Bereit für die nächste Generation der virtuellen Realität
Räumlich wahrnehmbare, digitale Welten entwachsen zunehmend den Kinderschuhen – das gilt für Soft- und Hardware.
Das X in X-Reality steht als Platzhalter für unterschiedliche Ansätze, die Realität mit digitalen Inhalten anzureichern oder ganz zu ersetzen. Augmented Reality (AR) ergänzt die reale Welt lediglich um zusätzliche digitale Objekte. Eine virtuelle Realität (VR) hingegen ist komplett im Computer erzeugt. Und bei Mixed Reality (MR) ist es möglich, reale Objekte in die virtuelle Realität einzubauen, zum Beispiel einen echten Golfschläger auf dem virtuellen Golfplatz.
Bei diesen drei Technologien tut sich gerade einiges auf dem Markt und in der Industrie. Laut einem Bericht der Unternehmensberatung Deloitte haben sich die Ausgaben rund um AR- und VR-Brillen, sowie für Software und Services rund um die Technologie im Jahr 2020 weltweit auf 12 Mrd. $ (10,3 Mrd. €) erhöht – und damit um etwa 50 % gegenüber dem Vorjahr. Bis 2024 sollen die Investitionen in ähnlichem Tempo auf 73 Mrd. $ (62,9 Mrd. €) klettern.
Der Schub, den diese Technologie in den vergangenen zehn Jahren erfahren hat, liegt einerseits an den Preisen, die seit der Marktreife der Geräte deutlich gefallen sind. Sie sind nun auch intuitiver bedienbar und leistungsfähiger. Eine Funktion namens Handtracking erlaubt es bei beispielsweise bei der Oculus Quest 2 von Facebook, die VR-Controller beiseitezulegen und Menüs mit der bloßen Hand zu steuern.
Höhere Auflösungen der Displays von heute bereits etwa 2000 Pixel in der längsten Dimension sollen sich künftig verdoppeln (4K) oder sogar vervierfachen (8K). Durch diese Entwicklung wird der sogenannte Fliegengittereffekt deutlich vermindert. Besonders bei niedrigaufgelösten Bildschirmen erkennt dabei das Auge das Raster in der Darstellung, wenn es sich nah am Display befindet. Für flüssigere Bewegungen im 3-D-Raum hat sich die Bildwiederholrate auf bis zu 120 Bilder/s gesteigert. Zum Vergleich: Bei normalen Büromonitoren gelten Wiederholungsfrequenzen von 60 Hz als Standard. Auch hat sich das Blickfeld der Brillen erweitert, von um die 90° auf bis zu 130°.
Nächste Generation angekündigt
Aktuell erwartet die Branche die nächsten Generationen von einigen der verbreitetsten Geräte auf dem Mark. Die Nachfolgerin von Facebooks Quest 2 soll Quest Pro heißen und unter anderem mit besserer Sensorik aufwarten. Auch Sony hat dieses Jahr die nächste Generation der Playstation VR angekündigt, allerdings für 2022, sechs Jahre nach der ersten VR-Brille des Unterhaltungskonzerns.
Bis zum nächsten Jahr muss die Branche auch auf einen weiteren Tech-Giganten warten, der Branchenberichten zufolge dann sein VR-Debüt geben will: Apple. Bereits in der Vergangenheit hat das Unternehmen Märkten mit seinen Produkten einen zusätzlichen Schub gegeben – zuletzt bei der Smartwatch. Ähnlich könnte es auch diesmal laufen. Gerüchte sprechen von zwei Displays mit je 8K-Auflösung und von über einem Dutzend außen angebrachter Kameras, die auf AR-Anwendungen hinweisen könnten. Apple-Chef Tim Cook prophezeite bereits 2016 auf einer Konferenz, dass AR ein „so integraler Teil unseres Alltags sein wird wie drei Mahlzeiten am Tag“.
Etwas verhaltener klingt hingegen die Einschätzung von Autodesk-Chef Andrew Anagnost: „In den nächsten fünf Jahren könnten sich VR-Brillen diesmal tatsächlich so entwickeln, dass wir sie einen ganzen Tag lang tragen können, ohne dass uns schlecht wird. Die Technologie hat hier noch Probleme, ebenso wie mit der Desorientierung.“
Von Games bis Kultur
Beim Gaming muss das Equipment nicht den ganzen Tag durchhalten. Im derzeit beliebtesten VR-Spiel „Half Life: Alyx“ kämpfen Spielende nicht mehr mit Maus und Tastatur gegen Zombies, sondern dank Controllern mit den eigenen Händen. Das ist zwar etwas anstrengender, aber es fühlt sich dafür auch echter an. Minigolf (Golf it!), Boxen (Creed) oder Tischtennis (Eleven) profitieren ebenfalls von der räumlichen Steuerung bei VR.
Neben den Games nutzt auch der Kultursektor die Brillen häufiger. Als Museen weltweit coronabedingt geschlossen bleiben mussten, wurde der virtuelle Besuch auf einmal für viele interessant. Das Staatstheater Augsburg und das Schauspiel Essen verkaufen mittlerweile Tickets für 360°-Videos ihrer Stücke. Ein VR-Headset wird dem Kunden per Kurier nach Hause geliefert und von dort auch wieder abgeholt.
Direkt vom Wohnzimmer aus ist es heute möglich, Orte zu bereisen, die die meisten unter normalen Umständen wohl nie erreichen würden. Doch per VR-Brille geht es im Handumdrehen zum Mount Everest, zur ISS-Raumstation oder sogar zum Mond. Mit den Anwendungen „Google Earth VR“ und Blue Planet können Nutzer und Nutzerinnen sogar frei im dreidimensionalen Raum durch die Welt reisen. Mittlerweile ist es in der VR-Welt auch geselliger geworden: Beispielsweise in der App „Nanome“ können sich Personen virtuell in Form von Avataren treffen und gemeinsam langkettige Moleküle bearbeiten.
Anwendungsvielfalt nimmt zu
Nicht nur in der Unterhaltung nimmt die Vielfalt zu, auch in Wissenschaft und Entwicklung entstehen immer mehr Anwendungen. Programme wie Gravity Sketch oder Tilt Brush erlauben das Designen von Gegenständen und Produkten im dreidimensionalen Raum. Kreativteams bei Autofirmen wie Ford und Nissan setzen Gravity Sketch ein, ebenso der Schuhhersteller Reebok.
Die perfekte Steuerungstechnologie wurde aber noch nicht gefunden, wenn es nach Andrew Anagnost geht: „Maus und Tastatur sind nicht die Zukunft bei der Computerinteraktion.“ Doch auch Handschuhe sind zum virtuellen Konstruieren nicht ideal. „Wir haben mit Cyberhandschuhen experimentiert, aber dabei werden die Arme schnell unglaublich müde. Ich rechne künftig mit mehr Möglichkeiten zur Stimmkontrolle und einer neuen manuellen AR-/VR-Kontrolle, bei der man nicht dauernd seine Hände heben muss“, so CEO vom Softwarekonzern Autodesk.
Unternehmen loten derzeit die Möglichkeiten von VR-Meetings wie vSpatial, Neos oder Bigscreen aus. Auch Microsoft stellte im März dieses Jahres seine Mixed-Reality-Plattform Mesh vor, auf der sich Menschen virtuell treffen können. In ihrer Brille sehen sie alle gemeinsam das gleiche virtuelle Modell sowie Figuren für die anderen Teilnehmer. Anders als im realen Meeting kann in den Apps aber niemand die Mimik des Gegenübers erkennen. Geräte wie der Facial Tracker von Vive können zwar die untere Gesichtspartie um den Mund erfassen, aber so richtig durchsetzen konnte sich die Technik auf dem breiten Markt bisher nicht.
VR im Flugzeug- und Autobau
Am Institut für Produktentwicklung (Ipek), das zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gehört, untersucht ein Forschungsteam derzeit die Möglichkeiten von Extended Reality in der Produktentwicklung. So verwende etwa der Flugzeugbauer Lockheed Martin (LM) AR-Brillen bereits, um beim Bau in Echtzeit virtuelle Bilder der Flugzeuge mit der realen Arbeitsumgebung zu überlagern, teilte das Institut mit. Dank äußerer Kameras haben Träger solcher AR-Headsets auch eine Sicht auf die Außenwelt.
Die Technologie führt laut Darin Bolthouse, einem technischen Leiters bei LM, zu jährlichen Einsparungen von mehr als 10 Mio. $ (8,6 Mio. €). Autobauer Ford hat dem Ipek zufolge sogar ein eigenes VR-Labor für Designer eingerichtet. „Man benutzt die Technik etwa bei Methoden und Prozessen zur Validierung, also zur kundennahen Absicherung von Produktmerkmalen“, sagt Marc Etri von der Ipek-Forschungsgruppe Entwicklungsmethodik und -management. Unnötige Iterationen fielen weg oder fänden nur noch virtuell statt. Zudem sei der Variantenraum hier viel größer als in der Realität.
Thyssenkrupp nutzt hingegen Microsofts AR-Headset Hololens bei der Reparatur von Aufzügen. Direkt über dem realen Bild werden den Fachleuten vor Ort so beispielsweise Videoanleitung und Bauteilbeschreibungen eingeblendet.
Weiterbildungs-Werkzeug VR
Auch bei der Weiterbildung spielt die Technologie Stärken aus. Ein nahezu realistisches Abbild des Schulungsgegenstands, etwa einer Maschine, kann dort mit den Vorteilen individuellen Lernens verknüpft werden. Für Franziska Klimant, Leiterin der Abteilung Prozessinformatik und virtuelle Produktentwicklung am Institut für Werkzeugmaschinen und Produktionsprozesse an der TU Chemnitz, ist das der Vorteil von VR.
„Lernende können beim Erlernen ihr eigenes Tempo nutzen, Inhalte wiederholen, Inhalte überspringen und so weiter“, sagt die Wirtschaftsingenieurin. „Zudem muss der Schulungsgegenstand real nicht zur Verfügung stehen, was wiederum Stillstandszeiten in der Produktion reduziert.“
Seit über 20 Jahren forscht die TU an der virtuellen Realität. Die Forschenden nutzen VR mittlerweile für Designreviews bei Industrieunternehmen und haben z. B. einen VR-Trainingssimulator für Hüftoperationen entwickelt. VR hilft sowohl dabei, die Beleuchtung eines realen Raums zu simulieren, als auch beim Konzept des digitalen Zwillings einer Elektronenstrahlschweißanlage.
Ein weiterer Anwendungszweig ist die Psychotherapie. Eine Studie des University College in London ergab, dass VR depressive Menschen positiv beeinflussen kann.
Gemischte Realitäten
Mixed Reality – also reale Gegenstände in virtuelle Realität zu integrieren – nutzt ein Forschungsteam der Hochschule Hannover in Zusammenarbeit mit Gesundheitsexperten der Malteser, der Johanniter und des Hanse Instituts Oldenburg. Im Projekt Vitawin prüft das Team den Einsatz der Technik in der Ausbildung von Notfallsanitätern. In dem vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt soll die Situation auch haptisch erlebbar werden, indem die VR-Umgebung mit einer realen Simulationspuppe kombiniert wird. Im simulierten Studienfall kommen die Sanitäter zu einer Person, die Verbrennungen durch einen Grill erlitten hat. Ein Ausbilder kann von außen in die Übung eingreifen.
An der Trainingsmethode wird aber noch gefeilt. Anna Tarrach, Mediendesignerin bei Vitawin, räumt ein, dass noch nicht alle Aufgaben eines Sanitäters völlig realitätsnah dargestellt seien, etwa das Aufziehen einer Spritze oder die Erstellung eines EKGs. Zudem gebe es immer gewisse Abstände zwischen der haptisch zu ertastenden Puppe und dem in der VR-Brille dargestellten Patientenavatar. „An diesen technischen Hürden arbeiten wir gerade.“
Prävention im Alltag
Im Arbeitsalltag angekommen sind bereits einige Präventionsanwendungen. In Zusammenarbeit mit dem Sägenhersteller Stihl hat das Entwicklerstudio Imsimity eine VR-Simulation für Einsatzkräfte im Feuerwehr- und Rettungsdienst entwickelt. In Rescue Saw MR können sie den Umgang mit einer Rettungssäge kostengünstig und ohne Verletzungsrisiko erlernen. Auch die Polizei von Nordrhein-Westfalen setzt seit April 2021 VR-Brillen ein, hier zur Prävention von Verkehrsunfällen. Insgesamt zehn Polizeibehörden wurden ausgestattet und es wurden Filme produziert. Diese will die Polizei nun Verkehrsteilnehmern ab zwölf Jahren zeigen.