Maschinenbau entdeckt Potenziale der biologischen Transformation
Die biologische Transformation bringt neue Herausforderungen für die Anlagentechnik. Daraus ergeben sich neue Märkte für den Maschinenbau, wie aktuelle Beispiele im Vorfeld des Maschinenbaugipfels 2021 in Berlin zeigen.
Neben dem Begriff Bioökonomie hört man im Maschinenbau auch Ausdrücke wie Biointelligenz und biologische Transformation. Das kann dasselbe bedeuten, muss es aber nicht zwingend. „Bioökonomie ist ein ökonomisches Konzept. Ursprünglich ging es darum, fossile Rohstoffe durch nachwachsende Rohstoffe zu ersetzen. Inzwischen hat sich die Definition stark erweitert und umfasst alles, was mit Biologie in Verbindung steht und in die Nachhaltigkeit von Ökonomien einzahlt“, erklärt Thomas Bauernhansl. Er ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart.
Stichwort Biointelligenz
In der Fraunhofer-Gesellschaft spricht man dagegen verstärkt von Biointelligenz. Bauernhansl: „Biointelligenz ist ein technologischer Ansatz. Basis ist eine neue Systemarchitektur, die Bioware, Hardware und Software in einem echtzeitfähigen System integriert. Anders ausgedrückt verbinden wir Biotechnologie mit Maschinenbau und Informationstechnik.“ Dadurch entstehe ein neuer Innovationsraum.
Manfred Wittenstein spricht lieber von biologischer Transformation. Der Unternehmer und ehemalige Präsident des Maschinenbauverbands VDMA sagt: „Die Biologisierung ist nach meiner Ansicht eine natürliche Weiterentwicklung der digitalen Transformation.“ Er fügt hinzu: „Wir wissen, dass Kommunikation in der Biologie eine zentrale Rolle spielt und wir sind auf dem Weg zu immer besserer Informationsverarbeitung. Unsere Herausforderung ist es nun, diese Interaktion von Technik und Informatik – Stärke von Industrie 4.0 – mit der Biologie zu verbinden.“ Jetzt gehe es für seine Branche darum zu verstehen, was das für die künftigen Wertschöpfungsprozesse bedeutet. „Denn auch wenn sich vieles auf ,Bio‘ konzentriert, wird Produktionstechnik benötigt“, hebt er hervor.
Unterschied zu Industrie 4.0
Für Wittenstein gibt es zu Industrie 4.0 jedoch einen wesentlichen Unterschied. „Industrie 4.0 war für den Maschinenbau eine natürliche Weiterentwicklung, aber die Biologisierung ist für uns ein Gamechanger“, stellt er fest. Zu den neuen Herausforderungen sagt er: „Wir sind ingenieurgetrieben und müssen uns plötzlich mit biologischen Prozessen auseinandersetzen. Das braucht viel Zeit.“
Wittenstein sieht in der Digitalisierung allerdings eine wichtige Basis, um am Ende mit der Biologisierung zurechtzukommen. „Wir gehen nicht davon aus, dass wir in den nächsten zehn Jahren einen Durchbruch schaffen. Aber wir müssen schon heute damit beginnen, uns die Potenziale dahinter zur erarbeiten.“
Im Vorfeld des Deutschen Maschinenbaugipfels kommende Woche in Berlin richtete er im Gespräch mit VDI nachrichten einen eindringlichen Appell an seine Branche: „Der deutsche Maschinenbau ist seit gut 100 Jahren der Integrator neuester Technologien und hat dadurch auch seine führende Rolle erhalten können. Wenn uns das auch in Zukunft gelingen soll, dann müssen wir auch der neuen Transformation durch eine intensivere Auseinandersetzung mit der Biologie gerecht werden.“
Wissenschaftler Bauernhansl sieht Parallelen zwischen beiden Transformationen. „Bei der digitalen Transformation haben sich die Maschinenbauer zunächst auch damit schwer getan, Softwarekompetenzen insbesondere im Bereich der Architekturen und der KI aufzubauen. Genauso herausfordernd wird es jetzt sein, wenn plötzlich biotechnologische Kompetenzen aufzubauen sind, z. B. um lebende Zellen zu handhaben, um diese in Produkte oder als Produktionsressource zu integrieren“, erklärt der Direktor des Fraunhofer IPA. Hier würden sich neue Systementwürfe und Entwicklungsprozesse ergeben. Und wie bei Industrie 4.0 werde es darum gehen, die Produkte über den Lebenszyklus hinweg mit Dienstleistungen zu betreuen.
Neue Kompetenzen und Marktpotenziale
Bauernhansl dazu: „Man muss also neue Kompetenzen hinzugewinnen, die weit über das heutige Kompetenzportfolio im Maschinenbau hinausgehen. In diesem Zusammenhang entstehen aber auch neue Märkte, für die man eine entsprechende Applikations- und Marktkompetenz entwickeln muss.“
Beide Experten rechnen mit großen Marktpotenzialen und verweisen auf eine Studie der Marktforscher von McKinsey. Bauernhansl fasst wesentliche Erkenntnisse daraus zusammen: „Die Studie geht davon aus, dass etwa 60 % der Materialien, die wir nutzen werden, mit entsprechenden biologisch transformierten Verfahren hergestellt werden. Die Marktbeobachter erwarten zudem, dass über 30 % der weltweiten F&E-Budgets für solche Themen eingesetzt werden.“
„Wir reden hier also nicht über eine Nische. Wenn man es zu Ende denkt, dann reden wir über die Basis für unser nachhaltiges Wirtschaften“, hebt der Wissenschaftler hervor: Insbesondere in Deutschland empfehle es sich, den neu entstehenden Raum mit entsprechenden Innovationen zu füllen – vor allem aus dem Maschinenbau.
Prozessinnovationen für neue Einsatzbereiche
Doch wie können solche Lösungen aussehen? Als Anwendungsbereiche führt Bauernhansl die Produktion von Fleischersatzprodukten, die schnelle Herstellung von mRNA-Impfstoffen sowie individualisierte Krebstherapien und die Entwicklung biobasierter Sensoren auf. Auf den ersten Blick sehe man hier die Produktinnovationen.
Dahinter steckten aber erhebliche Prozessinnovationen. „Das sind im Gesundheitswesen dezentralisierte Minifabriken, die in spezialisierten Kliniken betrieben werden. Dort werden Patientenproben komplett durchprozessiert und nach einigen Tagen entsteht eine personalisierte und hochwirksame Therapie.“ Etwa 60 % der Forschungsausgaben von Pharmakonzernen gingen bereits in derartige Anwendungen. „Da ist die biologische Transformation schon angekommen“, stellt er fest.
Den Nutzen macht er an der CAR-T-Zell-Krebstherapie deutlich, die etwa 300 000 € pro Patient koste: „An der Herstellung sind über 100 hoch qualifizierte Experten beteiligt, die in sehr teuren Reinräumen Laborprozesse durchführen, um die Therapie für einen Patienten herzustellen.“ Das dauere etwa rund drei Wochen und ist damit ein erheblicher Kostenfaktor. „Wenn die Herstellprozesse komplett automatisiert und qualitätsgesichert in einer Minifabrik in einer großen Klinik patientennah ablaufen würde, dann könnte man auch die Kosten massiv senken.“ Daran arbeite sein Institut derzeit sehr intensiv. Für Maschinenbauer sei es da spannend, sich einzubringen.
Geruchssensor mit lebenden Zellen
Beispielhaft für die Biointelligenz ist für Bauernhansl ein biobasierter Geruchssensor, den das Start-up Koniku aus den USA entwickelt hat. Hier würden lebende und gentechnisch veränderte Zellen in die Sensoren eingebaut, die auf Moleküle von Sprengstoffen und Drogen mit Farbveränderungen reagierten. Damit ließen sich quasi künstliche Spürhundnasen herstellen. „Für diese Firma bauen wir eine erste Produktionsanlage auf, damit sie die Produktion auch hochskalieren kann“, berichtet der IPA-Direktor. Das sei ein klassisches Maschinenbauthema.
Als Anwender wird Jonas Schöndube von Bico Biosciences dieses Jahr erstmals zum Maschinenbaugipfel reisen. Sein Unternehmen bietet Produkte für verschiedene Labortechnologien an, wie 3-D-Biodruck, Zell- und Genanalysen und biotechnologische Automatisierungstechnik.
Er möchte das riesige Potenzial in der Skalierung und Automatisierung biopharmazeutischer und biotechnologischer Prozesse gern zusammen mit der Kompetenz im Maschinen- und Anlagenbau erschließen. Schöndube sagt: „Dafür wünsche ich mir vom Maschinenbaugipfel ein Startsignal für eine noch engere Zusammenarbeit der Branchen Maschinenbau und Biotech!“
Personelle Anforderungen
Ändern dürften sich damit auch die personellen Anforderungen. Bauernhansl: „In den dezentralisierten Fabriken brauchen wir sicher keinen klassischen Operator mehr. Man braucht eher Menschen, die die Prozesse überwachen und Entscheidungen treffen, wenn mal etwas nicht so läuft wie gewünscht.“ In dezentralen Gesundheitszentren wären das eher Laborärzte und hoch qualifizierte Labormitarbeiter, die viele vernetzte Produktionszellen betreuen und Therapien für einzelne Patienten produzieren.
Ähnlich sieht es Manfred Wittenstein: „Wir brauchen dafür neue Mitarbeiter, die vielleicht aus der Biologie kommen. Wir brauchen aber keine Biologen im klassischen Sinne, sondern Biologen, die mit Wertschöpfungsprozessen etwas anfangen können und verstehen, wie ein Bioreaktor Produkte für alle möglichen Bereiche erzeugt.“ Diese müssten erst ausgebildet werden.
Und noch etwas treibt Wittenstein um: „Mein Wunsch ist, dass wir spätestens in 20 Jahren unser Kernthema ,Bewegung‘ neu definieren und mit neuen Lösungen auftreten. Langfristig stelle ich mir einen essbaren Antrieb vor.“ Er meint das im übertragenen Sinne und stellt sich z. B. Mikroorganismen vor, die die Magnete in den Antrieben nach dem Produktleben zersetzen, um daraus wieder Seltenerdmetalle zu gewinnen.