Suche nach dem idealen Alltagsrad
Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt, existiert das Fahrrad auch heute noch in einer Grundform, die über 100 Jahre alt ist. Frische Konzepte könnten dem Rad zu ganz neuem Schwung verhelfen.
Viele glauben, am Fahrrad gibt es nichts mehr zu verbessern. Es ist schließlich bereits 200 Jahre her, dass es im Jahr 1817 von dem badischen Forstbeamten Karl von Drais entwickelt wurde, Ende des 19. Jahrhunderts entstand die heutige Form.
Einen regelrechten Boom erlebt die Fahrradbranche derzeit bei E-Bikes. Unter dem Begriff versteht man mittlerweile alle Arten von elektrisch angetriebenen oder unterstützten Fahrrädern.
Der Absatz an Fahrrädern und E-Bikes verzeichnete laut dem Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) vergangenes Jahr gegenüber 2015 einen Umsatzzuwachs von 7 % auf 2,6 Mrd. €, etwa die Hälfte des Gesamtumsatzes der deutschen Fahrrad-, Teile- und Komponentenindustrie im gleichen Jahr.
Rund 605 000 E-Bikes wurden 2016 verkauft, das ist ein Zuwachs von 13 % gegenüber dem Vorjahr. Der Anteil am Gesamtfahrradmarkt steigerte sich laut ZIV auf 15 %. Langfristig rechnet der Verband mit einem Anteil von bis zu 30 %.
Der Bestand an Fahrrädern und E-Bikes in Deutschland ist nach Angaben des ZIV damit auf rund 73 Mio. Fahrzeuge angewachsen, davon ca. 3 Mio. E-Bikes.
Statistisch gesehen, passieren mit E-Bikes häufiger schwere Unfälle. Das Risiko mit den elektrisch angetriebenen Gefährten tödlich zu verunglücken, ist umgerechnet etwa 2,5-mal so hoch wie beim Fahrrad.kle/kur
Seitdem wurde am Fahrrad entwickelt, experimentiert und ausprobiert. Schnelligkeit, Gewicht oder Komfort – es gibt viele Eigenschaften, die bei einem Fahrrad stets verbessert wurden. Zudem gibt es längst vielfältige Variationen des Themas. Nur: Das optimale Alltagsrad ist immer noch nicht gefunden, wie mancher glaubt. Zwei Konzepte zeigen, wie man das Thema Fahrrad noch einmal ganz neu denken kann.
Maschinenbauingenieur Helmut Wirkner aus Wendelstein beschäftigt sich etwa schon seit Jahrzehnten mit dem Thema Fahrrad. Selbst immer aktiver Fahrradfahrer, kam er durch seine vielen Fahrten zu dem Schluss: „Heutige Fahrräder sind technisch und konzeptionell nicht optimal für den Alltagsbetrieb gestaltet und weisen zudem Sicherheitsmängel auf. Dies gilt trotz der sehr stark verbesserten Komponenten.“
Als Hauptgrund für diesen Umstand sieht Wirkner, dass das Fahrrad seit Jahren als „ausentwickelt“ angesehen werde. „Die Fahrradindustrie produziert nach alten Konzepten“, sagt er. Sein Fazit: „Es gibt am Markt daher noch immer kein optimal für den Alltag gestaltetes Fahrrad.“
Das Fahrrad stadtgerecht zu machen, darum gehe es – nicht darum, die Stadt fahrradgerecht. Wirkner dachte daher lange darüber nach, wie denn solch ein optimales Alltagsfahrrad aussehen müsste. Dafür hat er die Anforderungen im harten Alltagseinsatz systematisch erfasst und daraus einen zehn Punkte umfassenden Katalog abgeleitet. Dieser reicht von der ergonomischen Gestaltung bis zu eingebauter Diebstahlsicherung und Transportstangen.
Derzeitige Räder leiden laut Wirkner z. B. häufig darunter, dass sie sehr viel wiegen, was etwa das Tragen in den Keller zur Herausforderung macht. Die Haltung des Fahrers sei in der Regel zudem leicht bis stark vorgebeugt, so dass Gewicht auf den Armen sowie Handgelenken liege und der Nacken angespannt sei.
Ein weiterer Nachteil sei, dass die Fahrräder fast nur noch von Fachleuten gewartet und repariert werden könnten, da viele Einzelkomponenten kaum zerlegbar und schwer erreichbar seien. Nicht zuletzt: Durch die erhöhte Sitzposition könne in vielen Fällen kein Bodenkontakt mit den Füßen hergestellt werden, wenn der Fahrer auf dem Sattel sitze. Es müsse bei jedem Halt abgestiegen werden und das Sturzrisiko sei so deutlich erhöht, sagt der Ingenieur.
Gemeinsam mit anderen Fahrradexperten beschäftigte sich Wirkner daher intensiv mit dem technischen Konzept für ein ideales Alltagsrad und setzte es schließlich in über zehnjähriger Entwicklungszeit um – den „meier Cruiser“ (s. Foto). Dieser zeichne sich, so Wirkner, durch eine gute Ergonomie aus. Ein sich an das Gesäß „anschmiegender“ Sitz, ergonomische Griffe und Pedale erlaubten entspanntes Radfahren, da durch eine aufrechte Haltung des Fahrers Handgelenke, Schultern und Nacken entlastet würden.
Eine niedrige Sitzposition erleichtere zudem nicht nur das Auf- und Absteigen, sondern sorge zudem für größere Sicherheit während des Fahrens, da auch im Sitzen Bodenkontakt der Füße möglich sei. Durch das weiter vorn liegende Tretlager sei effizientes Treten gewährleistet.
Ein weit hinten liegender Schwerpunkt verhindere einen Überschlag des Rades auch bei einer Vollbremsung oder starkem Gefälle. Darüber hinaus sei das Rad durch die Nabenschaltung (acht bis 14 Gänge) wartungsarm. Durch die besondere Rahmenform sei das Rad an nahezu alle Fahrergrößen anpassbar. Derzeit sucht Wirkner eine Möglichkeit, dieses Fahrrad gemeinsam mit einem Hersteller zu produzieren.
Bei der Weiterentwicklung des Rades ist Wirkner nicht allein. Eine genaue Vorstellung vom optimalen Rad hat auch Jürgen Eick – wenn auch eine etwas andere. Der emeritierte Professor für Energietechnik und Energiewirtschaft setzt dabei auf sogenannte Velomobile: Das sind voll verkleidete Liegeräder.
Seit knapp 30 Jahren engagiert sich Eick für die Verbreitung der Fahrzeuge, die seiner Ansicht nach die Lücke zwischen Fahrrad und Automobil schließen könnten. „Velomobile sind ideal für tägliche Wege bis etwa 15 km Entfernung oder für Urlaubstouren“, sagt er. Darüber hinaus hätten sie diverse Vorteile gegenüber dem herkömmlichen Fahrrad. „Sie bieten einen hohen Fahrkomfort durch Witterungsschutz, erlauben eine entspannte, Kräfte sparende Liegeposition und besitzen eine erhöhte Sicherheit.“
Mehr noch: Die aerodynamische Gestalt eines Velomobils vermindere den Luftwiderstand im Vergleich zu einem normalen Radfahrer und erlaube dadurch das Erreichen höherer Geschwindigkeiten bei geringerem Kraftaufwand, weiß Eick. So erreichen Alltagsvelomobile wie die Modelle „Leitra“ oder „Leiba Classic“ durchschnittliche Geschwindigkeiten um die 25 km/h, sogenannte Rennvelomobile wie der „Milan“ können bei Durchschnittsgeschwindigkeiten von 35 km/h bis 40 km/h sogar gut im automobilen Stadtverkehr mitschwimmen.
Doch nach Jahrzehnten hat bei Eick teilweise auch Ernüchterung eingesetzt: „Der Optimismus, dass sich Velomobile durchsetzen würden, verflog angesichts der Tatsache, dass der motorisierte Individualverkehr nicht nur weiter drastisch zunahm, sondern darüber hinaus Größe, Gewicht und Kraftstoffverbrauch der Pkw stetig wuchsen und immer noch wachsen“, so Eick.
Alltagsvelomobile würden trotz ihrer Vorzüge vor allem von jungen Leuten nicht wahrgenommen. „Hilfreich, um die Resonanz der Velomobile zu verbessern, könnte daher ein Hilfsantrieb sein, wie der Elektroantrieb beim Fahrrad, dessen große Akzeptanz zunächst auch nicht erwartet worden war“, sagt er. Doch angesichts von Preisen ab gut 5000 € tun sich vor allem die Käufer in Großstädten schwer mit dem Kauf eines Velomobils. Immer öfter greifen sie aber zu normalen Fahrrädern mit elektrischer Unterstützung.