Mit kühlem Kopf durch den Eurotunnel
Der Eurotunnel zwischen England und Frankreich hat seine Kühltechnik aktualisiert. Sie ist eines von vielen Rädchen, die für einen reibungslosen 24-h-Betrieb an jedem Tag ineinandergreifen müssen.
Wenn Sebastién Feutry zur Arbeit geht, dann passiert er einen Elektrozaun, eine Notdusche und eine Absaugvorrichtung zum Schutz vor Erstickung. Dem Elektrozaun begegnet er als Erstes, kurz vor 8 Uhr am Morgen. Ein Zugangstor, oben ebenfalls mit Stromdrähten gesichert und mit Kameras überwacht, rollt Zentimeter für Zentimeter zur Seite. 10 min später ist Feutry an seinem Arbeitsplatz im größten Gebäude auf dem Gelände angekommen. An der Decke dieser Halle winden sich zahlreiche Rohre entlang, bis sie sich symmetrisch zu beiden Seiten der Hallenmitte um zwei schwarz-olivgrüne Maschinen schlingen.
Feutry kennt diese beiden Kältemaschinen gut. Bis aufs Mark, könnte man sagen, denn er kümmert sich um die Wartung der Anlagen. Sie gehören zu den modernsten noch in Serie baubaren Kältemaschinen und stehen im Örtchen Sangatte.
Das ist der Name eines 4700-Seelen-Dorfs, das sich über mehr als 2 km an der französischen Ärmelkanalküste entlangzieht. Durch Sangatte läuft eines der größten Infrastrukturprojekte Europas. Jährlich passieren den Ort 2,65 Mio. Autos und 1,64 Mio. Lkw. Doch Verkehrslärm hört man hier nicht. Meist ist nur der Schrei einiger Möwen zu hören. Der Verkehr rollt nämlich nicht auf der Oberfläche, sondern durch den Eurotunnel, der Frankreich und England unterirdisch über rund 50 km verbindet. Und der durch das Westende von Sangatte verläuft, unweit des Fährhafens von Calais und genau unter Sebastién Feutrys Arbeitsplatz.
Der Techniker ist Teil des Teams, das dafür sorgt, dass Passagiere bei der unterirdischen Fahrt einen kühlen Kopf bewahren. Für den Betrieb des Tunnels ist eine funktionierende Kühlung lebenswichtig. Keiner darf hier stören oder sabotieren – daher der Elektrozaun.
Die Schnellzüge könnten bei den dauernden Durchfahrten die Luft im Tunnel nämlich auf über 35 °C erwärmen, die maximale Temperatur für einen reibungslosen Betrieb. Ursache sind zum einen Druck und Luftreibung, ähnlich wie bei einer Fahrradpumpe, die sich bei ständigem Gebrauch aufheizt. Hinzu kommt die Abwärme der beiden 7 MW starken Elektromotoren an der Spitze und am Ende jedes Zuges. Der Tunnel muss deshalb rund um die Uhr gekühlt werden. Von Herbst bis Frühling reicht eine Kühlung mit der Außenluft, um eine Tunneltemperatur von rund 25 °C zu halten. Im Sommer aber müssen die Kältemaschinen anspringen.
Dann geht ein Zischen durch die Halle, die Rohrleitungen beginnen leise zu rauschen. Das lauteste Geräusch ist das Brummen der Wasserpumpe. Sie drückt die Flüssigkeit durch all die Rohre mit grün-weiß-grüner Markierung, die im Boden in einer Ecke der Halle enden. Von dort fließt das kühle Wasser in den Tunnel.
An diesem Tag ist es noch still in der Kältemaschinenhalle von Sangatte. Sebastién Feutry steht an einem der großen Geräte und tippt auf dessen Infomonitor. Rechts im Bild ploppt ein Schnittbild des Verdampfers auf, dort, wo das Kältemittel in der Maschine Wärme aufnimmt und verdampft. In diesem Teil der Maschine wird gekühlt. Daneben stehen ihre „inneren Werte“: Eingangstemperatur 17,7 °C, Ausgangstemperatur 17,8 °C. „Die Maschinen werden heute nicht in Betrieb gehen müssen“, sagt Feutry. „Es ist draußen nicht heiß genug.“ Im Betrieb läge die Ausgangstemperatur bei etwa 7 °C. Die Kühlung des Eurotunnels verläuft über ein einfaches Rohr, ohne aufwendige Wärmetauscher. „Das kühle Wasser fließt von hier bis zur Hälfte des Tunnels und dann wieder zurück“, sagt der Techniker. Den Rest erledigt die britische Seite.
Die modernen Touchscreens sind ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Kältemaschinen um neueste Technik handelt, die etwa seit einem Jahr in Betrieb ist. Nicht nur die Maschinen sind effizienter, sie verwenden auch ein aktuelles Kältemittel mit der Kennung „1234zd“. Dahinter verbergen sich teilfluorierte Kohlenwasserstoffe. Sie bauen kein Ozon ab und tragen zum Treibhauseffekt nur genauso viel wie CO2 bei. Das alte Kältemittel hatte einige Hundert Mal so viel Treibhauspotenzial. In den Maschinen befinden sich insgesamt 2,1 t des Kältemittels 1234zd. Hinzu kommt etwa noch einmal so viel als Reserve in beigefarbenen Tanks an der Hallenwand.
Das Kältemittel ist schwerer als Luft. Bei einer Leckage würde es die Halle von unten auffüllen und ohne Absaugung bestünde Erstickungsgefahr. Deshalb besitzt die Halle eine Absaugvorrichtung, die die Luft dreimal pro Stunde austauscht.
Der Tunnel wird bereits seit 1994 betrieben. Da auch die Anlagen entsprechend alt waren, habe sich ein Umstieg auf aktuelle Technik gelohnt, sagt Laurent Fortune, Chief Operating Officer des Eurotunnel. Insgesamt habe Getlink, die Betreiberfirma des Tunnels, im letzten Jahr durch die Modernisierung 33 % an Energie bzw. 4,8 GWh gegenüber dem alten Kühlsystem eingespart.
Ein riesiger Krater hinter der Kältemaschinenhalle zeugt noch immer von den Anfängen des Tunnels. Über 50 m im Durchmesser und 40 m tief ist er und mit das älteste Konstrukt des Eurotunnels. Von hier aus wurde seit Herbst 1988 zum ca. 3 km entfernten Tunneleingang nahe des Nachbarorts Coquelles und zugleich Richtung Ärmelkanal gen Großbritannien gebohrt.
Heute ist es eine Art gigantischer Versorgungsschacht. Zwei riesige Röhren und eine knallgelbe Treppe führen hinab auf den Grund. Sie hat 214 Stufen, das weiß José Capez genau. Der Seniortechniker steht am Geländer des Kraters und blickt nach unten. „Als junger Mann bin ich die Treppe in anderthalb Minuten hochgerannt“, erinnert er sich und schmunzelt. Heute geht er das gemütlicher an. Capez ist Feutrys Vorgesetzter und auf seiner Tour durch die Technikstation. Einmal die Woche schaut er hier vor Ort nach dem Rechten, einen Tag arbeitet er in England und drei Tage im Büro der Eurotunnel-Verwaltung.
An diesem Tag weht der Wind am Krater leicht aus der Richtung des nur 350 m entfernten Strands herüber. Er bringt einen würzigen Salzgeruch mit und spielt sanft mit den grauen Locken des Cheftechnikers. Capez ist schon lange beim Eurotunnel. Er kennt die Tunneltechnik in- und auswendig – auf beiden Seiten des Kanals.
Die zwei Kältemaschinen in Sangatte mit je 9 MW Leistung sind nur eine Hälfte des Kältesystems. Die andere, zwei 11-MW-Maschinen, stehen an der britischen Ärmelkanalküste. Insgesamt stehen also 40 MW an Kühlleistung zur Verfügung. Ähnlich verhält es sich mit der Belüftung. Die beiden riesigen Rohre, die in Sangatte in den Krater hinabführen, gibt es auch auf der britischen Seite. Die großen haben eine Kapazität von bis zu 300 m3/s. Sie sind selten aktiv, etwa im Notfall bei einem Feuer. Dann bläst die eine Seite des Ärmelkanals und die andere saugt, um den Rauch von den Passagieren wegzutransportieren. Durch die kleineren Röhren werden von jeder Seite bis zu 70 m3/s in den Servicetunnel, der zwischen den beiden Bahntunneln liegt, geblasen.
An der französischen Tunneleinfahrt macht es wieder „Zischhhhhhh“, dann geht die Tür zur Luftschleuse des etwas versetzt liegenden Eingangs zum Servicetunnel auf. Heraus fährt ein Auto des Wartungstrupps, natürlich französischer Marke. Die Luft, die hier entweicht, wurde durch den Krater in Sangatte hereingeblasen. Hier finden Wartungsarbeiten aus Sicherheitsgründen immer unter leichtem Überdruck statt, damit die Arbeiter mit ausreichend Sauerstoff versorgt sind.
Während das Auto aus dem Tunnel fährt, rollt auf den Schienen schon der nächste Autozug zur Tunneleinfahrt. Im Vergleich zur Fähre von Calais aus ist der Zug gute 55 min schneller, allerdings ist die Aussicht bescheiden. Rund 35 min fährt jeder Zug durch den Tunnel. Nach etwa 90 s fährt er unter Feutrys Arbeitsplatz hindurch.
Er nutzt den Stillstand, den der laue Tag ermöglicht, für die Wartung. Während stündlich bis zu sieben Züge mit rund 160 km/h unter ihm hindurchrasen, schmiert er in aller Ruhe den Motor der Geräte, testet die Funktion des Kompressors und überprüft den Wasserkreislauf auf Verunreinigungen. Die Chemikalie, die für dessen Keimfreiheit sorgt, ist ziemlich aggressiv. Daher steht in unmittelbarer Nähe des Behälters auch eine Notdusche.
Für die Zukunft rechne man mit deutlich steigendem Verkehrsaufkommen, sagt Fortune. Das Kühlsystem sei daher großzügiger ausgelegt worden als aktuell erforderlich. Laut José Capez sind das ganze 10 MW, also knapp ein Viertel der gesamten Leistung. „Anders als früher müssen wir heute jedes Kilowatt, das wir einbringen, auch wieder herauskühlen“, erklärt er. Die Aufnahmefähigkeit des Gesteins unter dem Ärmelkanal ist erschöpft. Seit Betriebsbeginn hat sich die Umgebung 5 m um den Tunnel herum um 4 °C erwärmt. Doch selbst wenn es mit den Rekordtemperaturen so weitergeht wie im April und Mai dieses Jahres, werden Eurotunnel-Reisende wohl einen kühlen Kopf behalten können. rb