So verändert sich der menschliche Körper im Weltall
Körper und Psyche reagieren auf Raumreisen mit typischen Symptomen. Manche davon verschwinden nach ein paar Tagen wieder, andere werden mit der Zeit immer schlimmer.
Inhaltsverzeichnis
- Wo liegt die größte Gefahr für den menschlichen Körper im Weltall?
- Wie setzt die Schwerelosigkeit dem Körper zu?
- Wie lässt sich die Degeneration des Körpers im All verlangsamen?
- Wie leiden Augen und Gehirn im Weltall?
- Wie lassen sich Weltraumbedingungen auf der Erde simulieren?
- Werden die ISS-Crews krank?
- Wie versorgen Gerst, Maurer & Co. Wunden?
- Wie gehen Astronautinnen mit ihrer Menstruation um?
- Was passiert mit dem Körper auf langen Raumflügen zum Mond oder zum Mars?
- Was also tun gegen kosmische Strahlung?
- Jenseits der Strahlung: Was blüht „Marsmenschen“ noch?
- Wie verhält es sich mit Mondmissionen?
- Würden Menschen zum Mond oder Mars fliegen, die noch nicht auf der ISS gewesen sind?
- Was sind im Weltall die größten Gefahren für die Psyche?
Als der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn am 3. September 1978 mit seiner Kapsel in der kasachischen Steppe landete – wohl eher aufschlug –, verletzte er sich an der Wirbelsäule. Der Schaden war irreparabel; Jähn hat ihn aber auf Anweisung von oben verschwiegen. Andere Raumreisende erlitten ähnliche Verletzungen, nicht nur bei der Landung, auch beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre, wo die Beschleunigungskräfte besonders hoch sind. Extrem hart traf es den russischen Kosmonauten Vasily Lazarev: Beim suborbitalen Abbruch der Mission Sojus 18a am 5. April 1975 bekam er Beschleunigungen jenseits von 21 g ab, also das 21-Fache der Erdbeschleunigung. Mit anderen Worten: Auf ihn wirkte das 21-Fache seiner eigenen Gewichtskraft. Er ist nie wieder geflogen.
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Jähn und Lazarev sind Extremfälle, aber keine Einzelfälle. „Die Rakete ist das gefährlichste Transportmittel der Welt“, sagt Claudia Stern, Flieger- und Augenärztin am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Wo liegt die größte Gefahr für den menschlichen Körper im Weltall?
Start und Landung bergen relativ große Risiken für die Crews. Aber die eigentlichen medizinischen Tücken der Raumfahrt haben mit anderen Faktoren zu tun. Allen voran mit der Schwerelosigkeit, im Raumfahrtjargon auch Mikrogravitation genannt. Eine große Gefahr stellt auch die kosmische Strahlung dar.
Wie setzt die Schwerelosigkeit dem Körper zu?
Da sich in stabilen Orbits, zum Beispiel auf der Bahn der Internationalen Raumstation ISS, die Fliehkraft und die Anziehungskraft aufheben, befinden sich die Crews in dauerhafter Schwerelosigkeit. Das bedeutet: Fortbewegung ist kaum mit Aufwand verbunden. Schnell bilden sich die Muskeln zurück, das betrifft die Muskelmasse und die Muskelkraft und schließt den Herzmuskel mit ein. In der Folge bildet sich auch die Knochenmasse zurück. „Der Knochen folgt dem Muskel“, sagt die Weltraummedizinerin Stern. Das im Knochen enthaltene Kalzium scheidet sich im Körper ab, auch dort, wo es unangenehm wird. „Astronautinnen und Astronauten haben ein erhöhtes Risiko, Nierensteine zu bekommen“, sagt Stern.
Wie lässt sich die Degeneration des Körpers im All verlangsamen?
Im Kampf gegen den Muskel- und Knochenverlust haben die Crews nur eine Wahl: Training. Wer zur ISS fliegt, kommt nicht drum herum, täglich zwei Stunden auf den drei speziell ausgetüftelten Geräten zu verbringen. Dort gibt es eine Art Fahrrad, auf dem sich Kilometer abspulen lassen, ein Laufband, auf das die Crew-Mitglieder mit Bändern gedrückt werden, und schließlich das sogenannte Advanced Resistance Exercise Device, eine Art Eier legende Wollmilchsau der Sportgeräte, die annähernd 30 verschiedene Kraftübungen erlaubt.
Ganz verhindern lässt sich die Degeneration nicht. Und deshalb werden die ISS-Rückkehrenden in einer medizinischen Einrichtung namens Envihab in Köln pausenlos überwacht. Zu den klassischen Folgen eines Raumflugs gehören Rückenschmerzen. Menschen werden im Weltall in Ermangelung von Schwerkraft bis zu 8 cm größer, die Wirbelsäule streckt sich. Zurück auf der Erde kehrt die Wirbelsäule dann wieder in ihre alte Form zurück – nicht für alle ist das gleich angenehm.
Häufig ist auch das Phänomen, dass kurz nach der Landung der Kreislauf in die Knie geht – im Wortsinn. Im All nehmen die Blutmenge und die Anzahl der roten Blutkörperchen ab. Auf der Erde fehlt es dann mitunter an Blut; das vorhandene wird in die Beine gesogen, das Gehirn ist unterversorgt. In der Vergangenheit sind daraus resultierende Ohnmachtsanfälle häufiger vorgekommen. Heute werden die Rückkehrenden sofort mit Flüssigkeit versorgt und steigen in der Regel stabil aus ihren Kapseln.
Wie leiden Augen und Gehirn im Weltall?
Sehr häufig, aber noch immer wenig verstanden sind raumflugbedingte Leiden an Augen und Gehirn. Typischerweise verkürzt sich mit der Zeit im Weltall der Augapfel und der Sehnerv schwillt an. Eine zumindest breit vertretene These erklärt das in etwa so: Mehr Flüssigkeit wird ins Gehirn transportiert, wodurch die Hirnmasse leicht nach vorne wandert. Gleichzeitig nimmt der Augeninnendruck ab. Im Resultat drückt Flüssigkeit aus dem Gehirn in den Sehnerv. Ob die These stimmt, ist auch deshalb noch nicht geklärt, weil auch Menschen, die teils mit den gleichen Kapseln transportiert werden, mitunter vollkommen unterschiedlich reagieren. Was auch immer die Schwellung auslöst, auf der Erde wäre sie ein medizinischer Notfall und mit einer sofortigen Einweisung ins Krankenhaus verbunden.
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Sehr viel unbedenklicher ist das ebenfalls häufige „Space Adaptation Syndrom“ (wörtlich übersetzt: Weltraumgewöhnungssyndrom). Zu Beginn einer Mission sehen die Augen anders, als der Körper empfindet. Übelkeit und Erbrechen sind in den ersten Tagen auf der ISS normal.
Wie lassen sich Weltraumbedingungen auf der Erde simulieren?
Um die Auswirkungen von Raumflügen auf Augen und Gehirn zu erforschen, führt das DLR regelmäßig Bettruhestudien durch, bei denen die Teilnehmenden für 30 bis 60 Tage in 6-Grad-Überkopflage verbleiben. So kann der Effekt der Flüssigkeitsverschiebung in der Schwerelosigkeit simuliert werden.
Werden die ISS-Crews krank?
Die typische Hausapotheke ist auf der Internationalen Raumstation etwas anders bestückt als auf der Erde. Infektionen sind im All extrem selten. „Mir ist kein Fall einer viralen Erkrankung im Weltall seit den Apollo-Missionen bekannt“, sagt die DLR-Ärztin Stern. Der Hauptgrund: Auf der ISS gibt es kaum Viren und die neuen Crew-Mitglieder haben kaum Chancen, welche einzufliegen. Wer zur ISS fliegt, muss vorher für zehn Tage in Quarantäne. Und das bedeutet: völlige Isolation. So ist es gelungen, Corona von der ISS fernzuhalten. Wer in dieser Zeit Kontakt mit der Crew hatte, musste jeden zweiten Tag einen PCR-Test machen.
Mittlerweile bieten kommerzielle Unternehmen wie Axiom Flüge zur ISS an – Weltraumtourismus für die Reichen und Subventionierten. Aber auch für diese Fluggäste gelten keine Sonderregeln. „Wer auf die ISS will, und sei die Person noch so reich, muss sich vorher zehn Tage in Quarantäne begeben“, stellt Stern klar.
Wie versorgen Gerst, Maurer & Co. Wunden?
Im Weltall heilen Wunden etwas schlechter, das ist aus der Vergangenheit bekannt. Bislang sind schlimme Wunden nicht vorgekommen (zum Glück, denn Blutkonserven gibt es im Weltall nicht); das große Thema bei Schnittverletzungen ist deshalb die Kontamination der Station. Blut, das aus einer Wunde ausgetreten ist, fällt nicht zu Boden, sondern schwebt überall hin. Regelmäßig finden auf der ISS wissenschaftliche Versuche statt, die den Wundverschluss im Weltall ausloten. Der deutsche ESA-Astronaut Matthias Maurer beispielsweise hat mit Pflastern aus künstlicher Haut experimentiert. Er ist der Frage nachgegangen, wie sich solche Pflaster mit Taperollern auf der Wunde ablegen lassen.
Wie gehen Astronautinnen mit ihrer Menstruation um?
Die meisten Astronautinnen unterdrücken im Weltall ihre Menstruation durch Einnahme von Hormonen.
Was passiert mit dem Körper auf langen Raumflügen zum Mond oder zum Mars?
Die ISS fliegt im sogenannten Van-Allen-Gürtel. Das bedeutet: Das Erdmagnetfeld hält die kosmische Strahlung von der Besatzung fern. Jenseits des Van-Allen-Gürtels steigt die Gefahr, dass hochenergetische Teilchen auf den Körper einprasseln, die zum Beispiel von der Sonne fortgeschleudert worden sind. Die größte Gefahr geht von Protonen aus: Protonenbeschuss führt zu Strahlenkrankheit und Tod. „Im Hinblick auf Mond- und Marsmissionen sind wir recht beunruhigt – wegen der Strahlungsexposition“, so formuliert es die DLR-Expertin Stern. Die kosmische Strahlung nennt sie einen „wesentlichen Showstopper“.
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Was also tun gegen kosmische Strahlung?
Es gibt Möglichkeiten, Protonen von der Crew fernzuhalten – Wasser in der Kapselwand und bromiertes Polyethylen bremsen die Teilchen ab –, jedoch ist der Aufwand für das Design der Kapsel enorm hoch. Hilfreich wäre auch eine Art Sonnenwetterbericht, weil die gefährlichste Strahlung von der Sonne ausgeht. Die magnetischen Phänomene, die zu Sonnenstürmen mit sogenannten koronalen Massenauswürfen führen, sind allerdings noch nicht vollständig verstanden. Eine weitere Möglichkeit ist eher theoretischer Art: Die Reise müsste verkürzt werden. Die dafür nötigen Antriebe stehen noch nicht zur Verfügung – vielleicht auch nie.
Die Fliegerärztin Stern nennt noch eine letzte Möglichkeit. Der menschliche Körper ließe sich eventuell in einen Modus versetzen, in dem die Strahlung ihm nicht so viel anhaben kann. Die Rede ist von einer Art künstlichem Winterschlaf – „so wie bei den Bären“, sagt Stern. Der Stoffwechsel fährt herunter, die Schädigung der DNA durch Strahlung wird abgeschwächt. Positiver Nebeneffekt: Auf der Reise wird weniger Nahrung benötigt. Die Winterschlaf-Forschung befindet sich allerdings noch in den Kinderschuhen.
Jenseits der Strahlung: Was blüht „Marsmenschen“ noch?
Ein ganzer Strauß medizinischer Anomalien. Erstens spielt die bereits beschriebene Schwellung des Sehnervs eine Rolle. Weil sich die Sicht verschlechtert. Und weil Marsmissionen drei Jahre und länger dauern würden. Die Effekte eines sechsmonatigen ISS-Aufenthalts auf den Sehnerv klingen nach der Rückkehr auf die Erde in der Regel rasch ab. Nach drei Jahren im All kann das nicht mehr gewährleistet werden. Zweitens könnten Gleichgewichtsstörungen nach der Landung zum Problem werden. Auf der Erde wartet einen ganze Armada medizinischen Personals auf die ISS-Rückkehrenden. Wasser wird gereicht, Arme werden untergehakt. Auf dem Mars wartet niemand: „Die Raumreisenden müssen gleich funktionieren, niemand kann ihnen helfen“, sagt Stern.
Anders als bei ISS-Aufenthalten – hier müssen sich die Crews nur zweimal an neue Schwerkraftbedingungen gewöhnen, nämlich erst an 0 g und dann wieder an 1 g – sind Marsmissionen komplexer. Erst 0 g (Schwerelosigkeit) auf dem Flug, dann 1/3 g (Marsgravitation), dann wieder 0 g (Rückflug) und schließlich 1 g (Erde). „Astronautinnen und Astronauten berichten, dass sie sehr unter den verschiedenen g-Kräften leiden“, sagt Stern.
Wie verhält es sich mit Mondmissionen?
Bei Mondmissionen wäre es etwas anders als bei Marsmissionen. Erstens sind die Flüge viel kürzer; die Umstellungen folgen schneller aufeinander. Und zweitens beträgt die Gravitation hier 1/6 g.
Um die Gravitationsverhältnisse des Monds simulieren zu können, plant die europäische Weltraumagentur ESA das Habitat Luna (lunar analogue, dt.: Mondanalog) in Köln. In dieser Einrichtung werden die potenziellen Mondreisenden in Seilschaften aufgehängt und in reduzierte Schwerkraft versetzt, in eine Art erzwungenes Hüpfen. Claudia Stern spricht von „Neil-Armstrong-Gefühlen in Köln“. „Wahrscheinlich werden alle Astronautinnen und Astronauten weltweit, die zum Mond oder zum Mars fliegen sollen, vorher nach Köln kommen, um zu trainieren“, sagt die Fliegerärztin.
Übrigens: Dass Armstrong und Aldrin und die anderen Apollo-Astronauten auf der Mondoberfläche gehüpft sind, lag daran, dass die Raumanzüge in der Hüfte versteift waren und sich dadurch die Beine nicht gut anwinkeln ließen. Gehen wäre möglich gewesen, aber Hüpfen war bequemer.
Würden Menschen zum Mond oder Mars fliegen, die noch nicht auf der ISS gewesen sind?
Unwahrscheinlich bis ausgeschlossen. Wer bereits geflogen ist, hat einen großen Erfahrungsschatz im Hinblick auf den zweiten Flug. „Die ISS ist der ultimative Gradmesser dafür, ob ein Körper das Weltall verpackt. Wer nicht zur Raumstation geflogen ist, wird nicht zum Mond oder Mars fliegen“, sagt Stern. „Die Wahrscheinlichkeit, dass man einen Rookie zum Mond schickt, ist extremst gering.“
Was sind im Weltall die größten Gefahren für die Psyche?
Alle Crew-Mitglieder auf der ISS checken im Zwei-Wochen-Rhythmus mit psychologischem Personal auf der Erde ein. Das ist ein Pflichttermin, der nicht ausfallen darf. Alle haben auch vorher besprochen, was in Extremsituation passiert. Allen ist klar: Es kann alles mögliche passieren; das Risiko zu sterben, ist deutlich höher als auf der Erde. Zentral ist aber auch die Frage, was passiert, wenn zum Beispiel Angehörige sterben. „Man kann nicht mal eben ans Krankenbett oder zur Beerdigung reisen“, sagt Stern. Beispiel Mark Kelly: Der Nasa-Astronaut flog am 16. Mai 2011 zur ISS, obwohl seine Frau (Senatorin Gabrielle Giffords) im Januar bei einem Attentat durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt worden war. Zum Zeitpunkt des Attentats war Marks Zwillingsbruder Scott auf der ISS.
In Langzeit-Isolationsstudien wie Mars 500 ist außerdem ein eigentümlicher psychologischer Effekt beobachtet worden: „Die Astronautinnen und Astronauten fühlen sich irgendwann wie die Marsmenschen, die als Einzige wissen, wie es läuft. Und das Kontrollzentrum hat keine Ahnung“, so beschreibt es Stern. Die Erde ist nicht mehr zu sehen und jeder Funkspruch benötigt 20 min bis zur Erde. Im Ergebnis reduziert die Crew geringfügig die Kommunikation mit der Bodenstation. Aber nicht in so besorgniserregendem Maße, dass man nicht weiter solche Missionen planen würde. Stern ist sich sicher: „Wir werden zum Mars fliegen.“