Kreuzfahrt unter Segeln – Mit dem Dreimaster über den Atlantik
Unser Autor für alles Maritime, Wolfgang Heumer, ist auf dem Meer unterwegs – nach St. Maarten in der Karibik. Auf dem wohl emissionsärmsten Kreuzfahrtschiff der Welt. Der ultramodernen Sea Cloud Spirit von Sea Cloud Cruises. Ausgestattet mit Hightech vom Feinsten. Regelmäßig und tagesaktuell wird er unsere Leser bis zum 28. November von seinen Eindrücken berichten. Und natürlich von der beeindruckenden Technik des Schiffes.
Montag, 14. November, 10.00 UTC, Atlantik, N 24°18‘31“ W 020°5‘24“. Auf dem Atlantik etwa 350 nautische Meilen – knapp 650 km – südlich vom Startort Las Palmas/Gran Canaria bietet sich ein Bild wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Windjammer hat unter vollen Segeln Kurs auf die Karibik genommen – 138 m lang, drei bis zu 57,9 m hohe Masten und 28 Segel mit einer Gesamtfläche von 4100 m2.
Die Sea Cloud Spirit ist der jüngste Großsegler der Welt. Im September 2021 ist das neue Schiff der Hamburger Reederei Sea Cloud Cruises in Dienst gestellt worden. Vor 36 Stunden hat die erste Atlantiküberquerung dieses Schiffes begonnen. Zunächst ist Kapitän Heiner Eilers in Richtung Süden gefahren; jetzt hat endlich der Nordostpassat aufgefrischt. Mit 4 Bft. bis 5 Bft. wird er für die nächsten 2600 Meilen die treibende Kraft sein, die die Sea Cloud Spirit, ihre 81 Besatzungsmitglieder und ein paar Dutzend Gäste nach Philipsburg/St. Maarten tragen wird. Der nostalgische Bild eines Dreimast-Vollschiffes unter vollen Segeln bietet sich nur selten – noch.
Angesichts der mittlerweile ambitionierten Klimaschutzziele in der internationalen Schifffahrt könnte der Windantrieb in naher Zukunft eine Renaissance feiern. Selbst der kreuzfahrtkritische Naturschutzbund Nabu ist nicht abgeneigt, sich mit kleinen Segelschiffen anzufreunden: „Die Sea Cloud Spirit könnte die Blaupause für eine neue Generation von Kreuzfahrtschiffen sein“, sagte der Vorsitzende des Nabu Hamburg, Malte Siegert, im Sommer beim ersten Besuch des Großseglers in der Elbmetropole.
Wie aber fühlt es sich an, unter Segeln wie vor bald 200 Jahren den Atlantik zu überqueren? Welche technische Herausforderung steckt darin? Und wie viel klassische Seemannschaft ist im Zeitalter der Satellitennavigation immer noch erforderlich, um sicher und zuverlässig das Ziel zu erreichen? Dieser Blog wird die Sea Cloud Spirit auf ihrer Premierenreise begleiten …
Kreuzfahrt Tag 2: Hart am Wind
Dienstag, 15. November, 11.00 Universal Time Coordinated, N 22° 53,1’ W 024°1’47
Zweiter Tag. Der Wind drückt uns etwas zu sehr nach Süden, sagt der Kapitän. Deshalb lässt er die Sea Cloud Spirit so hart am Wind wie nur möglich segeln. Im Vergleich zu modernen Yachten ist „hart am Wind“ bei Windjammern ein relativer Begriff. Sportliche Segelboote können bis zu 30° oder 35° Höhe laufen und sich so relativ gut gegen den Wind vorwärts arbeiten.
Auch wenn der Begriff des Windjammers nichts mit „klagen“ oder „jammern“ zu tun hat, sondern vom englischen „to jam“ kommt, „kratzen“ die Segel von Großseglern nicht wirklich am Wind; bestenfalls ist es ungefähr „halber“ Wind – also in etwa von der Seite, der die beeindruckenden Schiffe vorantreibt. Der Passat hat im Moment eine starke nördliche Komponente – das drückt die Sea Cloud Spirit nach Süden in Richtung einer Schwachwindzone.
Der entspannten Stimmung an Bord tut das keinen Abbruch. Heute morgen tauchten „Teletubbies“ an Bord auf.
Die scheinbar lustigen Kostüme haben einen ernsten Hintergrund: Es sind Überlebensanzüge, die die Menschen an Bord im Falle einer Havarie auch in kaltem Wasser über viele Stunden schützen können. Und Sicherheit geht auf diesem Großsegler vor: Obwohl die Crew zum großen Teil schon seit vielen Monaten an Bord ist, muss sie auf jeder Reise erneut einen sogenannten Drill – die große Sicherheitsübung – absolvieren. Und dazu zählt eben auch das Anlegen der Überlebensanzüge.
Apropos Crew: Die Sea Cloud Spirit hat derzeit 81 Männer und Frauen als Besatzung. Sie stammen aus 16 Nationen – und verstehen sich doch als eine große Familie, wie sie im privaten Gespräch immer wieder betonen. Der Sonnenaufgang, der das Schiff heute Morgen begrüßte, hat da durchaus die Bedeutung eines großen Hoffnungsschimmers.
Kreufahrt Tag 3: Frühsport an Deck
Mittwoch, 16. November, Atlantik N 24°40,4‘ W 027°26,5‘
Brassen, Fallen, Schoten, Stagen, Wanten, Pardune, Gordinge, Zeisinge …wer auf einem Windjammer segelt, lernt gewissermaßen nebenbei eine weitere Fremdsprache. Die meisten Fachbegriffe sind dem Holländischen entlehnt; mit dem aufkommenden Welthandel per Windjammer war unser Nachbarland die prägende Schifffahrtsnation. Allein die Segel, Rahen und Masten sowie die für ihre Bedienung notwendigen Leinen, Taue und Enden bilden eine Welt für sich.
Die Sea Cloud Spirit ist ein Dreimast-Vollschiff, das heißt: Alle drei Masten tragen Rahsegel, die quer zum Mast stehen. Das unterscheidet sie beispielsweise von der Gorch Fock. Die ist zwar ebenfalls ein Dreimaster, als sogenannte Bark steht das hintere „Besansegel“ jedoch ähnlich wie ein Yachtsegel senkrecht zum Mast.
Die sechs Segel an jedem Mast der Sea Cloud Spirit werden vom Mastkapitän und fünf Deckshands bedient. Pro Mast müssen zahlreiche Leinen pro Schiffsseite bewegt werden. Auch wenn das Schiff erst rund ein Jahr im Dienst und damit sehr modern ist, gibt es ein erstaunliches Faktum: „Ein Seemann aus der Mitte des 19. Jahrhunderts könnte sofort mit dem Rigg umgehen, weil dessen Prinzip und Anordnung seitdem unverändert sind“, sagt der erste Offizier Daniel Loncarevic.
Nicht nur das Setzen am Anfang der Reise war ein Schauspiel für sich; auch jede Änderung der Segelstellung bei kleineren Kurskorrekturen ist ein willkommenes Unterhaltungsprogramm.
So langsam kehrt Bordroutine ein, wie es auf Segelschiffen heißt, wenn die Dinge ihren gewohnten Gang gehen und das Leben einen festen Rhythmus bekommt. Zum Sonnenaufgang an Deck sein, ein paar Runden ums Schiff gehen, Frühsport und dann Frühstück – und dann aufs Sonnendeck. Der Tagesrhythmus wird vom Takt der Atlantikdünung bestimmt. 21-22-23 – drei Sekunden hebt die Welle das Schiff langsam hoch, 21-22-23, genauso langsam sinkt es wieder ins Wellental.
Der Lebensrhythmus scheint der menschlichen Natur zu entsprechen; die Entspannung breitet sich auf dem Schiff aus. Das meistgehörte Wort ist ein von der Crew immer wieder mit freundlichem Lächeln gegenüber den Gästen geäußerter Wunsch: „Enjoy – genieße es.“
Kreuzfahrt Tag 4: Der rollende Dreimaster
Donnerstag, 17. November, 13.00 Uhr UTC, N 23°06,2‘ W 030°04,6‘
Die Sea Cloud Spirit schiebt sich mit durchschnittlich 6 kn – etwas mehr als 11 km/h – auf Westkurs über den Atlantik. Das Geräusch der am Rumpf vorbeirauschenden Wellen lässt eine deutlich höhere Geschwindigkeit vermuten als das gemütliche Fahrradtempo, mit dem wir hier in Richtung Karibik rollen.
Rollen ist im übertragenen Sinne die richtige Bezeichnung – Rollen bedeutet auf See, dass sich ein Schiff in der Dünung abwechselnd zu den Seiten neigt. Auf der Sea Cloud Spirit ist das ein herrlicher Lebensrhythmus; Seekrankheit ist deshalb ein Fremdwort.
Unbeschwert können die Gäste das Mittagessen genießen, das Pavle und Ramon bei Außentemperaturen um die 25 °C auf Deck zubereiten.
Das Essen wird durch kaum ein Geräusch gestört – drei der vier Motoren schweigen, seitdem wir die Segel gesetzt haben. Der vierte Achtzylinderdiesel der MAN-Baureihe 8L23/30H läuft nur, um das Schiff mit Strom zu versorgen. Die Maschine ist bewährt und bescheiden: Um insbesondere dem Hotelbetrieb, aber auch allen anderen elektrisch betriebenen Geräten Energie zu liefern, verbraucht der Motor gerade einmal 2,5 t Diesel innerhalb von 24 Stunden. Chefingenieur Uwe Lange nennt einen eindrucksvollen Vergleich: Ein herkömmliches Kreuzfahrtschiff verbraucht allein für den Hotelbetrieb knapp 30 t Kraftstoff pro Tag – ganz abgesehen von dem Treibstoff für den Fahrbetrieb.
Wir bewegen uns ganz traditionell mit dem Wind. Auch auf der Brücke geht es trotz aller elektronischen Instrumente und Hilfsmittel auf der Sea Cloud Spirit ganz traditionell zu.
Navigationsoffizier Igor Oliveric trägt die jeweilige Position des Großseglers von Hand in eine klassische Seekarte aus Papier ein.
Kreuzfahrt Tag 5: Knoten für den Dreimaster
Freitag, 18. November, 11.00 UTC N 23°27,2‘ W 033°005,5‘, Atlantik, etwa 580 km südlich der Kapverden
Die Sea Cloud Spirit zieht mit 9,1 kn (ca. 16,8 km/h) westwärts. Noch sind es 1682 nautische Meilen (nm) – ca. 3115 km – bis zum Ziel auf der Insel St. Maarten. Dennoch ist schon zu spüren, dass die Karibik näher kommt. Die Wassertemperatur beträgt 25,3 °C; die Lufttemperatur liegt bei 26 °C.
An einen Badestopp ist allerdings noch nicht zu denken. Die Atlantikdünung hat eine signifikante Wellenhöhe von etwa 2 m. An Bord ist sie kaum zu spüren, doch für das Ausfahren der Badeplattform sind die Wellen zu hoch. Erstmals haben Fliegende Fische das Schiff umkreist. Sie sind etwas größer als Schwalben und scheinen das Schiff zu umkreisen. Völlig überraschend steigt ein Schwarm aus den Fluten auf; fliegt etwa 5 m knapp über den Wellen und stürzt sich dann wieder ins Wasser. Die Fische sind schnell, keine Chance, sie aufs Bild zu bekommen.
An Bord geht das Leben derweil seinen inzwischen routinemäßigen Gang. Für die Deckshands bedeutet dies Reinigungs- und Instandsetzungsarbeiten. Auch im Rigg haben die Seeleute zu tun – und schnell wird klar, dass Seemannsknoten nicht nur zum Festmachen eines Bootes benötigt werden, sondern zum Beispiel auch eine improvisierte Leiter in der Takelage schaffen können.
Meister der Knoten ist Bootsmann Martin Pacatang, der Chef der Decksbesatzung. Einen Palstek, also eine feste Rundschlinge, mit einer Hand knoten? Für Martin ist das kein Problem. An einer Leine mit einem Wurf zwischen den Enden sechs kleine Achtknoten knüpfen? Für den Laien sieht es aus wie Zauberei. Doch Martin erklärt den Gästen an Bord, dass es schlicht eine Frage des Wissens und der Geschicklichkeit ist.
Der Philippino gehört aber nicht nur deshalb zu den Lieblingen der Gäste: Seine ruhige Art, seine stete Aufmerksamkeit und die Art, wie er die Deckshands führt – das schafft Vertrauen insbesondere mit Blick auf die Sicherheit an Bord. Und dazu sorgt Martin mit seinem stets freundlichen Lächeln für gute Stimmung auf dem Atlantik. Sowohl bei den Gästen als auch bei der Crew.
Kreuzfahrt Tag 6/7: Gleichmäßige Winde treiben das Segelschiff voran
Samstag/Sonntag, 20./21. November, 11.00 UTC, N 19°49,3‘ W 039°25,3
Bergfest auf dem Atlantik. Die Sea Cloud Spirit hat die Hälfte der Strecke von Las Palmas nach Philippsburg geschafft. 1300 sm unter Segeln liegen hinter uns, 1300 sm vor uns. Aus den Lautsprechern auf dem Lidodeck erklingt Bob Marley. „Every little thing gonna be all right.“ Als „Lidodeck“ wird auf herkömmlichen Kreuzfahrtschiffen oft – in Anlehnung an das italienische Wort „lido“ für „Strand“ – das Deck bezeichnet, auf dem sich der Pool befindet, also einem der Sonnenbade- bzw. Lounge-Orte.
Kapitän Heiner Eilers – gebürtig aus Leer – hat gerade mit spürbarem- und berechtigtem Stolz Zwischenbilanz gezogen. Seitdem er am vergangenen Montag „Vollzeug“ setzen ließ, hat er nur in zwei Nächten die Motoren zur Unterstützung mitlaufen lassen. Ansonsten treibt uns allein der Wind. Zwar sind wir um etwa 60 sm vom Kurs abgewichen; aber der Kapitän und begeisterte Segler haben auf der Wetterkarte ein lang gestrecktes Windfeld entdeckt, in dem der Nordostpassat mit 6 Bft bis 7 Bft weht und uns auf eine gleichmäßige Geschwindigkeit von etwa 9,5 kn gebracht hat. Segeln pur. Die Beaufortskala ist übrigens eine Skala zur Einteilung der Windstärke in 13 Stärkenbereiche von null bis zwölf, die nicht auf exakten Messungen, sondern den beobachteten Auswirkungen des Windes basiert.
Und was die Geschwindigkeitsangabe in Knoten angeht: 1 kn entspricht einer Strecke von 1,852 km. Das heißt, wenn unser Dreimaster mit einer Geschwindigkeit von 9,5 kn in der Stunde unterwegs ist, legt er in dieser Zeit eine Strecke von 17,6 km zurück bzw. 9,5 sm.
Am Himmel bilden sich die typischen Passatwolken. Ihre westliche Seite ist vom Wind ausgeweht und weist uns den Weg Richtung Karibik. Wir kreuzen vor dem Wind, das gibt es nur auf Rahseglern. Käme der Luftstrom direkt von Achtern – also von hinten –, würden die Segel des Kreuzmastes (am Heck) den Segeln des Großmastes in der Schiffsmitte sowie die Fockmast am Vorschiff buchstäblich den Wind aus den Segeln nehmen. Deshalb werden die Rahen leicht schräg eingestellt – „brassen“ heißt das, wenn die Rahnock (die äußere Spitze) auf einer Seite weiter nach vorne zeigt als die auf der andren Seite.
Um nicht zu weit zur Seite vom Kurs abzudriften, müssen die Rahen alle paar Stunden „geshiftet“, also zur anderen Seite gedreht werden. Heute Morgen drehte ein Vogel seine Runden um die Masten, so als ob er die Segelstellung kontrollieren wollte. Vermutlich handelte es sich um einen Gelbschnabelsturmtaucher, eine nur auf dem Atlantik heimische Art.
Und eine Tradition wirft ihre Schatten voraus: Neptun hat sich angekündigt: Der Meeresgott und Schutzherr über die Seefahrer wird zusammen mit seinen drei Meerjungfrauen die Äquatortaufe der Atlantikneulinge vornehmen und sie in den Kreis der „Blauwassersegler“ aufnehmen. Bis dahin begleiten Bob Marley und seine Musik weiter die Gäste.
Kreuzfahrt Tag 8/9: Unter Deck des Dreimasters
Dienstag, 22. November, 12.00 UTC, 20° 30‘ 12“ N 48° 49‘ 19.2“ W
Seitdem Kapitän Heiner Eilers die Segel setzen ließ, herrscht Ruhe im Schiff. Im übertragenen Sinne gilt das auf jeden Fall für die Gäste, die längst auf Kurs zur Entdeckung der Langsamkeit gegangen sind und tief entspannt die Reise über den Atlantik genießen.
Auch im Reich von Chefingenieur Uwe Lange herrscht weitgehend Ruhe. Weil der Wind den 138 m langen Dreimastsegler antreibt, hat Lange zwei der vier jeweils 1200 kW starken MAN-Achtzylindermotoren der Baureihe L23/30H abgeschaltet.
Der Windjammer verfügt über einen dieselelektrischen Antrieb. An jeden Motor ist ein Generator mit einer ähnlich hohen Leistung wie die Dieselmotoren angeordnet. Der so erzeugte Strom treibt zwei jeweils 1700 kW starke Elektromotoren an, die wiederum jeweils einen Propeller drehen.
Zugleich versorgen sie den Hotelbetrieb mit Kabinen, Küche und Klimaanlagen sowie alle für den Schiffsbetrieb erforderlichen Verbraucher mit elektrischer Energie. Unter anderem zählt dazu die Wasseraufbereitungsanlage, die durch Osmose genügend Seewasser in Trinkwasser verwandelt. 35 t Frischwasser fassen die Tanks; zum letzten Mal wurden sie in Las Palmas gefüllt; seitdem ersetzt die Osmoseanlage das verbrauchte Wasser.
„Die Technik hier unterscheidet sich prinzipiell nicht von der Ausrüstung eines großen Kreuzfahrtschiffes“, sagt Lange, „hier ist nur alles kleiner und überschaubarer.“
Um diese Verbraucher mit Strom versorgen zu können, lässt der Chefingenieur zwei der Motor-Generator-Kombinationen während der Segelfahrt mitlaufen. Der „Chief“ geht auf Nummer sicher: Der derzeitige Strombedarf ließe sich auch mit einem Generator decken. Doch wenn in der Küche die Herde angehen und vielleicht noch ein weiterer Großverbraucher hinzukommt, könnte es eine Überlastung geben: „Und einen Blackout mitten auf dem Atlantik braucht kein Mensch“, lacht Lange.
Der Ingenieur und der Kapitän sind ein gutes Team, wenn die beiden zusammen vor den Gästen über das Schiff berichten, ist dies deutlich zu spüren. Der eine ist der Segelexperte und Nautiker, der andere hat alle technischen Themen im Griff. Das Ergebnis ist einzigartig: „Mit zehn Knoten nur vom Wind getrieben durchs Wasser zu pflügen und gleichzeitig allen Komfort genießen zu können – das muss uns erst mal jemand nachmachen“, schmunzelt Lange.
Kreuzfahrt Tag 10: Auf Kolumbus´ Spuren
Mittwoch, 23. November, 12.00 Uhr UTC, N 20° 29,1‘ W 049°43,0‘ Kurs 269,1°
Als sich Kolumbus auf den Weg nach Indien machte, irrte er sich zwar in dem erwarteten Ziel. Aber die Grundvoraussetzungen der Atlantiküberquerung waren ihm schon bekannt: Richtung Westen und dann immer geradeaus.
Die Sea Cloud Spirit bewegt sich etwa zehn Grad weiter südlich als seinerzeit der Weltentdecker. Auch wenn uns mittlerweile zehn Seereiher auf der Reise begleiten, dürfte es unwahrscheinlich sein, dass sie von einem bislang unentdeckten Eiland am Rande unserer jetzt noch 740 sm (1370 km) langen Route stammen.
Navigationsoffizier Igor Oliveric nimmt es mit der Positionsbestimmung und mit der Kontrolle rund um das Dreimast-Vollschiff sehr genau. Das Differential-GPS ermittelt aus den Signalen von neun bis 24 Satelliten sowie dem Signal einer Landstation mit einer maximalen Abweichung von 2,4 m die Position des Schiffes. Mithilfe des S-Band-Radars kontrolliert er den Seeraum bis zu 24 sm (knapp 45 km) vor dem Bug auf mögliche Kollisonsgefahren.
Die Sea Cloud Spirit fährt weiterhin nur unter Segeln; jedes andere Fahrzeug müsste ihr also ausweichen. Aber sicher ist sicher. Oliveric hat den Autopiloten auf die Navigation entlang einer vorher programmierten Kurslinie eingestellt. Beharrlich folgt der eiserne Steuermann diesen Befehlen, in den unteren Decks ist leise zu hören, wie die hydraulische Rudermaschine das Ruderblatt bewegt, um so die von den achterlichen Wellen verursachten Seitenbewegungen auszugleichen. Der Passatwind weht jetzt zuverlässig aus Ostnordost. Der für die Segel verantwortliche Bootsmann Martin Pacatang hat stets ein wachsames Auge auf mögliche Veränderungen der Windrichtung, die eine neue Stellung der Rahen und Segel erfordern würde.
Für den Fall, dass die Navigationselektronik ausfallen würde, befindet sich ein Sextant an Bord. Kolumbus kannte nur die Vorläufer dieses Navigationsinstrumentes, außerdem gab es damals noch nicht die absolut zuverlässigen Uhrwerke, die für eine exakte Bestimmung des Längengrades erforderlich sind. Der Sextant ist allerdings eher einer Vorschrift gehorchend an Bord, von praktischem Nutzen wäre er selbst im Notfall nicht.
Das sanfte Schaukeln der Sea Cloud Spirit ist zwar für die Gäste absolut entspannend und angenehm. Doch das macht es nahezu unmöglich, bei der Höhenmessung einen exakten Winkel zum Beispiel zwischen Horizont und Sonne vorzunehmen. „Schon eine Abweichung von nur einem Grad würde jede Messung unbrauchbar machen“, erläutert der Offizier. Bevor er zum Sextanten und den für die Positionsberechnung notwendigen HO-Tafeln (sie wurden von der britischen Air Force im Zweiten Weltkrieg entwickelt) greift, behilft sich Oliveric lieber mit seinem Smartphone. „Das hat auch einen brauchbaren GPS-Empfänger“, sagt er. Das Gerät ist bei Weitem nicht so präzise wie das Differential-GPS an Bord. „Aber Kolumbus hat seinen Weg schließlich auch gefunden“, lacht Oliveric.
Kreuzfahrt Tag 11: Der Kapitän ist jetzt genau da, wo er immer hinwollte …
Donnerstag, 24. November, 11.00 UTC N 19°30’ W 052° 58’
Die Sea Cloud Spirit segelt mit 6,5 kn (ca. 12 km/h) majestätisch ihrem Ziel entgegen. Seit 1134 sm (2300 km) schweigen die Motoren; die Aussichten sind gut, dass es auf den 556 sm bis zum Ziel so weitergehen wird.
Das ist genau nach dem Geschmack von Kapitän Heiner Eilers. Als Küstenkind ist er mit dem Segeln groß geworden; in der elften Jahrgangsstufe tauschte er das Klassenzimmer für sechs Monate gegen eine Koje auf dem Traditionssegler Thor Heyerdahl: „Spätestens danach war klar, was mein Beruf wird.“
Die obligatorische Fahrenszeit nach dem Nautikstudium absolvierte der heute 32-Jährige als Offizier auf der 1931 gebauten Sea Cloud und der 2001 in Dienst gestellten Sea Cloud II. Als Kapitän übernahm er zwischendurch die Verantwortung auf verschiedenen Motorschiffen, darunter eine Katamaranfähre, die als schnellstes Schiff auf der Nordsee gilt.
Jetzt ist Eilers da, wo er immer hinwollte: „Mich hat die Frage gereizt, wie man konventionelle Seefahrt mit der traditionellen Segelei verbindet.“ Die erst vor einem Jahr in Dienst gestellte Sea Cloud Spirit ist das modernste Beispiel dafür, dass diese Symbiose gelingen kann. Das mit allem Komfort und der jüngsten Technologie ausgestattete Schiff wird traditionell von Hand gesegelt: „Hier steht keiner auf der Brücke, der die Segel per Knopfdruck bewegt.“
Neben dem Wind benötigt das Schiff vor allem Teamgeist als treibende Kraft: „Das ist das, was dieses Schiff ausmacht.“ Nur wenn alle gemeinsam anpacken und sich gegenseitig aufeinander verlassen können, „funktioniert das ganze System“.
Dank der guten Crew und eines guten Schiffes hat Heiner Eilers gute Chancen, die Atlantikpremiere der Sea Cloud Spirit mit einem neuen reedereiinternen Segelrekord zu krönen. Das Schiff segelt sehr schnell: „Das ist aber nicht allein eine Frage der Segelfläche“, erläutert der Kapitän: „Man braucht dafür ein gut ausbalanciertes Schiff.“
Wenn man immer wieder Hartruderlagen benötigt, um den Windjammer in dem langen Atlantikschwell auf Kurs zu halten, „kommt man nicht besonders schnell voran“. Den Tagesrekord auf der bisherigen Strecke stellte der erste Offizier Daniel Loncarevic vor zwei Tagen auf, als er die Sea Cloud Spirit in einer Schauerböe auf 12,5 kn brachte. „Ideal sind Windgeschwindigkeiten um 20 kn“, sagt der Kapitän. Dann bringt es die Sea Cloud Spirit auf 9 kn bis 10 kn als komfortable Reisegeschwindigkeit.
Eilers sagt das mit einem Blitzen in den Augen – so hat er es für die Passagiere und für sich selbst gewünscht. „Aber es gehört natürlich auch Glück dazu, dass es dann läuft.“
Die gleichmäßige, nahezu geräuschlose Fahrt zahlt sich aus: Gegen 09.00 Uhr UTC wurden im Kielwasser der Sea Cloud Spirit zwei Wale gesichtet. Ganz offensichtlich gefällt das Schiff den beiden – seit Stunden folgen sie dem Windjammer …
Kreuzfahrt Tag 12: Der Wal bläst!
Freitag, 25. November, 11.00 UTC N 19°43’ 31.23“ W 52° 12’ 25.31“
Und plötzlich hieß es: „Wal bläst“. Seit Tagen hatten die Gäste an Bord der Sea Cloud Spirit sehnsüchtig über die Reling geblickt und Ausschau nach dem Höhepunkt einer jeder „Crossing“ geschaut. Und dann verbreitete sich die Nachricht blitzschnell auf dem Schiff: Am Heck sind zwei Wale gesichtet worden.
Tatsächlich schwammen zwei Minkwale für mehrere Stunden im Kielwasser des Großseglers. Zu erkennen waren sie zunächst an der Fontäne und dem Geräusch des Ausblasens. Dann wölbten sich die mächtigen grauen Rücken der Tiere aus der See heraus. Einen tiefen Atemzug lang war sogar die Finne sichtbar, die in Form und Größe der Rückflosse eines Hais ähnelt.
Es war der krönende Abschluss einer einzigartigen Reise. Inzwischen sind die Segel der Sea Cloud Spirit eingeholt. Der Passat hat an Kraft verloren, Kapitän Heiner Eilers und seine Crew haben die Motoren gestartet und Kurs auf die Insel St. Maarten genommen. Von dort wird das Dreimast-Vollschiff zur Karibiksaison 2022/2023 starten; die Reisen werden es unter anderem durch den Panamakanal nach Costa Rica und später von Miami aus zu den Exumas – den kleinen und wenig besuchten Inseln gleich neben den Bahamas – fahren.
Im kommenden Frühjahr kehrt der Windjammer nach Europa zurück und wird im Sommer unter anderem auch in Hamburg und vor Sylt Station machen.
Kreuzfahrt Tag 15: Das Ende der Reise – Ankerwurf vor St. Maarten
Montag, 28. November, 11.00 UTC N 18°4‘ 14.988“ N 63° 3‘ 0.292“ W, auf Reede vor St. Maarten
Nach 15 Tagen ununterbrochen auf See ist die Sea Cloud Spirit in der Karibik eingetroffen und hat vor St. Maarten den Anker fallen gelassen. Neben uns ankert ein Containerfrachter, vor uns ein riesiges Kreuzfahrtschiff, dessen dunkle Abgaswolke sich deutlich vor der aufgehenden Sonne abzeichnet.
Es ist ein ungewohnter Anblick für alle an Bord. In den vergangenen zwei Wochen sind uns lediglich zwei Segelyachten begegnet; in der Ferne zogen außerdem zwei Frachtschiffe an uns vorbei. Ansonsten freier Blick zum Horizont; jede Menge Raum, die Gedanken schweifen zu lassen. Jede Menge fliegender Fische, zwei Wale und etwa ein Dutzend großer Vögel – das war die einzige optische Abwechslung.
Langweilig? Nein! In den Zeiten der schnellen und ständigen Kommunikation, der rasant wechselnden Bilder und Eindrücke ist die Entdeckung der Langsamkeit zu einer einzigartigen Erfahrung geworden. Mit dem Blick auf die Technik hat der Törn Beeindruckendes gezeigt. Auch im 21. Jahrhundert ist es möglich, allein mit der Kraft des Windes große Strecken mit einem vergleichsweise großen Schiff und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 20 km/h zurückzulegen.
Kann dies eine Alternative für die Fracht- und Passagierschifffahrt sein? Eine spannende Frage, auf die ich in den nächsten Tagen und Wochen im Gespräch mit Ingenieuren und Seefahrern eine Antwort suchen werde.
Die Sea Cloud Spirit wird dann schon längst weitergefahren sein. Kurs Panamakanal und Costa Rica, dann zurück in die Karibik und weiter über Miami zu den Exumas, ein Distrikt der Bahamas, der aus über 360 Inseln besteht. Die Inselgruppe ist wegen ihrer Riffe und Höhlen ein beliebtes Ziel für Segler und Taucher.
An Bord werden dann weiterhin 81 besondere Menschen sein: Kapitän Heiner Eilers und seine Crew aus 16 verschiedenen Nationen. Junge Menschen, die sich mit einer Bereitschaft zum Service um die Gäste gekümmert haben, die an Land allzu häufig verloren scheint. Erfahrene und langjährige Seeleute, die für viele Monate Heimat und Familie verlassen, weil sie ihren Beruf lieben – und die Seefahrt für sie eine lebenserhaltende Einnahmequelle ist, die sie in der Heimat nicht so schnell finden.
Viele weitere Menschen, die nahezu unsichtbar hinter den Kulissen für das Wohl aller an Bord sorgen – Housekeeper, Köche, Wäscher. Und nicht zuletzt Techniker und Ingenieure wie „Chief“ Uwe Lange, die als Allrounder keiner technischen Herausforderung aus dem Weg gehen und sie garantiert auch meistern.
Zum Abschluss der Reise hat Kapitän Eilers die Leistung all dieser Menschen mit einer in der Kreuzschifffahrt einmaligen Geste gewürdigt: Er hat die Besatzung zu seinem eigentlich den Gästen gewidmeten Farewell-Cocktail eingeladen. Ein dreifaches Hipphipphurra kam ihnen von den Passagieren entgegen. Verdientermaßen! Wenn die Gäste später am Airport auf den Rückflug warten, wird die Crew bereits wieder die Segel gesetzt haben. Ahoi und gute Reise!!