Neurostimulation: Schrittmacher als letzte Rettung aus der Schmerzspirale
Rund 70 % der Deutschen leiden an Rückenschmerzen - manche monatelang. Oft hilft auch eine OP nicht. Die Neurostimulation kann Linderung verschaffen.
Schmerzsignale gelangen von den Nervenenden über das Rückenmark ins Gehirn, wo der Schmerz als solcher überhaupt erst wahrgenommen wird. Dauern Schmerzen länger als sechs Monate an, so werden sie als chronisch bezeichnet. Dann verändert sich auch die Schmerzwahrnehmung.
Ausreichend Krankengymnastik sowie die Gabe von Schmerzmedikamenten lindern die Beschwerden normalerweise. Verschwinden sie dennoch nicht, könnte ein sogenannter Schmerzschrittmacher helfen. Das Prinzip dahinter: Eine Rückenmarkstimulation hemmt die Weiterleitung der Signale zum Gehirn, der Schmerz wird dann nicht mehr wahrgenommen.
Neurostimulation oder Neuromodulation bringt Schmerzreduktion um mindestens 50 %
Dass sich mit Neurostimulation oder Neuromodulation bei den meisten Betroffenen eine nachhaltige Schmerzreduktion um mindestens 50 % erzielen lässt, ist das Fazit einer Studie, die Forscher um Krishna Kumar vom Regina General Hospital im kanadischen Regina durchgeführt hatten.
Über drei Viertel der Patienten berichten zudem, dass sich ihre Lebensqualität nach der Therapie wieder stark verbessert habe. Weitere Ergebnisse der Studie, an der Wissenschaftler aus aller Welt beteiligt waren, wurden in der Fachzeitschrift „European Journal of Pain“ veröffentlicht.
Aktivität der Nervenzellen mithilfe exakt einstellbarer elektrischer Impulse beeinflussen
„Erst wenn alle anderen Schmerztherapien ausgeschöpft sind, kommt die Neuromodulation zum Einsatz“, schränkt Dirk Rasche, Oberarzt am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) auf dem Campus Lübeck, mit Blick auf die derzeitige Praxis ein. Mit Neuromodulation meint der Neurochirurg Ansätze, die die Aktivität der Nervenzellen mithilfe genau einstellbarer elektrischer Impulse beeinflussen.
Dafür werden in einer minimal-invasiven Operation dünne Elektroden bis zur Rückenmarkhaut geführt, wo sie schwache Impulse ans Rückenmark abgeben. Diese elektrischen Reize hemmen die Weiterleitung von Schmerzsignalen an das Gehirn.
Aufbau des Systems zur Neurostimulation ähnelt dem eines Herzschrittmachers
Solche Systeme zur Neurostimulation ähneln in Form und Aufbau einem Herzschrittmacher, weshalb man sie häufig als Schmerzschrittmacher bezeichnet. Sie bestehen aus zwei Teilen: einem batteriebetriebenen, elektronischen Impulsgeber und mindestens einer damit verbundenen Elektrode.
Der Impulsgeber wird meist in eine Hauttasche im Bauchbereich implantiert. Der flexible Draht der Elektrode wird auf der Rückenmarkshaut platziert und beeinflusst durch elektrische Reize die Weiterleitung von Schmerzimpulsen an das Gehirn und deren Wahrnehmung. Dies führt zu einem als angenehm empfundenen leichten Kribbeln in der schmerzhaften Region und damit zur Überlagerung und Reduktion der Schmerzwahrnehmung.
Bisher keine Nebenwirkungen der Neurostimulation bekannt
Zum Gesamtsystem gehören zwei unterschiedliche externe Programmiergeräte: Mit dem einen kann der Patient die Feinabstimmung seiner Therapie vornehmen, mit dem anderen der Arzt die vorgenommenen Einstellungen abrufen und ändern. Je nach Bedarf lässt sich die Stimulation verstärken oder verringern, um die bestmögliche Schmerzlinderung zu erzielen.
Die Wirksamkeit und Sicherheit des Systems wird zunächst mit einem externen Stimulator in einer einwöchigen Testphase ermittelt. Erst wenn eine deutliche Schmerzlinderung zu verzeichnen ist und der Patient auf Medikamente verzichten kann, folgt in einer zweiten Operation unter Vollnarkose die Implantation des Impulsgebers unter die Bauchdecke.
„Es gibt eine Handvoll Anbieter am Markt, deren Produkte eingesetzt werden und mit denen wir arbeiten können“, sagt Rasche. Dennoch bleibe viel Potenzial für Weiterentwicklungen – etwa was die Abmessungen betrifft.
„Heute implantieren wir Neurostimulatoren von der Größe etwa einer Streichholzschachtel, was gerade bei schlanken Patienten störend sein kann“, berichtet der Neurochirurg. „Sinnvoll wäre es sicherlich, kleinere Implantate in der Größe eines USB-Sticks und drahtlose Systeme zu verwenden.“
Schmerzstimulatoren gibt es bereits seit über 30 Jahren. Seitdem wurden sie ständig weiter entwickelt. Moderne Geräte lassen sich durch die Haut von außen aufladen; der Akku hält oft bis zu zehn Jahre. Das sind wesentliche Vorteile, denn die nicht wiederaufladbaren Impulsgeber müssen bei Batterieerschöpfung nach zwei bis fünf Jahren in einem erneuten kleinen Eingriff ausgewechselt werden.
Nebenwirkungen der Neurostimulation sind bislang nicht bekannt. „Allerdings bildet sich im Bereich der Implantate Narbengewebe und durch die Bewegungen des Patienten kann es außerdem dazu kommen, dass Kabel verrutschen oder brechen“, gibt Rasche zu bedenken.
Die Studie zeigt auch, dass Neurostimulation wesentlich besser helfen kann als eine ausschließlich konventionelle Schmerztherapie. Dies gilt besonders für Patienten, die nach einer Bandscheiben- oder Wirbelsäulenoperation mit chronischen neuropathischen Rücken- und Beinschmerzen zu kämpfen haben.
„Die Ergebnisse der Studie sprechen für eine stärkere Berücksichtigung der Neurostimulation in der Schmerztherapie“, erläutert Volker Tronnier, Direktor der Klinik für Neurochirurgie am UKSH, Campus Lübeck.
Kandidaten für eine solche Stimulationsbehandlung seien vor allem Patienten, die an unerträglichen Schmerzen nach unterschiedlichen Nervenschädigungen leiden: etwa nach einer Bandscheiben-OP, aber auch aufgrund von Durchblutungsstörungen. „Schmerzen, die durch Abbau der Knochensubstanz in der Wirbelsäule entstehen, z. B. bei Osteoporose, können mit dieser Methode jedoch nicht beeinflusst werden“, räumt Klinikchef Tronnier ein.
Anfang 2013 wurde in der Neurochirurgie Lübeck einem Patienten weltweit erstmals ein System zur Rückenmarkstimulation implantiert, das sogar offiziell MRT-tauglich ist, also eine Untersuchung im Magnetresonanztomographen unbeschadet übersteht. Seitdem verwendet Rasche nur noch diese MRT-konditionalen Geräte.
„Die neue Technik kombiniert den neuen Neurostimulator mit einer speziell isolierten Stimulationselektrode und macht das Verfahren auf diese Weise MRT-konditional“, freut sich Rasche. Das sei deshalb so wichtig, weil ein Scan im Magnetresonanztomographen in vielen medizinischen Fachrichtungen mittlerweile als Standarduntersuchungsmethode gilt.