Technik, die bewegt
Angespannt stehen Andre van Rüschen und Mark Daniel an der Startlinie des Hindernisparcours. Daniel stützt sich schwer atmend auf seine Krücken, die Beine hat er zur besseren Stabilität in Schrittstellung gebracht, seine Oberarme zittern vor Anstrengung. Das Stehen fällt ihm sichtlich schwer, obwohl er noch nicht einmal losgelaufen ist. Van Rüschen auf Startbahn 2 steht völlig aufrecht, fast wirkt er entspannt. Doch jeden Moment werden sich die beiden einen packenden Wettkampf um die ganz alltäglichen Dinge liefern: Setzen, Gehen, Treppensteigen. Für die beiden Querschnittgelähmten ist das nur dank der Exoskelette möglich, die sie fest an Beinen und Hüfte umschlingen.
Alltag und Behinderung
In Deutschland lebten 2013 über 10 Mio. Menschen mit staatlich anerkannter Beeinträchtigung oder Behinderung.
7,5 Mio. Personen gelten als schwerbehindert, zwei Drittel davon leiden an körperlichen Einschränkungen.
58 % der Behinderten im erwerbsfähigen Alter sind auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt.
Beim Cybathlon traten am vergangenen Wochenende 66 Menschen mit körperlicher Behinderung an, um sich mit ihresgleichen und ihren technischen Assistenzsystemen zu messen. Der Wettkampf für Amputierte und Querschnittgelähmte wurde zum ersten Mal ausgetragen, um den „Einsatz von Technologien zu fördern, die etwa bei den Paralympics nicht zugelassen sind wie Motoren, Sensoren und Displays“, erklärt Initiator Robert Riener, Professor für Sensomotorische Systeme an der ETH Zürich. Sie sollen – und können – den Anwendern nicht unbedingt zu körperlichen Höchstleistungen verhelfen, wohl aber zur Bewältigung alltäglicher Hindernisse.
Der Parcours für die Exoskelettträger van Rüschen und Daniel etwa wartet mit Sitzgelegenheiten, Rampen, unebenen Flächen und Treppenstufen auf. Als der Countdown erklingt, beugt van Rüschen den Oberkörper leicht nach vorne, woraufhin die Metall-Orthese über batteriebetriebene Elektromotoren an Hüft-, Knie- und Fußgelenken seine gelähmten Beine bewegt. Schritt für Schritt geht es vorwärts, die Beine beugen sich im Gehmodus kaum, der 44-Jährige steht vollkommen stabil und er geht den Parcours forsch an. Dabei ist van Rüschen seit einem Autounfall 2002 Paraplegiker, er kann weder seine Beine ansteuern noch seinen Rumpf selbst tragen. Doch der Magdeburger trainiert seit vier Jahren in Exoskeletten von Rewalk – mittlerweile mit der sechsten Generation.
Beim vierten Hindernis aber bringt ihm all seine Erfahrung nichts. Vor ihm sind graue Filzmatten ausgelegt, die wie Steine aus einem imaginären Fluss ragen. Van Rüschen steuert auf sie zu, erwischt den ersten Stein, dann den zweiten. Der dritte aber liegt etwas weiter entfernt, der vierte folgt ganz nah. Van Rüschens Füße bewegen sich achtlos darüber hinweg, immer analog zur vorab eingestellten Schrittlänge. Er hat keine Chance. „Da wir eine medizinisch-technische Zulassung in der EU und den USA haben, müssen wir gewisse Vorgaben einhalten. So wollte die US-Zulassungsbehörde, dass nur der Physiotherapeut die benötigte Schrittlänge einstellen und gegebenenfalls ändern darf“, erklärt Andreas Reinauer, Produktmanager des israelischen Herstellers Rewalk Robotics.
Doch im Alltag gibt es größere Probleme. Sich stehend vorwärts bewegen ist schließlich nicht nur ein emotional bedingter Wunsch vieler Rückenmarksverletzter, sondern es fördert die Gesundheit. Wie jeder Schreibtischtäter früher oder später in Erfahrung bringt, ist der menschliche Körper nicht für ständiges Sitzen gemacht. „Selbst gelegentliches Stehen stärkt die Rumpfmuskulatur und das Herz-Kreislauf-System. Die Patienten haben zudem weniger Rückenschmerzen und müssen sich nicht mehr mit überlangen Stuhlzeiten und ständigen Blasenentzündungen plagen“, schildert Reinauer die eigentlichen Vorteile. Exoskelette könnten gar dazu beitragen, die Gefahr von Druckstellen zu mindern.
In der Schweizer Halle läuft der nächste Countdown. Hanno Voigt startet mit seinem Bike in die erste Qualifikationsrunde. Er wirkt konzentriert, seine Bewegungen sind geschmeidig. Gleichmäßig treiben seine Beine das umgebaute Liegedreirad an. Doch es ist nicht er, der die Kraft dafür aufbringt. Seine Beinmuskulatur reagiert bloß auf funktionelle elektrische Stimulation (FES). Und das nach 35 Jahren Lähmung.
Möglich macht das ein ausgeklügeltes System, das die Wissenschaftler Thomas Schauer und Constantin Wiesener von der TU Berlin entwickelten und gemeinsam mit dem deutschen Medizintechnikhersteller Hasomed auf ein handelsübliches Liegedreirad gesetzt haben. Wobei: „Original sind eigentlich nur noch Lenkung und Rahmen“, gibt Hasomed-Produktmanager Marko Epperlein zu. Ansonsten wurde das einstige Kinderrad komplett auseinandergenommen, die Pedale mit Spezialorthesen verlängert und der Sitz hochgelegt. Darunter befindet sich nun die Stimulationsbox, die Stromstöße synchron zu Voigts Bewegung auslöst. Stärke und Häufigkeit beeinflusst der Pilot manuell.
In den Manschetten verstecken sich Sensoren, die Position, Beschleunigung und Drehzahl erkennen. „Wir arbeiten mit Inertialsensoren an Ober- und Unterschenkeln und schließen von deren Position auf die Stellung der Pedale“, erklärt Schauer, der bereits vor 15 Jahren seine Dissertation zu dem Thema schrieb. Über Klebeelektroden werden die Muskeln für Kniestreckung und -beugung sowie die Hüftstreckung aktiviert. Und perfekt auf Voigts Muskelleistung abgestimmte Algorithmen sorgen dafür, dass die stimulierte Muskulatur nicht vorzeitig ermüdet.
Ein Selbstläufer war das aber nicht. Knapp zwei Jahre trainierte Voigt jeden Tag. Er beobachtete die Reaktion seiner Muskeln auf die Stimulation und gab wertvolle Tipps. Schließlich „wurden die Stimulationsparameter mit jedem Training angepasst und zunehmend genauer. Bis der perfekte Ablauf programmiert war, der Hanno vom Start bis zur Ziellinie trieb – mittels Impulsen, die immer dann einsetzten, wenn sie nötig waren und den Muskel ruhen ließen, wenn die Bewegung des Pedals maximal eingeleitet war“, erinnert sich Epperlein. So entstanden die perfekten Stimulationsintervalle, um Voigt 750 m Fahrrad fahren zu lassen.
Doch wie fühlt es sich an, wenn die eigenen Beine sich nach 34 Jahren plötzlich bewegen? „Ein tolles Gefühl“, sagt Voigt und seine schmalen Augen beginnen zu leuchten. Das Projekt habe ihn trotz all des intensiven Trainings – und ohne Aussicht auf körperliche Effekte – gereizt: „Zum einen weckte es in mir als Techniker den männlichen Spieltrieb, dann wollte ich die Technologie ausloten und natürlich war ich neugierig, was sie mit mir als Querschnittgelähmtem macht“, führt Voigt aus. Und was hat sie mit ihm gemacht? „Die motorische Einschränkung wird durch das technische Hilfsmittel ein Stück weit ausgeglichen“, sagt Voigt. Die sensorische Behinderung allerdings bleibt.
Auch für diese Einsichten rief Riener den Cybathlon ins Leben. „Assistenzsysteme müssen nicht nur funktionieren, sondern auch zumutbar sein und akzeptiert werden“, so der Initiator. Und auf dem Cybathlon sollten renommierte Hersteller ebenso wie Teams aus Studenten und Doktoranden zeigen, welche Möglichkeiten Technologien für Menschen mit Behinderungen bieten und wo es weiter Entwicklungsbedarf gibt. Denn diese Technik ist mehr als Spielerei – wenngleich, zugegeben, einige Systeme an diesem Tag eher an Science Fiction erinnern als an Alltagshilfen. Die Vision der meisten Teilnehmer, Teammitglieder und Zuschauer dürfte die rasche Integration jener Systeme in den Alltag querschnittgelähmter und amputierter Menschen sein.
Die meisten Systeme sind davon noch weit entfernt. Einige gezeigte Produkte sind nichts weiter als Prototypen, andere dagegen werden bereits in ähnlicher Form in der Rehabilitation eingesetzt. Und wenige Systeme wie das Exoskelett von Rewalk werden als medizinisch-technisches Hilfsmittel für Rückenmarksverletzte bereits von Ärzten verschrieben. „Wenngleich die Finanzierung noch immer ein steiniger Weg ist“, bedauert Reinauer. Entsprechend gibt es weltweit gerade einmal 100 Anwender, die die 70 000 € teure motorisierte Metall-Orthese privat nutzen, weitere 250 Systeme sind in Rehakliniken im Einsatz.
Doch mit der Weiterentwicklung der Produkte kann sich das schnell ändern. Daniels Exoskelett etwa wurde von einem Hochschulteam des Florida Instituts für Mensch-Maschine-Kognition (IHMC) entwickelt und ist im Status eines Prototypen. Das Finale der Exoskelettträger zeigte aber, welches Potenzial in der Entwicklung steckt.
Ihre Bahnen liegen dieses Mal direkt nebeneinander. Die Qualifikation hat gezeigt, dass sie das Rennen unter sich ausmachen dürften: Auf Bahn 4 steht van Rüschen, auf der 3 Daniel. Beide blicken konzentriert auf die Aufgaben, die vor ihnen liegen, ihr Stand wirkt sicher. Dann kommt der Countdown. Es folgen erste Schritte, das Hinsetzen, dann die Rampe. Van Rüschen kommt zuerst an, seine Beine bewegen sich auf der Ebene in weitgehend gestrecktem Zustand vorwärts, während Daniels gebeugt und wieder aufgesetzt werden. Das kostet Zeit. Die Rampe aber ist steil, van Rüschen kämpft. Bei jedem Schritt kommt er ein gutes Stück die Rampe hoch, doch beim Nachziehen des anderen Beines rutscht das Standbein jedes mal wieder ein Stück zurück. Daniel holt auf. Leicht vornübergebeugt betritt er die Rampe, sodass der Rucksack mit dem schweren Akku ihn nicht nach hinten ziehen kann. Doch auf der ebenen Fläche macht van Rüschen wieder Boden gut und schreitet knapp vor dem Amerikaner ins Ziel.
So gewinnt das einzige marktreife System im Exoskelett-Wettbewerb, dicht gefolgt vom Prototypen einer leistungsstarken Hochschulgruppe. Van Rüschen reckt die Arme in den Himmel, winkt mit den Krücken seiner Familie zu. Trotz der Anstrengung ist er sichtlich gerührt. Nun steht er ganz oben.