So kam die Ariane 6 zustande: Geschichte einer Rakete
Die neue europäische Trägerrakete Ariane 6 ist am 9. Juli erstmals ins All gestartet. Die Rakete hob gegen 21 Uhr (MESZ) vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou in Französisch-Guayana ab. Europas Raumfahrt will mit dem Start die Krise seines Trägerraketensektors hinter sich lassen und wieder einen eigenen Zugang zum Weltraum für Satelliten herstellen.
2014 beschlossen, war die Ariane 6 immer eine Mischung aus Hoffnungsträger, Sündenbock und industriepolitischem Tauziehen. Eine Geschichte in vier Episoden.
Episode 1: Die technologischen Wurzeln
Die Entwicklung der Ariane 6 wurde 2014 beschlossen. Einige Komponenten gab es zu diesem Zeitpunkt schon. Beispiel Vinci. Das Oberstufentriebwerk war ursprünglich für eine Variante der Vorgängerrakete Ariane 5 geplant, die aber aufgegeben wurde. Die ESA hat den französischen Hersteller Snecma im Jahr 2006 beauftragt, Vinci trotzdem zu entwickeln.
Das Triebwerk ist für viele Missionsprofile der Ariane 6 das wichtigste Puzzlestück. Vinci ist wiederzündbar, das bedeutet: Die Oberstufe kann mehrere Satelliten nacheinander an verschiedenen Punkten im Orbit absetzen. Das ist vor allem für den Transport von Konstellationssatelliten unverzichtbar, die einen wesentlichen Teil der Starts ausmachen. Diese werden in Losen von 20 bis 50 Satelliten gestartet und zum Beispiel paarweise abgesetzt. Dabei muss der Antrieb ausgeschaltet sein. Hilfstriebwerke drücken den Treibstoff in den Tanks danach in Richtung der Düse, damit neu gezündet werden kann.
Episode 2: Der ewige Streit um die Feststoff-Booster
Die Entwicklung der Ariane 6 wurde im Dezember 2014 auf der ESA-Ministerratskonferenz in Luxemburg beschlossen. Den ESA-Staaten war klar: Gegen die Konkurrenz von SpaceX und seiner Falcon-9-Rakete hatte die Ariane 5 keine Chance mehr. Das Ziel: eine neue Rakete, genauso zuverlässig wie die Ariane 5, aber nur noch halb so teuer. Annähernd 4 Mrd. € wurden für die Entwicklung der Rakete gezeichnet, 400 Mio. € sollten aus Industriegeldern stammen und der Rest durch Subventionen finanziert werden.
Die Frühphase der Ariane-6-Entwicklung wurde überschattet von einem industriepolitischen Gerangel der Extraklasse. Deutschland gegen Italien – und mitunter Frankreich – in ungezählten Runden. Kern der Auseinandersetzung waren die Feststoff-Booster der Rakete. Die sollten gemäß einer Gleichteilestrategie identisch sein mit der Erststufe der italienischen Rakete Vega C. Der Motor, das P120, ist aus Carbon gewickelt und wird beim Raketenbauer Avio in Colleferro hergestellt.
Deutschland wollte eine andere Wickeltechnologie etablieren und setzte in Luxemburg in letzter Minute durch, die Hälfte der Booster-Produktion nach Bayern zu holen, zum Zulieferer MT Aerospace …
… und so ging es die nächsten Jahre weiter. MT pochte auf die Verträge von Luxemburg. Avio und die italienische Weltraumagentur Asi argumentierten – nicht ganz unbegründet –, die in Luxemburg beschlossene Industriestruktur schaffe zusätzliche Transporte und zusätzliche Kosten.
So landete der Streit in der ESA. Deren damaliger Chef Jan Wörner sagte 2016 in einem Interview mit dieser Zeitung: „Meine persönliche Hoffnung war, dass die Chefs von Avio und MT Aerospace sich nach Luxemburg von allein einig werden. Das ist nicht passiert. Dann hat sich die ESA eingeschaltet. Nach der nächsten Eskalationsstufe saßen dann schon das DLR und die italienische Raumfahrtagentur ASI mit am Tisch. Und in den letzten Runden Vertreterinnen und Vertreter der Ministerien, ASI, DLR, die französische Agentur Cnes und die Industrie. Ich hatte die große ‚Freude‘, die meisten dieser Sitzungen leiten zu dürfen – tags wie nachts.“
Im Ergebnis kommen die Booster allesamt aus Italien. Ganz vom Tisch ist die bayerische Wickeltechnologie allerdings nicht; in Zukunft könnten damit ganze Raketenstufen gefertigt werden.
Episode 3: Europa ohne Großrakete
Der Start der letzten Ariane 5 am 5. Juli 2023 markierte das Ende einer Ära. Die Rakete hatte seit 1996 117 Starts absolviert, davon 112 erfolgreich und weitere drei zumindest teilweise erfolgreich. Damit zählte die Ariane 5 zu den zuverlässigsten Schwerlastraketen der Welt – und zu den Lieblingen der Rückversicherer, die sich als Einzige an die Versicherung von Satellitenstarts herangetraut haben. Die Ariane 5 steht für die goldenen Zeiten, in denen Europa mit seinen Raketen nicht nur den unabhängigen Zugang zum All gewährleisten konnte, sondern auch kommerziell erfolgreich war.
Ursprünglich war geplant, die Ariane 5 langsam auslaufen und die Produktion der Ariane 6 parallel hochfahren zu lassen. Daraus wurde nichts – mit negativen Folgen für die Zulieferer, die nun ihre Produktionsplanungen strecken mussten.
Ein weiterer Grund zur Sorge: Europa stand (und steht) ohne Rakete da. Keine Ariane 5 mehr, noch keine Ariane 6, die Vega C ist gegroundet, die Vega nur noch begrenzt verfügbar: Der unabhängige Zugang zum All ist unterbrochen, Europa startet mit indischen und US-amerikanischen Raketen. ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher sprach nicht als Einziger von einer Krise im Raumfahrttransportsektor.
Episode 4: Testen bis zum Umfallen
Ursprünglich war der Erststart der Ariane 6 für 2020 geplant. Das bedeutet: Die erste Hardware ist seit Jahren fertig. Das betrifft auch die Triebwerke Vinci (Oberstufe) und Vulcain 2.1 (Unterstufe). Die ersten Heißlauftests, bei denen die Antriebe gezündet werden, fanden beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Lampoldshausen statt. Dort wurde auch eine komplette Oberstufe samt Triebwerk gezündet.
Der größte Test fand dann schon am Weltraumbahnhof in Kourou statt. Hier wurde im Herbst 2023 eine komplette Erststufe samt Vulcain-Antrieb gezündet – die Feuertaufe für die Startrampe.
Der letzte große Test war im Dezember 2023 der sogenannte „combined test“, bei dem das Zusammenspiel von Rakete und Startrampe erprobt wurde. Das Augenmerk lag auf der Steuerung der Rakete und auf der Tankinfrastruktur, die eigens für die Ariane 6 entwickelt worden ist. Das Combined-test-Modell der Ariane 6 ist dem Flugmodell sehr ähnlich, es ist aber nicht flugfähig.
Beim combined test war die Rakete auch erstmals mit ihren Booster-Triebwerken ausgerüstet – wenn auch nur mit Massedummies: Der echte Treibstoff im Innern ist hochentzündlich und hätte ein unnötiges Risiko bedeutet. Der combined test folgte der Originalprozedur beim Countdown, mit Ausnahme der Zündung der Triebwerke.
Bleibt festzuhalten: Einzeln wurden die Antriebe und die Rakete getestet. Wie sich die Subsysteme im Zusammenspiel verhalten, wird sich beim Erststart im Sommer zeigen.