„Ohne IT-Spezialistinnen und -Spezialisten verspielt Deutschland seine digitale Zukunft“
Bitkom-Chef Ralf Wintergerst schlägt Alarm: Bis 2040 werden in Deutschland mehr als 650 000 IT-Fachkräfte fehlen. Ohne entsprechende Maßnahmen sind die vier Ws in Gefahr: Wohlstand, Wachstum, Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit.
Im vergangenen Jahr gab es 149 000 unbesetzte IT-Stellen in deutschen Unternehmen. Fünf Jahre zuvor waren es „nur“ 82 000. Die Aussichten scheinen nicht rosig: Nach Auskunft des Branchenverbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, Bitkom, wird die Lücke zwischen Bestand und Bedarf in Deutschland im Jahr 2040 rund 663 000 IT-Fachleute betragen.
Das zeigt eine Studie Verbands, die heute (11. 4. 2024) vorgestellt wurde. Hinzu kommen Tausende offene Stellen mit IT-Schwerpunkt in Verwaltungen, Schulen oder Wissenschaftseinrichtungen. „Der sich seit Jahren verschärfende Mangel an IT-Fachkräften betrifft das ganze Land und bremst die dringend notwendige Digitalisierung“, sagt Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst.
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IT-Fachkräftemangel: Es wird dringend Zeit, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen
Eine immer größer werdende Fachkräftelücke in der IT bedeute einen Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, Wertschöpfung, Wachstum und Wohlstand. „Ohne IT-Spezialistinnen und -Spezialisten verspielt Deutschland seine digitale Zukunft“, mahnt Wintergerst. Und legt nach: „Wenn wir jetzt konsequent handeln, muss diese Projektion nicht Realität werden. Notwendig ist, dass in allen Bereichen gleichzeitig die richtigen Maßnahmen eingeleitet werden.“ Und es werde dringend Zeit. Nach Erhebung des Bitkom beklagen 74 % der Unternehmen den hohen Fachkräftemangel, 77 % gehen davon aus, dass der Markt sich weiter verschlechtern wird.
Die drohende Fachkräftelücke lässt sich nach den Berechnungen des Bitkom nur schließen, wenn umgehend massiv gegengesteuert wird. So könnten bis 2040 durch die Förderung des Quereinstiegs rund 130 000 zusätzliche IT-Fachkräfte gewonnen werden, durch Maßnahmen im Bereich Studium und Ausbildung kämen weitere rund 108 000 hinzu und 68 500 IT-Fachkräfte ließen sich aktivieren, indem ältere Beschäftigte länger im Job bleiben. Unverzichtbar ist aus Bitkom-Sicht, weitere 321 000 IT-Expertinnen und -Experten über bessere Zuwanderungsmöglichkeiten nach Deutschland zu holen. Wintergerst: „Wenn wir uns extrem anstrengen, können wir die absehbare Fachkräftelücke etwa zur Hälfte aus dem Inland schließen. Die andere Hälfte aber braucht zwingend qualifizierte Zuwanderung aus allen Teilen der Welt.“ Er rechnet mit 100 000 Zuwanderungen aus der EU, der Rest wird aus Drittländern rekrutiert werden müssen.
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Den Berechnungen zufolge wird das Angebot an IT-Fachkräften von derzeit 1,136 Mio. bis 2040 auf 1,256 Mio. leicht um rund 120 000 zulegen – sofern die entsprechenden Maßnahmen auf dem aktuellen Niveau fortgeführt werden. Zu wenig, denn 2040 werden knapp 2 Mio. IT-Fachkräfte benötigt, es werden rund 630 000 fehlen.
Dabei spielt auch der vergleichsweise geringe Altersdurchschnitt in den IT-Berufen eine Rolle. Während bis 2040 in der Gesamtwirtschaft 50,5 % der derzeitigen Beschäftigten aus dem Berufsleben ausscheiden werden, sind es in den IT-Berufen nur 32,5 %. Klingt erst mal gut, oder? „Diese zunächst positive Ausgangslage bedeutet aber auch, dass die demografische Entwicklung die IT nach 2040 umso härter trifft. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt die Weichen stellen und erfolgreich gegensteuern“, so Wintergerst. Doch wie soll gegengesteuert werden?
Junge Menschen müssen für IT begeistert werden, Studium und Ausbildung muss verbessert werden
Durch bildungspolitische Maßnahmen wie ein schulisches Pflichtfach Informatik, mehr Kooperationen zwischen Schule und Wirtschaft sowie zusätzliche Informatik-Lehrstühle ließe sich das zuletzt bereits gestiegene Interesse an IT-Berufen erhöhen. Dadurch könnten laut Bitkom bis 2040 rund 27 000 IT-Fachkräfte zusätzlich gewonnen werden. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf Mädchen und Frauen liegen. So sind aktuell nur rund 21 % der Studierenden und 10 % der Auszubildenden im Bereich Informatik weiblich.
Wintergerst: „Es gibt keinen wirklichen Grund, warum nicht genauso viele Frauen einen IT-Beruf anstreben und ergreifen sollten wie Männer.“ Wenn der Frauenanteil unter denjenigen, die Studium und Ausbildung abschließen, auf 50 % erhöht würde, könnten bis 2040 weitere 25 500 IT-Fachkräfte zur Verfügung stehen. Ein weiterer Ansatzpunkt im Bereich Studium ist die Reduzierung der Abbrecherquote in den Informatik-Studiengängen, die mit 42 % deutlich über dem Durchschnitt aller Studiengänge von derzeit 27 % liegt. Wenn die Abbrecherquote auf 20 % gesenkt würde, könnten bis 2040 weitere rund 55 000 hoch qualifizierte IT-Fachkräfte in Deutschland gewonnen werden.
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IT-Fachkräfte: Ältere Beschäftigte sollen länger im Arbeitsmarkt gehalten werden
Zugleich könnten bis 2040 weitere rund 68 500 IT-Fachkräfte zusätzlich zur Verfügung stehen, wenn ältere Beschäftigte über das Renteneintrittsalter hinaus freiwillig im Arbeitsmarkt blieben. Aktuell sind gerade einmal 0,9 % der IT-Beschäftigten 65 Jahre alt oder älter. Um diesen Anteil zu erhöhen, braucht es finanzielle Anreize für Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen, zugleich sollten die Sozialabgaben für Erwerbstätige im Rentenalter ganz abgeschafft oder zumindest deutlich verringert werden.
„Die IT bietet häufig Arbeitsbedingungen, die eine Tätigkeit auch im Alter ermöglicht, und viele Beschäftigte würden auch gerne länger arbeiten. Arbeiten jenseits der 65 ist allerdings häufig weder für die Unternehmen noch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv“, so Wintergerst. „Die Unternehmen selbst sind gefordert, ältere Beschäftigte kontinuierlich weiterzubilden – und wir müssen gerade in den besonders jugendorientierten Tech-Unternehmen eine Kultur entwickeln, die Ältere als wichtigen Teil von Diversität begreift und das auch lebt.“
Quereinstieg in die IT weiter erleichtern
Die IT bietet laut Bitkom schon heute ideale Voraussetzungen für den Quereinstieg. Rund ein Viertel aller Fachkräfte in der IT-Branche sind Quereinsteigerinnen oder Quereinsteiger. Durch konkrete Maßnahmen wie die Förderung von Quereinstiegsprogrammen und Bootcamps sowie den Ausbau von Beratungsangeboten kann nach Berechnungen des Bitkom die Zahl der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger um 50 % erhöht werden, was rund 129 500 zusätzlichen Fachkräften entspricht. Wichtig seien Flexibilität und Kreativität. So sollten etwa gemäß dem Modell Bildungsteilzeit Menschen, die sich in der IT, aber auch in anderen Mangelberufe orientieren wollen, gezielt finanziell unterstützt werden. „Aber auch die Unternehmen selbst müssen in ihre Zukunft investieren und Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowohl von aktiven als auch von potenziellen Beschäftigten massiv ausbauen“, sagt Wintergerst.
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IT-Fachkräftelücke lässt sich nur mit Zuwanderung schließen
Allerdings selbst wenn alle diese Maßnahmen greifen, bleibe im Jahr 2040 noch eine Lücke von etwa 338 000 fehlenden IT-Spezialistinnen und -Spezialisten. Zuletzt sind bereits jährlich etwa 13 000 ausländische Fachkräfte aus der EU und anderen Ländern in IT-Berufe zugewandert. Durch das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollen nach dem Willen der Bundesregierung pro Jahr 75 000 zusätzliche Fachkräfte aus Drittstaaten außerhalb der EU nach Deutschland kommen, auf IT-Berufe bezogen wären das 4000 pro Jahr. Ein ähnlicher Anstieg müsse auch für EU-Staaten erreicht werden.
„Wir werden mit dem inländischen Potenzial und der bisherigen Zuwanderung die IT-Fachkräftelücke nicht schließen können. Deutschland muss als Arbeits- und Lebensmittelpunkt für IT-Fachleute viel attraktiver werden“, so Wintergerst. „Diese Menschen werden weltweit umworben. Damit wir für sie attraktiv sind, muss Deutschland eine offene, tolerante und freie Gesellschaft bleiben. Xenophilie statt Xenophobie, darum muss es gehen.“
Der Bitkom plädiert dafür, die Ausländerbehörden zu Willkommensagenturen umzubauen, das internationale Marketing für den IT-Standort Deutschland zu verstärken und die Einwanderung deutlich zu entbürokratisieren und zu beschleunigen, etwa durch eine umfassende Digitalisierung der Verfahren. Nach den Bitkom-Berechnungen könnten so bis 2040 insgesamt etwa 321 000 zusätzliche Fachkräfte aus Drittstaaten und der EU nach Deutschland kommen.
Es wird Zeit, dass Deutschland schnell aktiv wird, um dem Fachkräftemangel im IT-Sektor zu begegnen
Würden alle Maßnahmen kurzfristig angegangen, so ließe sich die Fachkräftelücke in der IT bis 2040 auf 35 800 reduzieren und damit praktisch schließen. „Digitalisierung braucht Technologie, sie braucht aber vor allem Menschen, die sie voranbringen“, sagt Wintergerst. „Der Fachkräftemangel ist kein Naturereignis. Wir müssen auf niemanden warten oder auf etwas hoffen, wir müssen selbst aktiv werden. Seit Jahren diskutieren wir über den Fachkräftemangel in der IT und starten einzelne Projekte. Woran es fehlt, ist eine ambitionierte Gesamtstrategie. Sie muss jetzt kommen.“