Nachhaltigkeit im Automobilbau: Update statt Neuwagen?
In Update-Fabriken könnten Autos in Zukunft automatisiert aufgewertet werden. Doch Automobilhersteller tun sich mit solchen Konzepten schwer. In einem zweiteiligen exklusiven Expertengespräch fassen wir zusammen, wo die Knackpunkte liegen. Dies ist Teil 1.
Kann ein Automobil, dessen Grundstruktur 50 Jahre lang genutzt wird, alle technischen Anforderungen erfüllen und gleichzeitig attraktiv für die potenzielle Käuferschicht sein? Ja, sagt Günther Schuh, Professor für Produktionsmanagement an der RWTH Aachen und Unternehmer. Er hatte ein solches Fahrzeugkonzept unter dem Namen e.Volution Mitte 2023 auf dem Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquium (AWK) inklusive einer passenden Upgrade-Fabrik vorgestellt. Zusammen mit Expertinnen und Experten aus der Automobilbranche hat VDI nachrichten das nun genau hinterfragt. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft könnten damit erheblich Ressourcen gespart werden. Doch: Wird das den Bedürfnissen der Kunden gerecht? Ist es technisch und regulatorisch überhaupt umsetzbar?
Lesen Sie hier unseren Beitrag zum AWK 2023: Wege aus der „industriellen Wegwerfgesellschaft“
Auto-Update: Wie kann die Attraktivität für die Zielgruppe sichergestellt werden?
Allen Brancheninsidern erscheinen die propagierten 50 Jahre bei allem Nutzen für die Nachhaltigkeit zu hoch gegriffen. Mit Blick auf die Marktbedürfnisse sagt der ehemalige VW-Manager Jens Andersen: „Uns hat einmal ein Vorstandsvorsitzender des Volkswagen-Konzerns gesagt: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“
Was der ehemalige Chefstratege für die Antriebsentwicklung der Marke Volkswagen damit sagen will: „Wir haben eine entscheidende Variable, und die ist der Kunde. Bei der Fahrzeugwahl sind in vielen Fällen rationale Faktoren wie Kaufpreise und Betriebskosten wichtig, aber Eitelkeiten spielen bei der Wahl auch eine wichtige, sehr oft sogar kaufentscheidende Rolle. Dieses Kundenverhalten muss man mit einbeziehen – und das ist das, was wir als Techniker nicht so gut beherrschen.“
Auch Thomas Hambrecht, Leiter Leichtbau und Karosserie bei Audi, hinterfragt den Aspekt: „Akzeptiert es der Kunde, wenn man sein altes Auto aufpoliert, so wie ein aufbereitetes Handy?“ Er denke z. B. an Kunden, die Fahrzeuge leasen, um nach Auslaufen des Vertrags ein neues Fahrzeug zu bekommen und verweist auf die Alternative der Produktaufwertung im Rahmen der Modellpflege. Dann sehe das Fahrzeug sowohl im Innenraum als auch im Exterieur frischer aus. Beim Elektroauto gehe das laut Hambrecht mit aktualisiertem Batteriepack, höherer Reichweite und höherer Effizienz. Er stellt fest: „Im Premiumsegment erwarten die Kunden neue Features und Top-Designs.“ Update-Fähigkeit sei deshalb für Premiumfahrzeuge nicht unbedingt ein Anwendungsfall. Er könne sich aber gut eine Umsetzung im volumenstarken A-Segment vorstellen, wo Menschen eher Fahrzeuge nach den Kosten aussuchten. Das A-Segment umfasst genau genommen Kleinstwagen wie den VW up! oder den Ford Ka. Bei Audi bezieht es sich aber auf Fahrzeuge in der Größe des A3 mit Fließheck und des SUV Q2. Hambrecht sagt: „Da hätten die Leute dann die Möglichkeit, für wenig Geld ihr Auto neu aufbereiten zu lassen. Dafür ist es ein guter Ansatz!“
Schuh räumt ein, dass die 50 Jahre für die Nutzungsdauer der Karosseriegrundstruktur ein theoretischer Wert sind, aber bereits eine Erhöhung der Nutzungsdauer auf 30 gegenüber der heute in Deutschland üblichen 11,3 Jahre ein Fortschritt in Sachen Nachhaltigkeit und Kosten wäre. „Und wieweit der Kunde mittlerweile seinen Konsum nachhaltiger gestalten will, das wissen wir noch nicht. Bisher hat er keine Wahl. Er kann nur ein ‚Wegwerfauto‘ kaufen. Das ist meine Wette“, argumentiert er. Er wette darauf, dass sich das Verhalten der Kunden ändere – erst recht, wenn das nachhaltige Auto deutlich günstiger sei.
Nachhaltiges Auto: Marktaufbau über Flottenbetreiber
Für den Aufbau des Marktes habe er mit seinem Fahrzeugkonzept zunächst Flottenbetreiber im Fokus. „Damit ich nach fünf Jahren wieder Zugriff auf das Fahrzeug bekomme, möchte ich dem Kunden das Fahrzeug im Prinzip nicht verkaufen, sondern nur vermieten, also in Subskription übergeben. Das braucht halt noch den Zwischenhändler, den Flottenbetreiber“, lässt er durchblicken. Es gebe dafür bereits Partner, die er aber noch nicht nennen dürfe. Das Mietmodell lasse sich dabei nicht eins zu eins mit dem Leasing vergleichen, weil in der Subskription beispielsweise Versicherung und Reparatur in einer festen Monatsrate mit drin seien.
Überspitzt ausgedrückt, sagt Schuh, sei das bisherige Geschäftsmodell der Autoindustrie „die möglichst schnelle Entwertung der Fahrzeuge im Feld“. Diese werde durch ständig neue Funktionalitäten noch befeuert. Doch die klassischen Hauptfaktoren der Lebensdauerbeschränkung – eine ehemals rostanfällige Struktur und Verschleiß im Verbrennungsmotor-Antriebsstrang – spielten bei der Elektromobilität heute keine Rolle mehr. „Die elektrische Maschine kriegen sie in 50 Jahren nicht kaputt“, so Schuh. Durch die längere Nutzung wesentlicher Teile liege sein Konzept kostenseitig im Schnitt 30 % bis 35 % unter dem Preis eines normalen Fahrzeuges. Rechne man die höheren Kosten für den Aufbau eines solchen Konzeptes mit ein, sei das immer noch 25 % bis 30 % günstiger. „Ich habe also den etwas höheren Einstieg, aber reduziere gleichzeitig den Wertverlust.“ Er fügt hinzu: „Selbst wenn wir bei der Nutzungsdauer auf 30, 35 oder 40 Jahre kommen statt auf 50, dann ist das immer noch ein Riesenpotenzial.“
Wie zukunftsfähig ist die Plattform für das Auto hinsichtlich künftiger Regularien?
Fraglich erscheint den Experten aber auch, wie sich technische Weiterentwicklungen und neue Regularien über einen solchen Zeitraum auf die Zukunftsfähigkeit des neuen Fahrzeugkonzepts auswirken. Für Rodolfo Schöneburg, den Vorsitzenden des Fachbeirats Kraftfahrzeugtechnik im VDI, gibt es große Fragezeichen bei der Fahrzeugsicherheit. „Pkw sind die mit am stärksten reglementierten Objekte, die es im Konsumbereich gibt. Das heißt, wir müssen weltweit Hunderte von Gesetzen erfüllen“, hebt er hervor. „Bei einem updatefähigen Fahrzeug ist die Herausforderung umso höher“, merkt er an. Die Zulassung eines Fahrzeugs erfolge typischerweise spezifisch mit bestimmten Derivaten. Weltweit seien dabei Unterschiede zu beachten.
Aus seiner über 30-jährigen Erfahrung bei Fahrzeugherstellern wie Audi und Mercedes weiß er: „Jede Änderung, die man in ein Fahrzeug einbringt, muss für sich betrachtet werden ‒ und wenn sie sicherheitsrelevant ist, gegebenenfalls noch einmal überprüft und freigegeben werden.“ Sobald ein Bauteil im Pfad einer potenziellen crashrelevanten Beanspruchung liege, reiche eine konstruktive Änderung am Profil oder an einer Schweißnaht und es werde eine neue Zulassung nötig. Schöneburg merkte an: „Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, aber das wird ein Riesenaufwand. Und wenn man sich so einen Update-Prozess für diverse Komponenten vielleicht alle fünf bis zehn Jahre vorstellt, dann muss man das berücksichtigen.“
Auch dem Karosserieexperten Hambrecht erscheint ein Zeitraum von 50 Jahren viel zu lang für eine solche Fahrzeugplattform. Es sei bereits herausfordernd, eine Plattform für Verbrenner über acht Jahre hinweg konstant zu halten. Insbesondere neue Crashanforderungen führten nach seiner Erfahrung dazu, dass bestehende Konzepte wieder auseinandergepflückt würden. „Früher kamen die vor allem von den US-Behörden. Im Moment sind die Chinesen sehr agil im Erfinden von neuen Anforderungen, weil sich die Märkte da gegenseitig übertreffen wollen“, verdeutlicht er. In Europa habe zudem die Abgasnorm Euro 7 größere Abgasreinigungssysteme nötig gemacht, die Anpassungen am Fahrzeug und der Plattform erfordern. Bei einer Karosserie aus Blech müssten dazu teilweise Blechteile und Werkzeuge angepasst werden, bei Großgussteilen die teure Gussform.
Er verweist auch auf neue Elektronikarchitekturen und Rechnerarchitekturen für autonomes Fahren. „Die einen entwickeln neue Steuergeräte, die anderen integrieren Sensor-Sets. Auch das passt erst mal so nicht ins Fahrzeug rein.“ Es müssten beispielsweise zusätzliche Leitungen und Vorratsbehälter in die Architektur eingefügt werden, um die einzelnen Sensoren sauber halten zu können. Sein Fazit lautet deshalb: „Es ist eine große Aufgabe, so etwas in eine bestehende Architektur reinzukriegen.“ Aktuell sei die Veränderungsgeschwindigkeit für eine längerfristig unverändert bleibende Plattform deshalb nach seiner Ansicht zu hoch.
Vorhersehbare Funktionen des Autos im Vorfeld bereits mit planen
Schuh bestätigt, dass vorhersehbare Features im Vorfeld mit geplant werden müssen, soweit absehbar auch in einer Systemgenehmigung von Bauteilen. Oft wird diese amtliche Prüfung auch als Typengenehmigung bezeichnet. Das vorher schon zu planen, sei zwar zunächst ein Mehraufwand. Durch die Update-Fähigkeit und den Einsatz von Elektroantrieben sei der Aufwand unter Berücksichtigung der längeren Nutzungsdauer aber kleiner als bei einem Fahrzeug mit klassischem Karosserieaufbau und Antriebsstrang. Der wesentliche Unterschied in seinem Konzept sei schließlich das ganz andere Karosseriekonzept mit einem sehr langlebigen Aluminiumprofilchassis und recycelbaren Thermoplasten als Exterieurteile. Diese verursachten kaum Werkzeugkosten und seien leicht austauschbar. Insgesamt werde die Nutzung des Fahrzeuges nach seiner Rechnung günstiger, weil etwa 85 % des Fahrzeuges von Generation zu Generation beibehalten werden könnten, zeigt er sich überzeugt.
Digitale Homologationsakte könnte Zulassung neuer Autotypen vereinfachen
Die Typenzulassung ist für Schuh auch ein Grund, warum sich deutsche Automobilhersteller mit disruptiven Ansätzen schwertun. „Die großen OEMs sind völlig ungeübt darin, komplette Neuwagen zu homologieren. Sie nehmen immer Derivate von den vorigen Fahrzeugen, um die Domänen einzeln homologieren zu können“, sagt er. Bei der Wiederzulassung von Derivaten sei der Aufwand geringer. Mit einer rollierenden digitalen Fahrzeugakte beim Kraftfahrzeugbundesamt ließe sich das laut dem Hochschulprofessor weiter vereinfachen. „Die digitale Homologationsakte haben wir noch nicht, die muss jetzt aber sowieso geschaffen werden“, lässt er durchblicken.
Auch Schöneburg sieht hier einen Ansatzpunkt. Bereits heute gestalteten Hersteller ihre Fahrzeuge modular, um Kosten zu sparen und Fabriken besser auslasten zu können. Digitale Zwillinge leisteten hierzu aus seiner Sicht einen wichtigen Beitrag. Für ihn ist der updatefähige Pkw deshalb ein sehr interessantes Konzept. „Ich glaube, dass man das einfach mal als Ganzes durchdenken und pilothaft probieren muss. Es gibt Dinge, die nicht linear sind, sondern zum Teil Quantensprünge ergeben“, so der Experte vom VDI.
In Teil 2 der Diskussion gehen wir darauf ein, warum Günther Schuh das neue Konzept nicht mit einem großen Pkw-Modell umsetzt und welche Rolle der Leichtbau spielt.