EU arbeitet an Gegenentwurf zu Starlink und OneWeb
EU-Kommissar Thierry Breton will eine europäische Satellitenkonstellation bauen lassen. Seine Ausschreibungsregeln lassen keinen Zweifel daran, von wem.
Wenn in Europa Aufträge für staatliche Satellitenprogramme vergeben werden, läuft seit Jahrzehnten ein Automatismus ab. Es gibt eine Ausschreibung, auf die sich alle Hersteller bewerben können. „Alle“ heißt in der europäischen Raumfahrt: alle zwei, oder inzwischen drei.
Thales Alenia (TAS) ist einer der Hersteller, Airbus der zweite. In den vergangenen Jahren hat sich zudem OHB aus Bremen mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung zu einem der großen Satellitenbauer emporgeschwungen. Auf dieses Trio entfallen sämtliche Aufträge für die Programme der EU-Kommission, der Weltraumagentur ESA und der EU-Mitgliedsstaaten: Kopernikus, Galileo, EDRS und die militärischen Satelliten zum Beispiel. Hinzu kommen große Explorationsmissionen wie die Jupitersonde Juice und ungezählte kleinere Missionen.
Es scheint kaum möglich, dass einmal keiner der drei Großen tonangebend ist. Und vielleicht ist das auch gar nicht gewollt – zumindest legt das aktuellste Brüsseler Beispiel diesen Schluss nahe. Die Initiative Secure Connectivity des für Raumfahrt zuständigen EU-Kommissars Thierry Breton ist technisch gewagt, geopolitisch einleuchtend und schon jetzt – im frühen Stadium der Planung – ein Lehrstück in europäischer Raumfahrtpolitik.
Ziel: Europas Unabhängigkeit im Weltall
Breton wünscht sich eine Satellitenkonstellation, mit der er gleich mehrere Probleme lösen will. Erstens besitzen die EU-Staaten bis heute keine weltweite, europäisch kontrollierte Kommunikationsinfrastruktur. Das ist die geopolitische Begründung. „Der Kontinent muss seine Verbindungen aufrecht erhalten können, egal was passiert – und sei es, dass das Internet selber angegriffen wird“, sagte Breton jüngst in einer Rede. Secure Connectivity soll auf optischer Übertragung zwischen den Satelliten (ISL = inter-satellite links) basieren und damit laut einer Kommissionssprecherin den Umstieg auf die Quantenverschlüsselung in der Nachrichtentechnik vorbereiten.
Zweitens bemühen sich einige EU-Staaten bisher vergeblich, ihre Breitbandlücken in ländlichen Regionen mit terrestrischer Infrastruktur zu schließen. Dann eben Satelliten, scheint Bretons Devise zu sein.
Seine Erwartungen formuliert der Franzose so: „Ich wünsche mir eine Konstellation in mehreren Orbits, sowohl in der erdnahen als auch in der geostationären Bahn. Sie soll das Galileo-Navigationssignal genauer und das Erdbeobachtungssystem Kopernikus für Echtzeitmissionen nutzbar machen.“
Jahrzehntprojekt der EU-Kommission
Von diesem Wunschkatalog einmal abgesehen sind über die Secure Connectivity keine Details bekannt. Airbus spricht sich für eine eher aufwendige Satellitentechnik aus. „Eine Billiglösung mag für die kommerziellen Aufgaben interessant erscheinen, kann aber möglicherweise die hoheitlichen Aufgaben nicht erfüllen“, sagt Andreas Lindenthal, Deutschlandchef der Raumfahrtsparte. Das würde bedeuten, dass die Satelliten über leistungsstarke Antennen und ISL verfügen. Sicher ist nichts davon.
Fest steht allein: Der Mix aus militärischen Aufgaben und kommerziellen Diensten macht Secure Connectivity zu einem Jahrzehntprojekt, einem Gegenentwurf zu den Konstellationen Starlink (USA), Lightspeed (Kanada) und OneWeb (Großbritannien). Vergleichbare Systeme kosten 5 Mrd. € und mehr und bestehen aus einer drei- oder vierstelligen Anzahl Satelliten. „Die EU-Kommission will eine dritte Flaggschiffmission neben Galileo und Kopernikus“, sagt Lindenthal.
Etablierte Firmen mit Studie beauftragt
Seit Dezember arbeiten neun Unternehmen an einer Studie, die das Design der Konstellation konkretisieren soll. Neben den drei großen Herstellern TAS, Airbus und OHB sind darunter die drei Satellitenbetreiber SES, Eutelsat und Hispasat sowie der Startdienstleister Arianespace – das Who is who der europäischen Raumfahrt.
Angesichts der Ausschreibungskriterien war das auch nicht anders zu erwarten. Für die Studie waren nur Unternehmen zugelassen, die bereits mindestens fünf Projekte mit einem Budget von jeweils mindestens 100 Mio. € abgewickelt haben. „Das ist die geballte Kompetenz, die Sie brauchen, um sowohl hoheitliche und militärische als auch kommerzielle Dienste anzubieten“, sagt Lindenthal.
Widerstand bei Start-ups
Auffällig, wenn auch bei europäischen Projekten nicht ungewöhnlich, ist zudem, dass fünf der neun Unternehmen mehrheitlich in französischem Besitz sind und ein weiteres zu einem Drittel. „Thierry Breton braut sein eigenes, sehr französisches Süppchen. Er setzt auf die Raumfahrtdinosaurier in Europa“, kritisiert ein Manager aus der Satellitenindustrie, der namentlich nicht genannt werden will.
Widerstand regt sich vor allem unter deutschen Mittelständlern und Start-ups. Eine Gruppe von Unternehmen um die Raketen-Start-ups IsarAerospace und HyImpulse hat gemeinsam mit dem Industrieverband BDI einen Brief an Breton verfasst. Die zentrale Forderung: „Gleiche Chancen für alle. Start-ups sollten fairen, gleichen und direkten Zugang zu allen EU-Raumfahrtprogrammen erhalten.“
Einige der unterzeichnenden Firmen planen nun ihre eigene Konstellation – parallel zur offiziellen Studie. Eine davon ist Mynaric: Der Spezialist für Laserkommunikation hat bislang vor allem Prototypen gebaut und Ambitionen, in größere Serien vorzustoßen. Das 100-Millionen-Euro-Kriterium nennt Mynaric-Manager Sven Meyer-Brunswick einen „De-facto-Ausschluss für den Mittelstand“.
Die großen Hersteller schlagen beschwichtigende Töne an. Auf die Studie, so der Tenor, folge erst die eigentliche Projektausschreibung für Entwicklung, Bau und Betrieb der Konstellation. „Daraufhin werden sich große und kleine Firmen zu Konsortien zusammenschließen und im Wettbewerb zueinander Vorschläge einreichen“, sagt Airbus-Manager Andreas Lindenthal. „Am Ende wird ein Konsortium den Zuschlag erhalten, das von ein oder zwei größeren Unternehmen angeführt wird, in dem aber auch viele kleinere Unternehmen vertreten sind.“
Aus Sicht von Mynaric reicht das nicht aus. „Diese neun Unternehmen werden einen Teufel tun und zulassen, dass das Projekt für den Wettbewerb geöffnet wird“, sagt Meyer-Brunswick. „Unsere Sorge ist, dass die neun Großen in die Studie genau die Technik reinschreiben, die sie selber liefern wollen und können. Sie wären verrückt, wenn sie das nicht tun.“ Im Fall Mynaric hat diese Sorge einen besonderen Hintergrund. Sowohl TAS als auch Airbus haben konzerneigene Laserspezialisten, die sie – davon ist auszugehen – im Falle eines Fertigungsauftrags bevorzugen. „Das ist der falsche Ansatz“, kritisiert Meyer-Brunswick. „Die beste Technik und die niedrigsten Preise entstehen im Wettbewerb.“
Für diese These sprechen prominente Beispiele – allen voran SpaceX. Als sich die Nasa in den 2000er-Jahren aus dem Systemdesign der ISS-Cargo-Kapseln und Trägerraketen weitgehend zurückzog machte sie den Weg frei für privatwirtschaftliche Unternehmen; SpaceX wurde in der Folge zum dominanten Raketenkonzern. Zwar sind die Regierungsaufträge in den USA mit dem freien Markt keinesfalls zu verwechseln. Dass allerdings ein Privatunternehmen günstiger produziert als eine staatliche Agentur und trotzdem erfolgreich sein kann, hat SpaceX bewiesen.
Breitbandinternet weltweit
Das Geschäft mit Satellitenkonstellationen ist eine Wette. Der erste Betreiber, der Satelliten gestartet hat, war OneWeb, das nach einer Beinaheinsolvenz inzwischen teilweise dem britischen Staat gehört. Die meisten Satelliten hat bisher SpaceX gestartet. Beide Betreiber haben aber erst einen Bruchteil ihrer Flotte im All: Für Aussagen über die Wirtschaftlichkeit scheint es zu früh.
Beide Dienste verfolgen das Ziel, weltumspannend Breitbandverbindungen zu ermöglichen: auf der arktischen Bohrinsel und in der Provinz von Botswana. Hinzu kommen – wie auch beim kanadischen Betreiber Telesat – militärische und Regierungsdienste. Staatliche Institutionen garantieren in allen drei Fällen eine bestimmte Auslastung.
Eine ähnliche Mischkalkulation ist auch für die EU-Konstellation wahrscheinlich. „Es ist einfacher, Satelliteninternet für kommerzielle Dienste bereitzustellen, wenn die Regierung als Ankerkundin agiert und die Basisnachfrage abdeckt“, sagt Mynaric-Manager Sven Meyer-Brunswick. „Eine reine Consumerkonstellation wäre nur für Europa vermutlich nicht tragfähig.“ Er spricht von einer Stufenfunktion. Die erste Stufe bilden demnach Regierungskunden, die bereit sind, in unabhängige Infrastruktur zu investieren. Die zweite Stufe sind Industriekunden und die Reisebranche. Der Consumermarkt – das direkte Geschäft mit der Bäuerin oder dem Dorfbewohner – ist die dritte und höchste Stufe.
Erste Gespräche mit VW
Das Konsortium der Kleinen will hartnäckig bleiben, auch wenn es in den EU-Ausschreibungen weiter leer ausgeht. „Selbst ohne die EU als Kundin würden wir versuchen auf die zweite Stufe zu springen“, sagt Meyer-Brunswick. Offenbar ist die Automobilindustrie interessiert. VW-CEO Herbert Diess hat sich unter anderem mit Mynaric-Chef Bulent Altan getroffen. Über ein Satellitennetzwerk können Automobilkonzerne in Zukunft Updates für die zunehmend IT-lastigen Fahrzeuge zur Verfügung stellen.
Weitere Märkte sind die Luftfahrt – Breitbandinternet für Fluggäste – und der sogenannte mobile backhaul. Satellitennetzwerke könnten als Ergänzung für terrestrische Telekommunikationsinfrastruktur genutzt werden. Häufig kommt an den Mobilfunkmasten zu wenig Bandbreite an, Satelliten könnten die Masten zusätzlich beschicken.
EU unter Zeitdruck
Bislang fehlt der EU eine eigene Satelliteninfrastruktur für all diese Aufgaben – die USA, China, Kanada und Großbritannien sind deutlich weiter. „An der ein oder anderen Satellitenkonstellation sind europäische Firmen auf der industriellen Seite zwar beteiligt, aber beim Betreibergeschäft hinken wir deutlich hinterher“, sagt Airbus-Manager Lindenthal. „Das große Geschäft, weltumspannendes Satelliteninternet, wird aus den USA dominiert.“
EU-Kommissar Thierry Breton hat es deshalb eilig. Ab 2022 sollen Satelliten gestartet und ab 2024 erste Dienste angeboten werden. 2027 soll die Konstellation voll einsatzfähig sein – ein straffer Zeitplan. Die etablierten Raumfahrtkonzerne sollen ihre Studie im Dezember abschließen, Breton will aber bereits im April erste Ergebnisse sehen, um dem EU-Parlament noch in diesem Jahr einen Finanzierungsvorschlag zu machen.
Das Alternativkonsortium um Mynaric hört ebenfalls die Uhr ticken. „Wir wollen mit unserer Alternativstudie schneller sein als die neun Großen“, sagt Sven Meyer-Brunswick.