Digitaler Zwilling von Babys für die Pharmaforschung
Wie sich ein Säugling entwickelt, könnte künftig schon kurz nach seiner Geburt errechnet werden. Digital Twins sollen helfen, Medikamente dann individuell zu dosieren.
Kaum auf der Welt, müssen Babys Höchstleistung erbringen. Der gesamte Stoffwechsel ist darauf ausgerichtet, dass sie ordentlich wachsen. Doch was tun, wenn sich das Wachstum verzögert? Wenn Nahrung nicht gut angenommen wird? Wenn womöglich Entwicklungsstörungen auftreten? Von außen lässt sich das anfangs schlecht beobachten.
Und die Prozesse, die sich in dem kleinen Körper abspielen, sind ohnehin bisher kaum verstanden. Hilfreich wäre da ein Digital Twin, mit dem sich die Vorgänge beim Verdauen von Nahrung und beim Aufbau von Körpermasse berechnen lassen.
Solche digitalen Zwillinge sind in der Produktion längst an der Tagesordnung, in der Medizin hingegen noch recht selten. Immerhin gibt es bereits einige virtuelle Kopien einzelner Organe bei Erwachsenen. Nun aber haben sich Forschende aus Heidelberg mit Fachleuten der University of Galway, Irland, zusammengetan, um erstmals auch die Entwicklung von Säuglingen zu simulieren.
Säuglinge haben einen völlig anderen Stoffwechsel als Erwachsene
Die Schwierigkeit dabei: Säuglinge sind keine kleinen Erwachsenen. So haben sie zum Beispiel im Verhältnis zu ihrer Körperoberfläche wesentlich weniger Masse als große Menschen. Um die Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, benötigen sie deshalb mehr Energie. Aber weil die Kleinen im ersten halben Jahr auch nicht zittern können, um warm zu bleiben, muss der Stoffwechsel diese Wärme liefern.
„Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit bestand deshalb darin, die Stoffwechselprozesse zu identifizieren und in mathematische Konzepte zu übersetzen, die im Modell angewendet werden können“, sagt Elaine Zaunseder vom Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) und der Universität Heidelberg. Sie ist Erstautorin der Studie, die sie gemeinsam mit Forschenden der School of Medicine an der University of Galway und des Universitätsklinikums Heidelberg entwickelte. Die Forschungsergebnisse publizierte das Team in der Fachzeitschrift „Cell Metabolism“.
Spurensuche im Stoffwechsel von Säuglingen
Was genau taten die Forschenden? Sie setzten Rechenmodelle für das auf, was sich im Körper von Neugeborenen abspielt, wenn sie essen, trinken und verdauen. Durch Einbeziehen von organspezifischen Parametern und Daten über den Energiebedarf von Gehirnentwicklung, Herzfunktion, Muskelaktivität und Wärmeregulierung konnten sie den Stoffwechsel von Neugeborenen und Kleinkindern über einen Zeitraum von sechs Monaten erfolgreich nachbilden.
Mehr als 80.000 Stoffwechselreaktion für verschiedene Organe und Zelltypen nahmen sie dafür unter die Lupe – sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Ergänzt wurde dies mit sogenannten pharmakokinetischen Modellen, die zeigen, wie Medikamente im Körper von Säuglingen umgesetzt werden. Das ist wichtig, um hochrechnen zu können, was eine angemessene Arzneimitteldosis für Säuglinge ist. Damit wäre eine personalisierte Therapie denkbar.
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Erster Schritt zu einem Digitalen Zwilling von Säuglingen
„Zur weiteren Verfeinerung des Modells haben wir reale Daten von Neugeborenen, einschließlich physiologischer Parameter, Geschlecht, Geburtsgewicht und Metabolitkonzentrationen, verwendet und die Modelle entsprechend personalisiert“, führt Zaunseder aus. Ihr Team hofft, dass sich dadurch sowohl die Diagnose als auch die Behandlung von Krankheiten in den ersten Lebenstagen eines Säuglings verbessern – vor allem bei seltenen Stoffwechselkrankheiten. Virtuelle Kopien von Säuglingen wären aber auch denkbar, um die Wirkung von Chemikalien und Medikamenten zu untersuchen, die beispielsweise über die Muttermilch auf Säuglinge übertragen werden.
Die Forschung ist ein erster Schritt zur Erstellung digitaler Zwillinge für Säuglinge. Die Bedeutung der Arbeit bestätigt auch Georg Friedrich Hoffmann, Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg und Ordinarius an der Medizinischen Fakultät Heidelberg: „Gerade bei seltenen angeborenen Stoffwechselerkrankungen könnten digitale Zwillinge die Versorgung von schwer, oft lebensbedrohlich erkrankten Kindern zukünftig wesentlich verbessern.“ Denn selbst an hoch spezialisierten Zentren, an denen seltene Erkrankungen idealerweise behandelt werden, gibt es oft wenig Erfahrung mit den Auswirkungen spezieller Therapien und Eingriffe auf den einzelnen Patienten. „Eine Simulation therapeutischer Maßnahmen mithilfe eines digitalen Zwillings würde wesentlich präzisere Behandlungsmöglichkeiten schaffen“, ist Hoffmann überzeugt.
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