Armut birgt ein großes Risiko für die Demokratie
Wer aufgrund wirtschaftlicher Nöte nur bedingt oder gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, fehlt das Vertrauen in die Demokratie, bestätigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Einkommen in Deutschland sind heute sehr ungleich verteilt, wenn man die Entwicklung seit Ende der 1990er-Jahre vergleicht. Das hat erhebliche gesellschaftliche Folgen, wie der Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt. „Dauerhaft Arme müssen etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie neue Kleidung oder Schuhe verzichten, sie können seltener angemessen heizen. Und sie machen sich zudem deutlich häufiger Sorgen um ihre Gesundheit und sind mit ihrem Leben unzufriedener“, heißt es im Bericht. Auch das Gefühl, anerkannt und wertgeschätzt zu werden und das Vertrauen in demokratische und staatliche Institutionen hängen laut Studie stark mit dem Einkommen zusammen.
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Mit materiellen Einschränkungen und dem Gefühl geringer Anerkennung gehe bei vielen Betroffenen eine erhebliche Distanz zu zentralen staatlichen und politischen Institutionen einher: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politikerinnen und Politiker. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.
Stiftung fordert stärkeres Engagement der Politik
„Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie“, ordnen Jan Brülle und Dorothee Spannagel vom WSI ihre Befunde ein. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI, fordert: „Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut und Ungleichheit ist ein wesentlicher Ansatz, um die Gesellschaft zusammen und funktionsfähig zu halten, gerade in Zeiten großer Veränderungen und der Herausforderung durch Populisten.“
Laut Bericht habe speziell die Einkommensarmut „eindeutig“ zugenommen. Als arm definieren die WSI-Fachleute gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 % des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt.
Schon in den 2010er-Jahren sei die Armutsquote mit gelegentlichen jährlichen Schwankungen im Trend spürbar angewachsen. Die Entwicklung hat sich fortgesetzt, zeigt der Verteilungsbericht: Im Jahr 2022 lebten 16,7 % der Menschen in Deutschland in Armut, 10,1 % sogar in großer Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,5 % bzw. 7,7 %. Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind Arbeitslose, Minijobbende, Ostdeutsche, Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Singles und Menschen, deren Schulabschluss maximal einem Hauptschulabschluss entspricht.
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Parallel schwankte der Anteil der Menschen, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens zur Verfügung haben und damit in der Sozialstatistik als „einkommensreich“ gelten, zuletzt um einen Anteil von 8 % aller Haushalte – mit eher sinkender Tendenz.
Mehr als jeder bzw. jede Dritte dauerhaft Arme macht sich große Sorgen um die eigene Gesundheit und nicht einmal 20 % geben an, sich in diesem Bereich keine Sorgen zu machen.