Lastesel zum Anziehen
Ein Außenskelett soll Industriearbeitern das Heben schwerer Lasten leichter machen – Roboter-Anzug statt Blaumann. Die Idee dazu hatte eine Gruppe europäischer Fachleute, die gemeinsam mit Vertretern der Automobilindustrie eine gebrauchstaugliche Lösung entwickeln. Nach anderthalb Jahren Forschung präsentiert das Robo-Mate-Konsortium zwei Prototypen in Stuttgart: einen Aktivarm und einen Passivarm.
In der Eingangshalle des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) probieren die Besucher seltsame Dinge aus. „I like it“, ruft einer fasziniert. Er hat sich ein Gestell anlegen lassen, das ihn bärenstark macht. 5 kg wiegt der dicke Stahlklotz in seiner Hand und fühlt sich wie nichts an. Die Überraschung darüber ist ihm ins Gesicht geschrieben.
Die Idee des Exoskeletts ist nicht nagelneu. Sie ist seit Jahrzehnten eine Spielwiese für Tüftler und Wissenschaftler auf der ganzen Welt. Besonders intensiv entwickelt das Militär, um Soldaten das Tragen schwerer Kampfausrüstung über lange Strecken zu ermöglichen.
Die meisten aktuellen Anwendungen gibt es in der Bewegungstherapie. Menschen können mit sensorgesteuerten und meist strombetriebenen Exoskeletten nach schweren Unfällen oder nach einem Schlaganfall Bewegungen neu erlernen.
Der Schweizer Maschinenhersteller Hocoma bietet solche Produkte seit 15 Jahren weltweit an.
Die japanische Cyberdyne hat den Roboteranzug „Hal“ gebaut, der als medizinisches Therapieinstrument auch schon in deutschen Kliniken eingesetzt wird.
Innosys, eine Universitätsausgründung aus Japan, hat den „Muscle Suit“ für Lagerarbeiter, Landarbeiter, aber auch zur Assistenz im Alltag konstruiert. Er versorgt sich über Druckluft, der Träger selbst bläst über ein Mundstück Luft in ein Verteilsystem ein.
Robo-Mate tauften die Erfinder das Ende 2013 gestartete EU-Projekt, an dem über 30 Forscher und Ingenieure aus sieben europäischen Ländern beteiligt sind. Bis heute haben sie zwei Exoskelettmodule hervorgebracht: einen motorisierten Aktivarm und einen stromlos arbeitenden Passivarm.
Zumindest die Grundgerüste sind jetzt fertig. Beide Modelle werden auf den Rücken geschnallt. Sie sind in der Lage, den Kraftaufwand zum Heben und Bewegen großer Gewichte auf einen Bruchteil zu reduzieren.
Mit 4,5 Mio. € fördert die Europäische Kommission das 5,9 Mio. € teure Projekt aus dem Programm für Forschung und Technologieentwicklung über einen Zeitraum von drei Jahren.
Es geht einerseits um effizientere und flexiblere Produktionsmethoden in der Industrie. Vor allem die Mensch-Roboter-Kollaboration ist ein Zukunftsmarkt, in dem Europa sich behaupten will.
Andererseits verursachen Arbeitsausfälle durch Überbelastungen des Muskel-Skelett-Systems immense volkswirtschaftliche Kosten. Laut EU leidet mindestens jeder vierte Arbeitnehmer in Europa unter Rückenschmerzen. Robo-Mate verspricht eine Entlastung bei Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit dem Heben schwerer Gegenstände stehen.
Das Projekt bearbeiten zwölf Partner aus sieben europäischen Ländern. Beteiligt sind von Seiten der Industrie: Ropardo und Compa (Rumänien), MRK-Systeme (Deutschland), CRF (Italien) und Indra (Frankreich). Das Projekt endet im August 2016.
Woher die Begeisterung im Vorführraum kommt, ist klar: Wer hat nicht schon mal davon geträumt, stark zu sein wie Supermann? Die Comicwelt ist voll von starken Helden in fremdartigen Monturen. Iron Man, die Kampfmaschine in stählerner Rüstung, Batman und Supermann in ihren charakteristischen, hautengen Anzügen kennt jeder.
Die bunte Comicstrip-Fantasie unterscheidet sich jedoch von der Wirklichkeit: Keiner der Stuttgarter Probanden sieht mit den zwei Prototypen annähernd athletisch aus. Beim Passivarm, der stromlosen Version, gerät das ausladende Gestänge in den Blick. Er wird wie eine Schwimmweste angelegt. Metallstützen, die am Rückenteil befestigt sind, reichen von den Schultern bis zu den Handgelenken. Manschetten befestigen das Gestell an den Armen. Angezogen sehen sie aus wie unbeholfene Maikäfer.
„Der Insektenvergleich ist gar nicht falsch“, sagt Konrad Stadler von der Schweizer ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Er ist der Technische Leiter von Robo-Mate und nun selbst in ein Ausstellungsstück geschlüpft. Die Metallstruktur von Robo-Mate ähnelt dem Körper einer Heuschrecke. Allerdings sind die Außenskelette der Lebewesen von eigener Muskelkraft angetrieben. „Unsere Exoskelette werden extern von Federkräften oder Motoren gesteuert“, erklärt Stadler. Diese Exoskelette sollen nun als Lastesel in die Industrie Einzug halten. Mit Robo-Mate lassen sich Gewichte von 5 kg bis 15 kg gut handhaben.
Heben, Ziehen, Schieben schwerer Lasten – das sind Tätigkeiten, wie sie in Industrieprozessen vorkommen und den Arbeitnehmern Probleme machen. „Rückenschmerzen verursachen die meisten Fehltage im produzierenden Gewerbe“, weiß Konrad Stadler.
Aber: Die meisten Exoskelette sieht man momentan noch in medizinischen Rehabilitationsprogrammen. Industrieanwendungen sind rar: Cyberdyne aus Japan bietet einen batteriebetriebenen Lendenschoner an. Das Schweizer Start-up-Unternehmen Noonee testet derzeit bei Audi einen „Chairless Chair“. Er wird wie ein Melkschemel umgeschnallt und entlastet bei Montagearbeiten die Beine. Angesichts des hohen Leidensdrucks vor allem in den Fertigungshallen ein recht dünnes Angebot.
Die Robo-Mate-Entwickler haben herausgefunden: Unterschiedliche Anwendungen brauchen unterschiedliche Exoskelette. Deshalb gibt es zwei Kraftarmmodule. Modul Nummer 3 ist in Arbeit – es soll Beanspruchungen im Hüftbereich minimieren. Alles zusammen ist beliebig anpassbar an Aufgaben, die in harten Industriejobs gefordert sind.
„Was wir brauchen, sind modulare Anwendungen“, betont der Elektroingenieur Stadler. Partielle Supermann-Lösungen, könnte man sagen, die sich auf bestimmte Bewegungsabläufe konzentrieren. Der erste Impuls war, einen Alleskönner, also ein komplettes Exoskelett, zu konstruieren. „Die Idee haben wir bald verworfen – unmachbar, unanwendbar“, erinnert sich Stadler und schüttelt den Kopf.
Nun dreht der technische Leiter sich, breitet die Arme aus und schließt sie vor dem Bauch. Derweil knackt und schnalzt die Stahlkonstruktion, kräftige Federn zwischen den Stahlschienen dehnen sich bei der Bewegung. Körperkompensation heißt das Prinzip, das hinter der Erfindung steckt. Vergleichbar mit dem Schwebestativ von Filmkameras. Beide Arme werden schwerelos, weil das Exoskelett deren Gewicht vollständig kompensiert. Reine Physik: Senkrecht wirkende Kräfte kann der Körper sehr leicht tragen. Hat man zum Beispiel 10 kg auf den Schultern, nimmt das eigene Skelett viel vom Gewicht auf.
„Kritisch sind die Hebelkräfte“, erklärt Konrad Stadler. Hebelkräfte, die über einen ausgestreckten Arm wirken, müssen normalerweise über den Körper kompensiert werden. Dafür kontrahieren die Muskeln im unteren Rückenbereich und das drückt auf die Wirbelsäule. Das Gewicht des Exoskeletts liegt senkrecht auf dem Körper, deshalb spürt man es kaum. Das Exoskelett selbst reduziert die Hebelkräfte. Geübt löst er die Klettverschlüsse und hängt das Ding zurück auf eine Art stummen Diener. Stahl, Strom und Drehmoment geben den Ton an beim zweiten Prototypen, dem Aktivarm. Er ist aus breiten Stahlschienen und Kabeln gezimmert und mit einem Computer verdrahtet. „Elektromotoren verstärken die Kraft, die man im Arm hat“, beschreibt Stadler.
Entsprechende Sensorik misst die wirksamen Kräfte von Armgewicht und Zusatzlast und übersetzt das in die Unterstützung durch den Motor. So lange, bis das Gewicht in der Hand die perfekte Kompensation hat. So müssen Ober- und Unterarm kaum Kraft aufwenden, um den Gegenstand hochzuheben. Etwa so wie beim Elektrofahrrad – man tritt ein bisschen in die Pedale und bekommt noch etwas Kraft dazu.
Robo-Mate ist eine europäische Antwort auf den demografischen Wandel, zur Rettung von Industriearbeitsplätzen und dem Erhalt menschengerechter Produktionsbedingungen. Die Industrie lässt das nicht kalt: Vor diesem Hintergrund sieht man etwa beim VDMA die Notwendigkeit, neue Lösungen für ergonomische Arbeitsplätze zu suchen. Davon gibt es noch so wenige, weil viele Herausforderungen auf einmal zu bewältigen sind.
Industrietaugliches zu bauen, braucht deutlich mehr als ein technisches Konzept. Die Liste ist lang: Anforderungen des Arbeitsplatzes, die Auswirkung auf die menschliche Physiognomie, das Ganze muss im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben und der Normung stehen und es muss sicher für den Benutzer und die Umgebung sein. „Ohne Einhaltung der Maschinenrichtlinie und weiterer technischer Standards geht in der industriellen Anwendung gar nichts“, merkt Stadler an. Außerdem: Es muss bezahlbar sein. Und es muss so gestaltet sein, dass es von den Beschäftigten angenommen wird – „als Hilfestellung und um sie gesund zu halten“, zählt der Schweizer auf.
Deshalb kommen die Projektbeteiligten aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Die Technologiepartner sind aus Italien und Deutschland und sowohl auf Robotik als auch auf Mensch-Maschine-Interaktion spezialisiert. Genauso wie die rumänische Ropardo für Unternehmenssoftware, in die Robo-Mate eingebunden werden soll. Zum Beispiel, um eine Datenbank von Mitarbeitern anzulegen, die ein Exoskelett benutzen. Biomechanische und ergonomische Aspekte behandeln das Fraunhofer IAO, TNO als holländisches Forschungsinstitut sowie die Universität Limerick.
Maßgeschneidert wird am Computer. Mit einem Simulationswerkzeug von Siemens macht sich das Fraunhofer IAO daran, in einer Art digitaler Werkstatt das Exoskelett für den Arbeitsplatz passend zu machen. Montage- und Demontageprozesse werden bis in die letzten Details analysiert, Bewegungsabläufe präzise aufgenommen.
Die Industriepartner sind aus der Autoindustrie. Kein Zufall. „Das Forschungszentrum von Fiat (CRF) kam mit der Idee auf uns zu, damit hatten wir den Anwender bereits mit im Boot“, erzählt Stadler. Die Automobilindustrie hat offenbar ein gutes Gespür für Technologieansätze, die sie für ihre Zwecke nutzen kann. „Wir wollen den Lastassistenten unbedingt für die Montagearbeiten bei uns am Band einsetzen“, sagt Giulio Vivo vom italienischen CRF.
Ziel ist: den Kraftaufwand um 90 % zu verringern. Das ist der Grund, warum auch Olivier Gaudeau von Indra Projektpartner geworden ist. Ein Blick in die Hallen des französischen Autoverwerters macht das deutlich: Der erste Schritt beim Recycler ist, alle Räder vom aufgebockten Fahrzeug auf einen Rollcontainer zu hieven. 30-mal pro Stunde dieselbe Bewegung mit mindestens 12 kg. Nach einer Achtstundenschicht hat der Arbeiter mehr als 4 t Gewicht gestemmt, ein Knochenjob. „Nach ergonomischen Grundsätzen dürfte das Rad nicht mehr als 9 kg wiegen, ohne gesundheitliche Langzeitschäden hervorzurufen“, weiß Stadler. Ein typischer Fall für den Aktivarm.
„Der Passivarm ist super bei kleinen Gewichten“, so Stadler. Etwa, wenn man bei der Demontage eine Trennscheibe lange halten muss, um die Frontscheibe herauszuschneiden. Das Werkzeug wird nach kurzer Zeit richtig schwer am ausgestreckten Arm, in schräg über die Kühlerhaube gelehnter Körperhaltung. Hier sorgt der Passivarm für eine deutliche Entlastung.
„Damit geben wir den Menschen eine bessere Chance, mit großen körperlichen Belastungen in der täglichen Arbeit klarzukommen“, verspricht sich Gaudeau. Er würde seine Mitarbeiter am liebsten auch mit einer Datenbrille ausstatten. Damit jeder Arbeitsschritt verständlich ist.
Ein Riesenpotenzial sieht Konrad Stadler in der Logistik. Überhaupt bei Prozessen, die sich schwer automatisieren lassen. „Gerade aus der Logistikbranche haben wir sehr viel positive Resonanz bekommen“, berichtet Stadler.
Wie geht es weiter? Jetzt kommt ein Redesign der Elemente, damit alles leichter und tragbarer wird. Unter 10 kg liegt das Zielgewicht für das gesamte Exoskelett. Schritt für Schritt werden die ergonomischen Eigenschaften verbessert – wie die Manschetten zum Fixieren der Arme.
Zur Stromversorgung für den Aktivarm und Hüftstütze haben die Wissenschaftler ausgerechnet, dass die sechs Motoren für den Achtstundenbetrieb 200 kg Batterien bräuchten. „Das ist keine Option“, betont Stadler. Aber einen Batteriebetrieb für 10 min müsste man hinbekommen. „In der Zeit könnte man einen schweren Karton aus dem Regal auf eine Palette heben und könnte sich anschließend in eine Energiequelle wie den Gabelstapler einstöpseln“, überlegt er laut.
Die nächste heiße Phase beginnt im Herbst mit den Probeläufen in der Montage und in der Demontage am Band. „Ich bin sehr gespannt, wie sich die Systeme bewähren“, meint Gaudeau, technischer Direktor von Indra.
Zuversicht und Besitzerstolz zeigen sich in den Gesichtern sämtlicher Projektbeteiligter an diesem Tag der Vorführung. Zugegeben – für Außenstehende ist Vorstellungsvermögen gefragt, um in den Stahlkonstruktionen ein bequemes Endprodukt zu sehen. Alle anderen haben keine Zweifel.
Denn das Wichtigste ist: Es funktioniert. Schönheit kommt später. „Jeder gibt sein Bestes, darauf bin ich sehr stolz“, sagt Stadler mit einem breiten Lächeln, der sich jetzt ohne Passivarm elegant an den Wartenden in der Probierecke vorbeischiebt.