Produktentwickler gehen neue Wege
Digitalisierung ist für Produktentwickler an ihren CAD-Systemen für die computerunterstützte dreidimensionale Konstruktion ein alter Hut – das könnte man meinen. Tatsächlich verändert sich dadurch aktuell aber nicht nur die Art, wie heute Produkte entwickelt werden. Viel stärker verändern sich die Produkte selbst. Das hat auch Einfluss auf die Ausrichtung der Hersteller. Aus Anbietern von Maschinen, Geräten, Anlagen oder Fahrzeugen macht die Digitalisierung teilweise Dienstleister.
„Das Geschäftsmodell in der digitalen Wirtschaft löst sich von dem klassischen Begriff des Produkts, die Generierung von Werten verlagert sich auf Services“, erläutert Armin Schulz Geschäftsführer der 3DSE in München. Die Managementberatung für Produktentwicklung hat Anfang des Jahres eine Umfrage unter Topmanagern von 80 Firmen aller wichtigen Technikbranchen durchgeführt. Erste Ergebnisse zeigen, dass die meisten Unternehmen heute zwar bereits in einzelnen Lebenszyklusabschnitten ihrer Produkte digitale Verfahren einsetzen, dass sie aber von einer ganzheitlichen Digitalisierung über die gesamte Produktlebenszeit hinweg noch weit entfernt sind.
Während alle befragten Unternehmen in ihren Produkten bereits eine Art Basisintelligenz verwirklicht haben, bleibt noch viel Spielraum, um das Potenzial der Digitalisierung in vollem Umfang auszuschöpfen. „Es fehlt noch der Schritt hin zu selbstlernenden Systemen, die autonom Entscheidungen treffen und sich individuell auf den Anwender einstellen“, so Schulz.
Die Landtechnik macht es vor: Beim Landmaschinenhersteller John Deere wird deutlich, wie eine solche Weiterentwicklung von der klassischen Produktwirtschaft hin zu der digitalen Datenwirtschaft aussehen kann. Wie viele seiner Wettbewerber auch, begann John Deere als Hersteller rein mechanischer Produkte wie Traktoren und Mähdreschern. Heute sind viele Landmaschinen in der Lage, selbsttätig zu navigieren und Saatgut wie Düngemittel zentimetergenau auszubringen. Der nächste Entwicklungsschritt nimmt in den Labors von John Deere gerade Gestalt an: Landmaschinen, die über eine kontinuierliche Datenverbindung mit einer dezentralen Rechenumgebung (Cloud) verbunden sind. In der „Datenwolke“ wird Menge und Verteilung von Dünger und anderen Ackerchemikalien genau dokumentiert, zusammen mit weiteren Daten aus den Maschinen gespeichert und für die anschließende Verarbeitung bereitgestellt.
Das dient einerseits dazu, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen und anderseits, um mit kleinen Programmen (Apps) z. B. den Mähdreschereinsatz zu optimieren oder Telematikdaten zu erfassen und mit den Datendiensten ein betriebswirtschaftliches Optimum für den Anwender zu erzielen. Die Cloud wird damit zur Drehscheibe für vielfältige neue Anwendungen, die den Landwirt bei Logistik und Einkauf, bei der Wartung seines Maschinenparks oder bei der Automatisierung seines Workflows künftig stärker unterstützen sollen. Für den Maschinenhersteller sowie die Anwender haben die Daten aus den automatisierten Mähdreschern, Feldhäckslern und Sämaschinen einen Wert, den es mit einer durchgängigen Vernetzung auszuschöpfen gilt.
Das gilt nicht nur für große Maschinen, sondern auch für Baugruppen. So kommt Mike Böttger, Vice President Corporate Strategy beim Photonikkonzern Jenoptik, zum Ergebnis, dass die Bedeutung der Daten aus den einst „stummen“, nun vernetzten Produkten immens ist. „Neue Geschäftsmodelle könnten durchaus darauf abstellen, die Hardware kostenlos bereitzustellen und die damit generierten Services zu monetarisieren“, verdeutlicht Böttger die neuen Denkansätze für den Anbieter optischer Technologien.
Der Zugriff auf eine große Zahl von Daten befähigt die digitalisierten Unternehmen, ein Ökosystem aufzubauen. Das ist eine Umgebung, in der Nutzer komfortabel passende Anwendungen und Informationsdienstleister auswählen und Kooperationspartner für neue Projekte finden können. „Man muss allerdings auf der Hut sein, denn es kann leicht vorkommen, dass ein solcher Partner zum Wettbewerber wird“, warnt August Altherr, Chef des John-Deere-Innovationszentrums in Kaiserslautern. Damit spricht Altherr eine Begleiterscheinung des Digitalisierungsprozesses an: Ein Zulieferer, bisher etwa nur als Datenbankdienstleister in dem Ökosystem tätig, kann schnell auf die Idee kommen, mit eigenen Anwendungen in den Wettbewerb um den Kunden zu treten. Umgekehrt, so Altherr, findet man durch die Digitalisierung auch neue Freunde. So hat der gelb-grüne Landmaschinenhersteller in der BASF einen Partner für das gemeinsame Anwendungsgeschäft gefunden.
In der Automobilwirtschaft steht die Digitalisierung in besonderem Maße im Mittelpunkt des Interesses. Erstens, weil der deutsche Autobau weltweit als Vorzeigebranche gilt, zum anderen, weil sich der Wandel an deren Produkten besonders deutlich zeigt. Nicolai Martin, Vize-Präsident Produkt- und Ressortstrategien Entwicklung bei BMW, ist überzeugt, dass die Digitalisierung einen erheblichen Einfluss auf den Entwicklungsprozess haben wird. Weil sich die Konsumelektronik mit ihren ständig abrufbaren, spielerischen Funktionen (Gadgets) immer mehr im Auto etabliert, geraten die Fahrzeughersteller unter Druck, das Innovationstempo der Smartphonehersteller mitzuhalten. Deswegen, so Martin, müsse die gesamte Entwicklungskette der Autos agiler werden. In der klassischen Welt des Fahrzeugbaus voneinander getrennte, nacheinander ablaufende Prozesse wie Design, Konstruktion und Absicherung werden sich in Zukunft überlappen müssen, um die Dauer des Verfahrens abzukürzen. Die Absicherungsphase setzt dann bereits ein, bevor die Konstruktionsphase abgeschlossen ist. Das gleiche gilt zwischen Design und Konstruktion. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung einheitlicher Datenmodelle und die Verfügbarkeit einer durchgängigen Prozesskette für alle Phasen der Produktentstehung.
Noch gibt es für die Unternehmen viel Luft nach oben. Laut der 3DSE-Studie haben sich bisher nur 18 % der teilnehmenden Unternehmen eine führende Position in ihrer Branche erkämpft. Aber immerhin jeweils etwa zwei Drittel der Unternehmen sagen von sich, den Transformationsprozess zur Digitalisierung bereits begonnen zu haben. Erfolgsfaktoren aus der Sicht der Unternehmensberater sind höhere Geschwindigkeiten in Entwicklung und im Lebenszyklus der Produkte, der Aufbau der richtigen Schlüsselkompetenzen, das Erkennen und sogar das Vorhersagen von Kundenwünschen sowie neue Denkansätze in der Entwicklung. Wie man so etwas in den Unternehmen verankert, das bleibt eine Herausforderung. „Es genügt jedenfalls nicht, einen ,Chief Digital Officer‘ einzustellen und darauf zu vertrauen, dass jetzt quasi automatisch das Umdenken einsetzt“, sagt Unternehmensberater Armin Schulz. Das gesamte Unternehmen müsse digital denken.