulieren Abschnitte mit einer Seitenlänge von bis zu 85 nm über einige Nanosekunden hinweg“, erläutert Eder. Das klingt nicht viel, ist aber bemerkenswert: Selbst der Vienna Scientific Cluster 4, Österreichs größter Supercomputer, ist mit solchen Aufgaben mitunter monatelang beschäftigt.

Das Testmuster

Das Team untersuchte den Verschleiß einer Legierung aus Kupfer und Nickel – und zwar bei unterschiedlichen Mischungsverhältnissen der beiden Metalle und bei unterschiedlichen mechanischen Belastungen. „Unsere Computersimulationen ergaben genau die Vielfalt an Prozessen, an Kornveränderungen und Verschleißeffekten, wie man sie aus Experimenten grundsätzlich bereits kennt“, so Eder. „Wir können damit Bilder produzieren, die genau den Aufnahmen aus dem Elektronenmikroskop entsprechen. Allerdings hat unsere Methode einen entscheidenden Vorteil: Wir können den Prozess danach am Computer im Detail analysieren. Wir wissen, welches Atom zu welchem Zeitpunkt seinen Platz gewechselt hat und was mit welchem Körnchen in welcher Phase des Prozesses genau passiert ist.“

Verschleiß verstehen – Industrieprozesse optimieren

In der Industrie stoßen die neuen Methoden bereits auf großes Interesse. „Schon seit Jahren wird darüber diskutiert, dass die Tribologie von verlässlichen Computersimulationen profitieren könnte. Nun haben wir ein Stadium erreicht, in dem die Qualität der Simulationen und die verfügbare Rechenleistung so groß sind, dass wir dadurch spannende Fragen beantworten könnten, die auf andere Weise gar nicht zugänglich wären“, sagt Carsten Gachot. So kann das Tribologie-Team genau angeben, welche Materialparameter welche Verschleißeffekte mit sich bringen. Abhängig von der Art der Belastung, der Temperatur oder anderen Größen können unterschiedliche Metalllegierungen die beste Lösung sein. „Niemand kann im Experiment alle Varianten durchprobieren“, sagt Gachot. „Mit Computerunterstützung hat nun für die Tribologie ein ganz neues, spannendes Kapitel begonnen.“ So möchte man in Zukunft auch industrielle Prozesse auf atomarer Ebene analysieren, verstehen und verbessern.

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