Die Usancen lagen Rudolf Diesel nicht
Heute vor 120 Jahren wurde der Dieselmotor abgenommen. Fünf Jahre zuvor, am 27. Februar 1892, hatte Rudolf Diesel das Patent angemeldet.
Umstrittene Prüf- und Messverfahren, Schummeleien bei Emissionsgrenzwerten, milliardenschwere Prozesse – der Dieselmotor hat derzeit keine gute Presse. Und dennoch wäre die Entwicklung der Motorisierung und des Verkehrs- und Transportwesens anders gelaufen, hätte es den Verbrennungsmotor nicht gegeben, dessen Merkmal die Selbstzündung des eingespritzten Kraftstoffes durch verdichtete und dadurch enorm erhitzte Luft ist. Rund die Hälfte der verkauften Pkw in Europa und Indien sind Dieselfahrzeuge, in der Schifffahrt dominieren die Dieselmotoren, Schienenfahrzeuge wie Lokomotiven und Treibwagen werden – wenn sie nicht an der Stromleitung hängen – in der Regel genauso von Selbstzündern angetrieben wie Stromaggregate und hier und da Generatoren von Kraftwerken.
Vor genau 125 Jahren, am 27. Februar 1892, meldete der damals in Augsburg wirkende Ingenieur Rudolf Diesel ein Patent für ein „Arbeitsverfahren und Ausführungsart für Verbrennungskraftmaschinen“ an, und am 17. Februar 1897 – fünf Jahre später und damit vor genau 120 Jahren – wurde der erste funktionstüchtige Prototyp des Dieselmotors abgenommen. Dieser Motor erreichte eine Leistung von 14 kW und einen Wirkungsgrad von 26,2 %, womit er den damals dominierenden Kraftmaschinen, also Dampfmaschinen und Ottomotoren, deutlich überlegen war.
Jahrelang hatte Diesel zielstrebig an seiner Idee gearbeitet, eine effizientere Maschine als die Dampfmaschinen zu entwickeln, die nicht nur einen Wirkungsgrad von gerade 6 % bis 10 % erreichten, sondern dabei auch noch „unsere Städte verpesten und verqualmen“, wie Diesel klagte. Als Ausgangspunkt wählte er eine Theorie, den idealen Kreisprozess des französischen Physikers Sadi Carnot. Die von Carnot erdachte Wärme-Kraft-Maschine war nie zur praktischen Umsetzung vorgesehen worden, doch Diesel wollte das Prinzip in die Wirklichkeit umsetzen: ein Gas in einem Zylinder so zu verdichten, dass enorm hohe Drücke entstehen, welche ein Gas-Kraftstoff-Gemisch zur Zündung bringen. Diesels Patent von 1892 war eher eine Ideenskizze, die er im Jahr darauf erweiterte und teilweise korrigierte. Mechaniker und Ingenieure der Maschinenfabrik Augsburg – einer Vorgängerin von MAN – begannen, Diesels Ideen umzusetzen. Ein Problem, das es zu lösen galt, war die Wahl des richtigen Kraftstoffs. Diesel hatte zunächst mit Petroleum experimentiert, das aber nicht zündete. Dann versuchte er es mit Benzin. Das zündete allerdings zu rasch, sodass eine zweistufige Verdichtung erdacht werden musste. Aus der geplanten sechsmonatigen Entwicklungszeit wurden vier Jahre. In zwei Jahren stand ein erster Prototyp, der immerhin einen Wirkungsgrad von 16 % erreichte. 1897 war es geschafft. Nach erfolgreicher Vorstellung des Prototyps wurde der Dieselmotor noch im gleichen Jahr auf der Hauptversammlung des VDI in Kassel präsentiert und als „marktfähige, in allen Einzelheiten vollkommen durchgearbeitete Maschine“ gefeiert.
Doch Rudolf Diesel stand vor einem großen Problem. Der jetzt fertiggestellte Motor entsprach nicht mehr den Angaben, die er sich Jahre zuvor patentieren ließ. Längst beanspruchten andere die Patentrechte für sich, darunter englische und französische Ingenieure und die Gas-Motoren-Fabrik Deutz, die schon seit den 1870er-Jahren Viertaktmotoren nach dem Otto-Prinzip baute. Jahrelange Patentstreitigkeiten plagten Diesel, dessen körperliche und geistige Gesundheit zunehmend litt.
Hinzu kam das Scheitern von Diesels Versuchen, seine Erfindung selbst zu vermarkten. Seine 1898 gegründete Dieselmotorenfabrik Augsburg musste er schon nach einem Jahr wieder schließen. Als Vergleich im Patentstreit mit der Gas-Motoren-Fabrik Deutz wurden Lizenzgebühren vereinbart, sodass Diesel für seine eigene Erfindung hätte zahlen müssen. Diesel war ein genialer Ingenieur und Mechaniker, aber mit den Usancen der Wirtschaftswelt fremdelte er – er war ganz einfach kein Unternehmer.
Tatsächlich war Diesel, der 1858 als Sohn ein gelernten Buchbinders in Paris geboren wurde, in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften ein Frühbegabter. Anders als bei vielen anderen genialen Erfindern waren seine schulischen und hochschulischen Leistungen brillant.
Mit 14 Jahren teilte er seinen wenig begeisterten Eltern mit, dass er Ingenieur werden wollte. Als Stipendiat studierte er an der Königlich Technischen Hochschule in München. Weil er wegen einer Typhuserkrankung sein Examen verschieben musste, arbeitete er aushilfsweise in der Maschinenfabrik Sulzer in Winterthur und sammelte praktische Erfahrungen.
Nach dem Examen stieg er in der Eisfabrik des Maschinenbauers Carl von Linde ein und brachte es rasch zum Direktor. 1881 erhielt Diesel ein Patent für ein Verfahren zur Herstellung von Klareis in Flaschen. Zusammen mit Heinrich Buz, dem Direktor der Maschinenfabrik Augsburg, entwickelte er für das Verfahren eine Versuchsanlage.
Der Kontakt mit Buz sollte später für ihn sehr wertvoll werden. 1890 zog Diesel zusammen mit seiner Familie nach Berlin, wo er die Leitung des technischen Büros der Gesellschaft für Lindes Eismaschinen übernahm. Neben seiner Erwerbstätigkeit tüftelte Diesel ständig an seiner Idee, eine leistungsstarke Alternative zur Dampfmaschine zu entwickeln, was ihm im Laufe des Jahrzehnts dann gelingen sollte.
Höhepunkt der Anerkennung für Diesels Ingenieurleistung war der Große Preis auf der Weltausstellung in Paris 1900. Das weltweite Interesse am Dieselmotor war geweckt. Die Augsburger Maschinenfabrik, die 1908 zu MAN wurde, konnte Lizenznehmer für den Bau des Motors in vielen Ländern gewinnen. In den folgenden Jahren führte Rudolf Diesel mit seiner Familie ein großbürgerliches Leben in München.
Er konnte miterleben, wie die ersten stationären Dieselmotoren in Kraftwerken zur Stromerzeugung und in Schiffen eingebaut wurden. Er erlebte mit, wie 1912 mit der „Selandia“ der erste Ozeandampfer mit Dieselantrieb in See stach. Doch wie ab 1923 die ersten Lastkraftwagen von MAN und ab 1936 die ersten Personenkraftwagen mit einem „Diesel“ starteten, konnte er nicht mehr begleiten. 1913 verschwand Diesel unter bis heute ungeklärten Umständen während der Überfahrt von Antwerpen nach Harwich von Bord des Postdampfers „Dresden“. Tage später wurden von einem anderen Schiff Kleidungsstücke und Gegenstände geborgen, die von Diesels Sohn als Eigentum seines Vaters identifiziert wurden. Vermutet wird ein Selbstmord. Diesel litt in den Tagen zuvor unter Depressionen und seine Unternehmungen standen wieder einmal finanziell unter Druck. Doch ein endgültiger Beweis steht aus.