Das virtuelle Stahlwerk
Ein Konverter, wo sich Eisen verflüssigt, ist geeigneter kein Ort für Sensoren. Stahlkocher greifen deshalb zu außergewöhnlichen Mitteln, um die Qualität des Stahls zu steuern. Hilfe gibt es von der künstlichen Intelligenz.
Einer der heißesten Orte im Saarland ist der Konverter, in dem die Dillinger Hütte ihren Stahl kocht. Bei Temperaturen um 1700 °C strömt Sauerstoff durch flüssiges Eisen – kein Ort für einen Sensor. Wissenschaftler sprechen von einer Black Box, wenn sie nicht in ein System hinein blicken können. Der Konverter ist – rot glüht es aus seinem Innern – eher eine Red Box.
Die Dillinger Hütte, der Anlagenbauer Siemag und die TU Dortmund erforschen seit vier Jahren gemeinsam, wie sich der Konverter in ein zuverlässiges und präzises Modell überführen lässt, auch ohne Sensordaten aus seinem Innern. Das Ziel: Die Konverteröfen sollen mithilfe des datengetriebenen Modells so gefahren werden, dass bislang erforderliche Korrekturen am Ende des Herstellungsprozesses minimiert werden. Das könnte für erhebliche Kostenvorteile sorgen.
Um zu verstehen, worin der Vorteil liegt, lohnt ein Blick auf den heutigen Herstellungsprozess. Bisher, sagt Dominik Schöne von der Dillinger Hütte, wird mit einem statischen, metallurgischen Modell anhand der in den Konverter gegebenen Einsatzstoffe (flüssiges Roheisen, Schrott, Kalk) berechnet, wie viel Heiz- oder Kühlmittel und welche Mengen Sauerstoff für die Oxidation von Kohlenstoff, Silizium, Mangan und Phosphor nötig sind. „Bei der Berechnung der Heiz- und Kühlmittel gibt es physikalisch bedingte Ungenauigkeiten, nicht zuletzt, weil wir zwar das Roheisen vorher analysieren können, aber beim Schrott durchaus einige unbekannte Größen haben“, sagt der Forschungsingenieur. Dazu kommen Ungenauigkeiten beim Wiegen.
„Das gegenwärtige Problem besteht zugespitzt darin“, erklärt Jochen Schlüter, Projektpartner bei Siemag, „dass man erst am Ende des Prozesses sehen kann, was im Konverter abgelaufen ist.“ Das zeigt sich daran, dass die Temperatur des abstichreifen Rohstahls von der Temperatur, die man zuvor durch die Mischung von Roheisen, Schrott und Kalk eingestellt hat, abweicht.
Bislang würden Differenzen von bis zu 22 K nach oben und unten als Stand der Technik und 17 K als „magische Schranke“ angesehen, sagt Dominik Schöne. Im Verhältnis zu den 1700 °C Durchschnittstemperatur – im Bereich des sogenannten Brennfleckes, an dem der Sauerstoff auf die Schmelze trifft, sind es sogar mehr als 2000 °C – mag das nach wenig klingen, doch das notwendige Nachkühlen oder Nachblasen kostet wertvolle Minuten.
„Neben der Zeit schlägt bei den Kosten vor allem der Verschleiß der feuerfesten Materialien im Konverter zu Buche, ebenso der zusätzliche Material- oder Energieaufwand“, sagt Schöne. „Eine verbesserte Temperaturtreffsicherheit durch selteneres Überblasen der Schmelze und durch eine Reduzierung der Nachblasquote bringt positive Auswirkungen auf die Produktivität und geringere thermische Verluste“, ergänzt er.
Schon heute werden am Konverter in der Dillinger Hütte Prozesse modelliert und Daten für die Prozess-steuerung genutzt. Sensoren im Abgasstrom zeigen an, wenn die CO-Werte so weit abgesunken sind, dass der Rohstahl fertig oxidiert ist. Zudem ist die Bodengasspülung automatisiert und beim Abstich erkennen Sensoren, wenn die Grenze zwischen dem Stahl und der Schlacke erreicht ist.
Doch erstmals ein rein datenbasiertes Steuermodell zu entwickeln, das weitere Messgrößen aufnimmt und nach neuen mathematischen Algorithmen verarbeitet (siehe Interview unten), findet Dominik Schöne „ausgesprochen reizvoll“. In seiner vollen Ausbaustufe könnte das sich immer weiter verfeinernde Modell vielleicht sogar eine integrierte Steuerung des gesamten Konverter-Prozesses ermöglichen.
Neue Sensoren sind dafür nötig. „Wir messen beispielsweise mit Mikrophonen das Konvertergeräusch, das beim Aufblasen des Sauerstoffs entsteht und durch den Schlackenpegel beeinflusst wird“, berichtet Jochen Schlüter. Dazu kommen Pyrometer und eine Infrarotkamera zur Beobachtung der Mündungsflamme: Mit Hilfe der Infrarotkamera wird die Wärmetönung des Abgases, das den Konverter verlässt, gemessen.
Die Messung der Daten selbst ist allerdings nur ein Teil der Lösung. Sie müssen, ähnlich wie bei anderen Modellen, mit entsprechenden Algorithmen verknüpft werden. „Wir stehen hier erst am Beginn der Datensammlung. Es wird sicher noch einige Monate brauchen, bis das System soweit gefüttert ist, dass wir damit auch arbeiten“, schätzt Schöne ein.
Bereits jetzt läuft das Modell parallel, wird aber noch für einige Monate mit realen Prozessdaten gefüttert, um eine breitere Basis zu bekommen. Zunächst soll herausgefunden werden, ob zum Beispiel die Zieltemperatur tatsächlich genauer getroffen werden kann, als mit den herkömmlichen Berechnungsmethoden. „Ich bin sehr zuversichtlich, und wenn es gelingt, ist das ein ganz erheblicher technologischer Fortschritt, so der Siemag-Chef-Technologe Jochen Schlüter. Nach seiner Einschätzung könnte bereits 1 K weniger Abweichung von der Zieltemperatur bis zu 100 000 € Kosten pro Jahr sparen.
Dominik Schöne ergänzt: „Das hängt sehr von den konkreten Einsatzbedingungen ab, aber natürlich betreiben wir das Projekt, weil wir mit einem deutlichen positiven Effekt rechnen“, sagt er. Der falle zudem mit vergleichsweise niedrigen Investitionen zusammen – zumindest in der Dillinger Hütte, weil hier ein großer Teil der notwendigen Infrastruktur – wie etwa Lichtwellenleiter – bereits vorhanden sei.
„Wenn sich der Ansatz als tragfähig erweist, werden wir selbstverständlich auch unseren zweiten Konverter mit den zusätzlichen Sensoren ausstatten“, sagt Schöne.