GESUNDHEIT 10. Jul 2019 Folker Lück, Elke von Rekowski Lesezeit: ca. 6 Minuten

Zeitgemäße Technik statt Plastikkärtchen

Moderne Lösungen zur Verwaltung der eigenen Gesundheitsdaten gibt es schon in anderen europäischen Ländern. In Deutschland besteht Digital Healthcare bislang nur aus einer Chipkarte. Doch das ändert sich gerade, wie Krankenkassen und Vernetzungsspezialisten unter Beweis stellen.

Digitalisierung kommt ins Rollen: Mit drei Apps haben Krankenkassen nun eigene Lösungen für die elektronische Patientenakte vorgelegt.
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Wenn die fiktive Ingeborg Langenscheidt zum Kardiologen geht, dann hat sie ihre gesamte Krankengeschichte inklusive aktueller Medikation direkt dabei. Ein Blick in die elektronische Patientenakte zeigt, dass die Patientin bereits ein Bluthochdruck-Medikament von ihrem Hausarzt verschrieben bekommt. Die sensorisch erfassten EKG-Daten werden automatisch in die Akte übertragen. Gemeinsam sprechen Patientin, Haus- und Facharzt per Telemedizinkonferenz über die weitere Therapie.

Begriffe rund um die digitale Gesundheit

Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) halten Patienten in Deutschland bereits in ihren Händen. Auf dieser finden sich die Stammdaten des Versicherten, also Name, Geburtsdatum, Anschrift, Geschlecht sowie Angaben zur Krankenversicherung. Ein Lichtbild auf der Vorderseite dient der Erschwerung von Missbrauch.

Die elektronische Patientenakte (ePA) soll Daten der Versicherten enthalten: zum Beispiel Arztbriefe, Notfalldaten und Daten über die Medikation. Das soll den Versicherten helfen, verschiedene Ärzte über ihre wichtigsten Gesundheitsdaten zu informieren. Bis Ende 2018 müssen laut E-Health-Gesetz die Voraussetzungen dafür geschaffen sein, dass die ePA in der Telematikinfrastruktur (TI) eingesetzt werden kann. Die Nutzung der ePA ist für die Patienten freiwillig.

Bei der Telematikinfrastruktur (TI) handelt es sich um eine Kombination aus zertifizierter Infrastruktur (VPN-Zugangsdienste) und Komponenten (Konnektoren, Kartenlesegeräte und Praxisausweise). Sie soll den zügigen und sicheren Austausch von Informationen im Gesundheitswesen sicherstellen. Die Anbindung von Ärzten, Krankenhäusern und anderen Akteuren des Gesundheitswesens ist verpflichtend und soll bis Anfang 2019 erfolgt sein.

Mithilfe des elektronischen Heilberufsausweises (HBA) weisen sich Ärzte oder Zahnärzte oder Psychotherapeuten aus. Zudem dienen die Ausweise als eine digitale Signatur, die schon heute für elektronische Arztbriefe oder Überweisungen zum Labor mittels digitaler Vordrucke benötigt wird.

Der elektronische Praxisausweis (SMC-B) hingegen dient der Authentifizierung von Praxis, Klinik oder Apotheke gegenüber den Diensten der TI. Damit können sich Praxen ausweisen und zum Beispiel Patientendaten auf der eGK auslesen. Der Ausweis ist der zentrale Baustein der TI, denn über ihn können die Praxen und Kliniken zudem via Konnektor eine Onlineverbindung zur TI herstellen.

Solche Szenarien sind hierzulande weitgehend Zukunftsmusik. Zwar wird seit fast zwei Jahrzehnten darüber diskutiert, wie das Gesundheitswesen mit digitalen Lösungen zu modernisieren sei. Doch trotz vorhandener Technik kommen Schlüsselprojekte wie elektronische Gesundheitskarte (eGK) und elektronische Patientenakte (s. Kasten re.) nur im Schneckentempo voran.

Die scheckkartengroße eGK sollte einst der Zugangsschlüssel zur detaillierten Patientenakte werden. Ihre für 2006 beschlossene flächendeckende Einführung aber scheiterte (s. Kasten li.). Bis heute gibt es nur das technisch längst überholte Plastikkärtchen, das lediglich die Versichertenstammdaten wie Name und Adresse sowie ein Lichtbild enthält. In den Augen vieler Gesundheitsexperten eine recht kümmerliche Ausbeute für eine Entwicklung, die immerhin ca. 1,8 Mrd. € verschlungen hat.

Die absurde Geschichte der Gesundheitskarte

2001: Als Folge des Lipobay-Skandals wird die Einführung einer elektronischen Gesundheitsakte diskutiert.

2003: Ein Gesetz beschließt die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zum 1. Januar 2006.

2005: Dafür wird die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) gegründet.

2006: Die Einführung der eGK zum 1. Januar 2006 scheitert.

2007: Der Deutsche Ärztetag lehnt die eGK ab und fordert mehr Datensicherheit und klare Aussagen über die Finanzierbarkeit.

2009: Die Einführung der eGK startet im Bezirk Nordrhein in NRW.

2010: Der Ärztetag fordert, das Projekt eGK „endgültig aufzugeben“. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler aber wünscht eine Karte mit „modernem Versichertenstammdatenmanagement und Notfalldaten“.

2011: Die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarten durch Krankenkassen beginnt. Die Karte enthält die gleichen Daten wie bisher sowie ein Lichtbild.

2013: Der Ärztetag bekräftigt seine Ablehnung. Die eGK sei nicht geeignet, „ eine moderne, sichere, patienten- und arztdienliche elektronische Kommunikation im Gesundheitswesen zu befördern“.

2014: 95 % der Versicherten besitzen eine eGK.

2016: Nach dem E-Health-Gesetz sollen Ärzte und Krankenhäuser ab Juli 2016 vernetzt werden, ab Mitte 2017 soll der Betrieb bundesweit starten.

2018: Nach mehrjährigen Verzögerungen werden für die sichere Kommunikation zwei Konnektoren der Anbieter CompuGroup und T-Systems zugelassen.

Ursprünglich war geplant, dass die eGK für die Versicherten drei Vorteile mitbringt: Zugriff auf Notfalldaten, Warnung vor gefährlicher Medikation und die Authentifizierung als Krankenkassenmitglied. In Funktion ist bislang nur die Authentifizierung. Über diesen technischen Dinosaurier schüttelt Markus Bönig nur den Kopf: „In einer globalisierten Welt ist das eine viel zu kurz gedachte Lösung mit der Technologie von vor 15 Jahren.“ Es gebe längst hervorragende Lösungen für Notfalldatensätze, die heute schon weltweit nutzbar seien, sagt der Geschäftsführer von Vitabook, einem der wenigen kassenunabhängigen Serviceprovider für eine Patientenakte.

Zwar soll die eGK demnächst auch einen Notfalldatensatz und Medikationsplan bieten. Für wesentlich mehr ist auf dem kleinen Kartenchip kein Platz. So stellt sich die Frage, wie dieses Kernstück für ein digitales Gesundheitswesen derart ins Hintertreffen geraten konnte. Hinter vorgehaltener Hand sagen Gesundheitsexperten, dass keiner der letzten Bundesgesundheitsminister den Mut hatte, sich mit der mächtigen Ärztelobby anzulegen.

Von 2007 bis 2013 lehnte der Deutsche Ärztetag die Einführung einer eGK ab. Stets wurden Sicherheitsaspekte dafür angeführt, doch ein mindestens ebenso wichtiger Punkt dürften Honorarinteressen gewesen sein. Unbestritten ist, dass die geplante Patientenakte den Heilberuflern mehr Arbeit abverlangt – die zu bezahlen der Staat aber wohl nicht gewillt ist. Aus dem Blickfeld gerät dabei, dass eine Patientenakte die Prävention verbessern und die Zahl der Fehl- und Doppelbehandlungen deutlich reduzieren könnte – was wiederum Kosten spart.

Will Deutschland nicht endgültig zum Entwicklungsland in Sachen Gesundheit absteigen, muss der aktuell zuständige Bundesminister Jens Spahn schnellstmöglich liefern. Das sehen auch die unter Kostendruck stehenden Krankenkassen so und haben derweil eigene Lösungen entwickelt, die per App aufs Smartphone kommen. Vorreiter war hier die Techniker Krankenkasse mit TK-Safe (s. Interview S. 22). Auch die AOK arbeitet an einer eigenen Lösung. Und mit Vivy kam zuletzt ein Projekt hinzu, hinter dem 14 gesetzliche und zwei private Krankenversicherungen stehen. Solche App-Lösungen wollen den Versicherten unterstützen, notwendige Daten bei jedem Arztbesuch immer griffbereit dabei zu haben: Notfalldaten wie Blutgruppe und Allergieangaben, aber auch Röntgen-, MRT- und CT-Aufnahmen oder den Medikamentenplan und Impfpass.

Von einer flächendeckend digitalisierten Medizin kann noch lange nicht die Rede sein, trotz solcher von den Versicherten bereits positiv aufgenommenen Initiativen der Krankenkassen. Noch nicht. „Wir erleben im Moment eine Gesundheitspolitik, die mit Tempo umsetzt, was sich zuvor lange Jahre verzögert hat“, sagt Mark Düsener, Leiter der Gesundheitssparte bei der Deutschen Telekom, die seit Kurzem eine Komplettlösung zur Anbindung der Praxen an die Telematikinfrastruktur (TI) anbietet.

Diese Telematikinfrastruktur ist ein Kernelement des digitalen Gesundheitswesens. Mit ihrer Hilfe sollen zunächst Vertragsärzte und Krankenhäuser und demnächst auch die Apotheken digital verbunden werden. Online können die einzelnen Akteure darüber miteinander kommunizieren: So schicken sie sich elektronische Arztbriefe oder helfen mit Ferndiagnosen, ohne dass der Patient bei jedem Arzt vorstellig werden muss.

Alle TI-Komponenten müssen zunächst von der Gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte) zertifiziert werden. Diese hat den gesetzlichen Auftrag, die Einführung, Pflege und Weiterentwicklung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und ihrer Infrastruktur voranzutreiben, zu koordinieren und die Interoperabilität der beteiligten Komponenten – Konnektor, VPN-Dienst, Terminal und Chipkarten – sicherzustellen.

Der Zugang zur TI erfolgt über sogenannte Konnektoren. Sie ähneln einem DSL-Router, müssen allerdings deutlich höhere Sicherheitsanforderungen erfüllen. Über den Konnektor wird eine VPN-Verbindung (Virtual Private Network) hergestellt, um die Kommunikation sicherer zu machen. Viel Wettbewerb gibt es mit nur zwei verfügbaren Konnektoren der CompuGroup und der Telekom zurzeit allerdings noch nicht. In Kürze sollen weitere Geräte von Secunet und der österreichischen Rise GmbH folgen, deren Zulassung durch die Gematik aber noch aussteht. Benötigt werden zudem spezielle Kartenterminals, um Anwendungen der eGK online nutzen zu können.

Aus Sicht der Patienten klappt zurzeit nur das Management der Versichertenstammdaten. Das ist nicht viel. Über die Kartenterminals können sich auch der Arzt und die Praxis authentifizieren. Dazu brauchen beide eigene Ausweise (HBA und SMC-B), die via Terminal Kontakt mit der Telematikinfrastruktur aufnehmen. Bundesweit Nummer eins war übrigens eine Hausarztpraxis im rheinischen Neuss, die sich Ende 2017 an die TI angeschlossen hatte. Inzwischen sind Tausende Praxen hinzugekommen. Das lässt hoffen.

Einen deutlichen Handlungsdruck spürt dennoch Michael Brockt, Salesmanager des mittelständischen Gesundheitsspezialisten Concat AG. An der Technik scheitere das Vorwärtskommen in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen aus seiner Sicht nicht: „Das Denken in den Köpfen muss sich ändern.“ Der technische Rollout sei in vollem Gange. Für 2019 seien die Anwendungen qualifizierte elektronische Signatur, Kommunikation mit Leistungserbringern und E-Medikationsplan (eMP) geplant.

„Seit 1. Oktober 2018 können sich Kliniken die Ausgaben für den Telematikanschluss erstatten lassen“, sagt Brockt. Bis Jahresende sollten die Komponenten zur Anbindung an die TI zumindest bestellt sein, sonst drohen den Ärzten Strafen in Form von Honorarkürzungen. Obwohl Bundesgesundheitsminister Spahn inzwischen etwas mehr Zeit eingeräumt hat. Nun soll die Anbindung bis Mitte nächsten Jahres erfolgt sein.

Vielleicht kann Deutschland mit derartigen Entwicklungen doch wieder Anschluss an die digitale Welt finden. Im jährlich erscheinenden „Digital Economy and Society Index“ der EU-Kommission belegt Deutschland bei „E-Health“ nur Platz 21 von 28. Auf den ersten Plätzen finden sich Finnland, Estland und Dänemark. Dort gelingt es, trotz Digitalinvestitionen den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) unter dem deutschen Wert zu halten.

Estland könnte also ein Vorbild sein. Der nördlichste der drei baltischen Staaten führte bereits 2008 flächendeckend eine elektronische Gesundheitsakte ein. Sie enthält alle medizinischen Daten eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Befunde, Röntgenbilder und Medikationsplan können vom Patienten und von behandelnden Ärzten eingesehen werden.

„Telemedizin wird bei uns nun als einer der ersten Dienste die Telematikinfrastruktur nutzen“, sagt Düsener von der Telekom. Andere Mehrwertanwendungen würden folgen. „Es bieten sich für Therapie und Versorgung künftig Möglichkeiten, an die wir heute noch gar nicht denken.“ Ganz ist der Glaube an fortschrittliche Technik also auch in Deutschland noch nicht verloren.

 

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