Eyetracking 06. Sep 2018 Matilda Jordanova-Duda Lesezeit: ca. 4 Minuten

PC liest Wünsche von den Augen ab

Die Softwareplattform Nuia Eye Control der 4tiitoo GmbH macht es möglich: Die Augen steuern alle Bewegungen auf dem Bildschirm in Windeseile.

Wenn Blicke Applikationen steuern, sind Fehler vorprogrammiert. 4tiitoo versichert, dass die Softwareplattform Nuia diese auf ein Minimum reduziert.
Foto: panthermedia.net/ra2studio

Vor langer Zeit, als Windows XP neu war, überlegten zwei Jungs, wie sie die Interaktion mit dem Computer intelligenter gestalten könnten – und kamen auf die Blicksteuerung. Seitdem sind Eyetracker günstig und massentauglich geworden. Die Schulfreunde Tore Meyer und Stephan Odörfer, von Hause aus Betriebswirt und Architekt, haben 2013 ihr drittes Unternehmen gegründet: die 4tiitoo GmbH in München. Das Ziel: Computer schneller und ergonomischer mit den Augen steuern zu können.

Die 4tiitoo GmbH

gegründet: 2013 in München

Produkte: Blicksteuerung für PC, Laptops und Bedienkonsolen von Industriemaschinen

Mitarbeiter: 18

Umsatz: 2018 voraussichtlich siebenstellig

„Die Augenmuskeln sind die schnellsten im Körper“, sagt Odörfer: Da kann die Hand mit der Maus gar nicht mithalten. Nun könnte man sagen, ein paar Millisekunden mehr oder weniger, was soll‘s. Doch Menschen, die mit CAD, PLM oder ERP arbeiten, legen bis zu 7 km Mausbewegungen zurück – jeden Tag! Odörfer und Meyer haben das nachgemessen und wollen die Strecke um bis zu 80 % reduzieren. Es brächte 30 Minuten am Tag und keinen „Mausarm“ mehr.

Seit Schulzeiten ein Team: Die 4tiitoo-Gründer Tore Meyer (r.) und Stephan Odörfer. Foto: 4tiitoo

„Dafür werden die Augen mit unschädlichem Infrarotlicht angestrahlt, Infrarotkameras filmen die Reflexion“, erklärt Odörfer: Nach der einmaligen kurzen Kalibrierung stelle man in Echtzeit fest, wohin der Nutzer auf dem Bildschirm schaut. „Mithilfe unserer Lösung sogar mit zwei Extraschippen Präzision“, verspricht der Gründer, sodass man auch die kleinen Buttons im SAP-Programm auslösen kann. Zum Beweis demonstriert er, wie seine Blicke über den Bildschirm huschen, Texte herunterscrollen, Links anklicken und in Eingabefelder Dinge hineinkopieren.

Zufällige Blicke dürfen keine Aktion starten. Möglich macht es die Softwareplattform Nuia (Natural User InterAction), die die Intention erkennt. „Unser System weiß immer, welche aktiven Elemente die aktuelle Applikation hat, wodurch der Mauszeiger auf die prognostizierten Buttons versetzt werden kann. Alternativ können sie direkt mit den Augen ausgelöst werden“, sagt Odörfer. Die Münchener haben Teile davon zum Patent angemeldet.

Kunden sind Unternehmen mit hoch spezialisierten Computerarbeitsplätzen: etwa CAD, PLM, Design, ERP, aber auch Officeanwendungen. Sie zahlen Lizenzgebühren, gestaffelt nach der Anzahl der Nutzer im Unternehmen, und bekommen ein Paket aus Eyetrackern und Nuia. Eine Änderung der bereits installierten Computerprogramme sei nicht nötig, das System funktioniere per Plug-and-Play. Zurzeit sind es meist Autohersteller und -zulieferer: Als Referenz nennt Odörfer Benteler sowie Daimler, auf dessen Innovationsplattform „Startup Autobahn“ 4tiitoo seine ersten Schritte gemacht hat.

Denkbar seien aber auch alle anderen Industriezweige wie auch Computerhersteller, die Eyetracker in Bildschirme, Notebooks und AR-Headsets einbauen und Anwendungsfälle dafür suchen. Der Einsatz der Blicksteuerung sei nicht nur im Office, sondern auch im Werk sinnvoll, gern auch in Kombination mit Sprach- und Gestenerkennung. In der Fertigungshalle hat ein Mitarbeiter oft die Hände nicht frei oder sie stecken in Handschuhen: Man muss dennoch etwas nachschauen oder eingeben.

Bei einem neuen Kunden macht 4tiitoo erst einmal einen Test mit 20 bis 50 Nutzern vor Ort, beobachtet deren Workflows anonymisiert über mehrere Wochen und befragt sie, welche Anforderungen immer wieder auftreten. „Ein CAD-Nutzer macht z.B. häufig Screenshots für eine Managementpräsentation. Er öffnet Windows Paint, er drückt Strg+V …“, leiert Odörfer die lange Liste aller Schritte herunter, die man per RPA (Robotic Process Automation) und Blicksteuerung wegrationalisieren kann. Insgesamt wandere ein typischer Konstrukteur bis zu 3000 Mal am Tag zwischen Toolbars, Dialogfeldern und Zeichenfläche. „Weil wir ja selbst keine CAD-Zeichner haben, brauchen wir den Kontakt zu den Anwendern, um zu verstehen, was sie nervt und womit sie sich abgefunden haben.“

Diese Metadaten werden anonymisiert und aggregiert ausgewertet. Die Auftraggeber können auf diese Weise feststellen, welche Applikationen bei ihnen wie oft genutzt werden, was sie an Arbeitszeit durch Nuia gewinnen, und können diese dann gegen die Lizenzkosten rechnen. Auch Betriebsräte ließen sich durch die Aussicht auf positive Gesundheitseffekte leichter überzeugen, denn der Mausmarathon verursacht Nacken-, Schulter- und Armbeschwerden. Für die Augen sei das Eyetracking nicht anstrengend, versichert Odörfer: „Wir selbst arbeiten seit Jahren an allen unseren Geräten damit und merken keinerlei Nebenwirkungen.“ Nur eine: Klassische Computer ohne Blicksteuerung erscheinen ihnen quälend langsam.

Für ein B2B-Start-up sei es das Schwierigste, an die richtigen Ansprechpartner und Entscheider in den Unternehmen heranzukommen, um ihnen das Produkt vorzuführen. „Denn man versteht die Magie erst, wenn man es selbst ausprobiert hat: Der Computer kann Ihnen die Wünsche von den Augen ablesen“, schwärmt der Gründer. Dass 4tiitoo in einigen Start-up-Beschleunigern wie Daimlers Startup-Autobahn und nun dem SAP-Accelerator war und ist, habe ihm viele Türen geöffnet. Durch die Partnerschaft mit SAP wird etwa der Vertrieb weiter ausgebaut. Die Teilnahme am German-Accelerator-Programm des Bundeswirtschaftsministeriums hat zudem den Sprung in die USA ermöglicht. Seit 2016 hat 4tiitoo eine Tochter im Silicon Valley.

„Derzeit stellen wir alle sechs Wochen neue Leute ein“, sagt Odörfer. 4tiitoo hat aktuell 18 Mitarbeiter, elf sind allein mit F&E beschäftigt, darunter Softwareentwickler und UX (User Experience)-Experten, bis Ende des Jahres soll die Zahl weiter wachsen. Für 2018 erwartet er siebenstellige Umsätze, während sie 2017 im hohen sechsstelligen Bereich lagen. Nach drei Finanzierungsrunden mit Business Angels, Bayern Kapital, dem Hightechgründerfonds und zuletzt mit dem Schweizer Family Office könnte das junge Unternehmen aus eigener Kraft weiterwachsen. „Aber vielleicht machen wir noch eine Runde, um den amerikanischen und den asiatischen Markt schneller zu erschließen.“

Ende des Jahres sei voraussichtlich ein weiteres Produkt gereift: Nuia Collaboration +. Das Meetingtool soll die Zusammenarbeit auf Distanz mithilfe von Brillen wie der HoloLens und Augmented Reality verbessern. Dann könne man in einem imaginären Raum zusammen mit den Kollegen an vielen virtuellen Bildschirmen mit den vertrauten PC-Applikationen arbeiten – selbst wenn man in Wirklichkeit im Zug oder im Flugzeug sitzt.

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