Paralympics: Boxenstopp der etwas anderen Art
Am Mittwoch (28.08.2024) werden die Paralympics in Paris mit einer großen Feier eröffnet. Dort betreibt Orthopädietechnikspezialist Ottobock aus Duderstadt eine riesige Werkstatt.
Das nächste Rollstuhlrennen steht an, die Athletinnen fahren in die Arena. Hochkonzentriert bereiten sie sich in der Warm-up-Zone auf den Wettkampf vor, als plötzlich ein Rollstuhlfahrer einer der Sportlerinnen unbeabsichtigt hinten reinfährt. Deren Rennrollstuhl: ein Totalschaden! Danach jedenfalls sieht es aus. Die Felge ist gebrochen, der Rahmen verzogen. Und nur noch wenige Minuten bis zum Startschuss. Viel zu kurz für eine Reparatur. Training und Arbeit von Monaten im Bruchteil einer Sekunde zunichtegemacht.
„So habe ich es tatsächlich bei den Para-Leichtathletik-Weltmeisterschaften im vergangenen Jahr erlebt“, erzählt Julian Napp. Seit zwölf Jahren ist der gelernte Orthopädietechniker von Ottobock in Duderstadt bei Wettkämpfen für Menschen mit Behinderung dabei. Bei den Paralympics 2012 in London erstmals als Techniker vor Ort, schlüpfte er seitdem mehr und mehr in die Rolle der technischen Leitung.
Reparaturwerkstatt bei den Wettkämpfen
Heute ist Napp Orthopädietechnikermeister und zuständig für den reibungslosen Betrieb einer riesigen Reparaturwerkstatt während der Wettkämpfe. Seit „Seoul 1988“ ist Ottobock bei allen Paralympischen Sommer- und Winterspielen dabei und unterstützt die Athletinnen und Athleten vor Ort mit seinem kostenlosen technischen Service. So auch während der Paralympics in Paris, wenn vom 28. August bis 8. September 4400 Athleten und Athletinnen sich in 23 verschiedenen Sportarten messen.
Wobei für besagte Rollstuhlfahrerin damals der „Traum der Paralympics“ geplatzt zu sein schien. Doch der Boxenstopp in Napps Werkstatt hatte sich gelohnt. In Rekordzeit wurde das gebrochene Rad repariert, der Rahmen geschweißt; die Athletin kam gerade noch rechtzeitig an den Start.
164-köpfige Team aus 41 Nationen
Um für solchen Service gewappnet zu sein, betreibt das Medizintechnikunternehmen neben der Hauptwerkstatt mit rund 720 m2 noch 14 kleinere Servicestationen über die Sportstätten verteilt. Das 164-köpfige Team aus 41 Nationen, das 32 Sprachen spricht, ist in ein Zweischichtsystem eingeteilt. Maschinen und Hilfsmittel stehen zur Verfügung, über 20.000 Ersatzteile lagern hier. „Auch dieses Mal erwarten wir mehr als 2000 Reparaturen während der gesamten Spiele“, schätzt Napp. Ob Prothese, Rollstuhl, Brille oder Blindenstock – was auch immer kaputtgeht, kann zwischen 8 Uhr und 23 Uhr dort abgegeben werden.
Rund 70 % aller Reparaturen während der Spiele betreffen die Rollstühle, und zwar solche für den Wettkampf wie auch jene für den Alltag. Bei einem ist nur ein Reifen zu flicken, während ein anderer auf dem Flug vom Gepäckband gerutscht ist oder im Laderaum so zusammengedrückt wurde, sodass sich der Rahmen verzogen hat oder die Fußrasten verloren gingen. Egal von welchem Hersteller das Teil stammt – und davon gibt es Hunderte auf dem Markt: „Ein 26-Zoll-Reifen von Ottobock ist genauso groß wie bei jedem anderen Rollstuhlhersteller auch“, erklärt der Technical Director der Werkstatt und ist zuversichtlich, das Teil wieder instand setzen zu können.
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Andere Reparaturen sind da schon kniffliger, wenn etwa eine Orthese oder ein Prothesenfuß wegen Überlastung gebrochen oder ein Liner, also die Verbindung zwischen Prothese und Stumpf, gerissen ist.
Denn die meisten Hilfsmitteln sind individuell auf die betroffene Person und für die jeweilige Sportart gefertigt, sie können selbst die Fachleute aus Duderstadt im Paralympischen Dorf schon mal herausfordern.
Direkt in den Sportstätten befinden sich zudem kleinere Werkstätten, etwa mit der Möglichkeit zum Schweißen bei den Basketballfeldern. Dort rappelt es während der Spiele regelmäßig, wenn im Eifer des Gefechts zwei oder mehrere Rollstühle gegeneinanderprallen. Wenn bei einem Crash im ersten Viertel ein Rolli-Rahmen bricht, muss schnell geschweißt werden, damit der Sportler wieder ins Spielgeschehen eingreifen kann. Ähnliches gilt für Tennis. „Normalerweise haben wir 10 min, um das Problem zu lösen“, sagt Napp. Das ist nicht viel.
Hochmoderne Technik
Technisch ausgerüstet ist die Hauptwerkstatt auf dem allerbesten Stand. Bohr- und Schleifmaschinen, Infrarotwärmeöfen, 3D-Scanner und 3D-Drucker helfen vor allem bei Reparaturen in Prothetik und Orthetik. Nach einem Ermüdungsbruch eines Prothesenschafts hilft ein Scan, um die Form zu erfassen. „Den können wir digital bearbeiten, per 3D-Druck ein Modell erzeugen und daraus eine neue Prothese fertigen“, sagt der Werkstattleiter. Und zwar zügig. Anderes Beispiel: Passt eine Prothese nicht, kann das Modell über ein Scan-Programm von Ottobock so lange modifiziert werden, bis das Teil richtig sitzt. Früher war ein klassischer Gipsabdruck nötig, an dem ein Kollege den ganzen Tag modelliert hat, um den Schaft zu fertigen. Jetzt übernimmt das alles die Technik. Blitzschnell!
Zum Werkstatt-Team gehören Orthopädietechniker für Prothetik und Orthetik, Logistiker fürs Warenlager, Rehatechniker für die Rollstühle, Rezeptionisten und Physiotherapeuten sowie Bandagisten, die die Näharbeiten übernehmen. Außerdem Schweißer und Elektriker, IT-Spezialisten sowie Ingenieure aus der Entwicklung in Duderstadt. „Die schauen ziemlich genau hin, was wann warum kaputtgeht, um die Produkte in Zukunft noch besser zu machen.“ Und sie feilen weiter an Programmen für die digitale Fertigung, um künftig Bauteile schneller per 3D-Drucker herzustellen.
Maßgeschneiderte Profisportprothesen
Jede Profisportprothese ist übrigens individuell abgestimmt auf die Maße der Person, die sie trägt, aber auch auf den Grad der Beanspruchung während der Aktivität. Die Steifigkeit einer Carbonfeder für einen Sprinter – und deren biomechanischer Aufbau – wird deshalb regelmäßig an Trainingsphase und Leistungsstand angepasst. Anders beim Rollstuhl: Hier kommt es auf die richtige Sitzhöhe und -breite an sowie auf eine jeweils spezifische Sitzbefestigung. Dafür fertigt Ottobock am Standort Bad Oeynhausen Sportrollstühle ganz individuell für jeden Sportler und jede Sportart.
Trotz vieler Neuerungen sehen die meisten Produkte heute noch so aus wie vor 20 Jahren. Dennoch hat es in jüngster Vergangenheit einen erheblichen Leistungsschub im Behindertensport gegeben. Die Zeiten wurden besser, die Weiten im Sprung größer. „Das ist aber weniger eine Frage der Technik oder Hilfsmittel. Ich führe das eher darauf zurück, dass die Sportler professioneller geworden sind“, meint Napp.
Die Leistung bringt der Mensch
Lange Zeit konnten sich Parasportler meist nur semiprofessionell auf Wettbewerbe vorbereiten, weil sie parallel dazu arbeiten mussten. Mit guter Sportförderung sieht das heute ganz anders aus.
Beispiel Para-Sprinter Johannes Floors: „Der trainiert sieben-, achtmal die Woche und bereitet sich mit Ernährungsprogramm und Physiotherapie optimal auf die Spiele vor“, weiß der Orthopädietechniker.
Die Leistung erzielt also immer noch der Mensch, aber er braucht dafür auch gut eingestellte Produkte. Napp wagt einen Vergleich: „Wenn man mit einem Mountainbike an der Tour de France teilnehmen will, wird man damit wahrscheinlich auch nicht weit kommen, egal wie gut man ist.“ Dafür braucht es halt ein Rennrad.
Bronzemedaille auch dank Ottobock geholt
Dann erzählt Napp noch ein wenig aus dem Nähkästchen anlässlich der Paralympischen Winterspiele. Ein Sportler hatte sich im Vorfeld vermessen lassen und einen neuen Skistuhl bestellt. Weil Zoll und Lieferung so lange dauerten, konnte er das Gerät erst vor Ort auspacken. Und musste feststellen, dass die Maße nicht richtig übernommen worden waren. Der Stuhl war schlicht so niedrig gebaut, dass seine Füße während der Abfahrt im Schnee schleiften.
„Da konnten unsere Schweißer und Rollstuhltechniker aus Königsee und Bad Oeynhausen innerhalb von anderthalb Tagen einen komplett neuen Stuhl zusammenbauen, gerade noch rechtzeitig für den Wettkampf“, erzählt Julian Napp. Der Sportler hat sogar noch die Bronzemedaille geholt; und so hatte auch das Team von Ottobock noch Anteil an diesem Erfolg.