Erster Weltkrieg 05. Sep 2014 Christopher Kopper Lesezeit: ca. 4 Minuten

Deutschland wollte die Vormacht in Europa

Auch deutsche Unternehmer und Manager verfolgten aggressive Kriegsziele, wie der Wirtschaftshistoriker Christopher Kopper, Autor des folgenden Artikels, zeigt. Allerdings gab es Unterschiede zwischen den Wirtschaftszweigen. Das Interesse an Annexionen war in der Montanindustrie am größten.

Das Deutsche Reich,vor 1914 bereits das wirtschaftlich stärkste Land auf dem Kontinent, wollte mit dem Ersten Weltkrieg seine ökonomische und politische Stellung weiter ausbauen.
Foto: Getty Images

Der australische Historiker Christopher Clark hat mit seinem spannend geschriebenen Buch „Die Schlafwandler“ die Diskussion um die Ursachen des Ersten Weltkriegs neu belebt. Hinter diesem Thema ging jedoch die Frage unter, warum das Deutsche Reich erst nach vier Kriegsjahren und einer völligen militärischen Niederlage vor Augen endlich dem Waffenstillstand zustimmte.

Die Kriegsziele der Entente

Bis zum Frühjahr 1918 hätte Deutschland mit den Entente-Mächten (Frankreich. Großbritannien und USA) einen „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“ (so der amerikanische Präsident Woodrow Wilson) mit Abrüstung aller kriegsführenden Nationen schließen können.

Das Deutsche Reich hätte sich bei rechtzeitiger Zustimmung zu Wilsons 14-Punkte-Programm den harten Versailler Friedensvertrag mit seinen astronomischen Reparationsforderungen erspart. Ein Frieden auf der Grundlage des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ (Wilson) hätte jedoch die Abtretung des Elsass und Lothringens nach sich gezogen, deren Bewohner 1871 deutsche Staatsbürger wider Willen geworden waren. Auch die mehrheitlich polnischen Gebiete in der preußischen Provinz Posen wären Polen zugeschlagen worden – was 1919 tatsächlich geschah.

Als Kaiser Wilhelm II. am 4. August 1914 erklärte „Uns treibt nicht Eroberungslust“, log er. Die politische und die militärische Elite des Kaiserreichs erwartete einen schnellen Sieg an der Westfront in Frankreich. Bereits Anfang September 1914 erarbeitete Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die „Septemberdenkschrift“, hinter der sich aggressive Kriegsziele verbargen.

Vor der Abfassung der „Septemberdenkschrift“ sprach Bethmann Hollweg mit führenden Bankiers und Industriellen, um sich über die Wünsche der deutschen Wirtschaftselite zu orientieren. Die Kriegsziele der deutschen Unternehmer unterschieden sich wegen ihrer divergierenden Unternehmensstrategien in einigen Punkten erheblich.

Die großen Privatbanken wie M.M. Warburg Co. und die international orientierten Aktienbanken wie die Deutsche Bank wurden von der Unterbrechung des internationalen Anleihengeschäfts hart getroffen und erhofften sich eine schnelle Rückkehr zu den offenen Kapitalmärkten der Vorkriegszeit. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank Arthur von Gwinner warnte, „blindlings eine Politik der Annexionen zu beginnen“. Frei von Annexionsgelüsten waren von Gwinner und seine Kollegen jedoch nicht. Die Begehrlichkeiten der global orientierten Banker richteten sich auf die belgischen und französischen Kolonien in Afrika, um den deutschen Kolonialbesitz zu vergrößern und neue Rohstoffmärkte zu erschließen.

Kopper: Hinter der Debatte über die Kriegsschuld rückten Kriegsziele in den Hintergrund. Foto: Zillmann

Unter den mehrheitlich liberal eingestellten Bankern war die Idee einer kontinentaleuropäischen Zollunion unter der Führung des Deutschen Reiches populär. In dieser Frage trafen sie sich mit den Repräsentanten der exportorientierten Elektro- und Chemieindustrie, die an der Rückkehr zum Exportgeschäft interessiert waren. Walther Rathenau, Miteigentümer und Aufsichtsratsvorsitzender AEG und einer der wichtigsten Industriellen, gehörte zu den entschiedensten Verfechtern einer Zollunion zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Die Zollunion der beiden Verbündeten war jedoch nicht als Ziel, sondern als Kern eines europäischen Wirtschaftsraums unter deutscher Führung gedacht. Die neutralen Staaten im Westen (Niederlande) und im Norden Europas (Dänemark und Schweden) sollten nach dem Krieg der wirtschaftlichen Übermacht Deutschlands Tribut zollen und einer mitteleuropäischen Zollunion beitreten.

Im Interesse eines schnellen Friedensschlusses und eines dauerhaften Friedens hielt die Hochtechnologieindustrie Gebietsabtretungen Belgiens und Frankreichs für unangebracht. Der Gedanke, Belgien in eine Zollunion und Wirtschaftsunion mit dem Deutschen Reich zu zwingen, war aber auch in diesen Kreisen populär. Es wäre ein kontinentaleuropäischer Wirtschaftsraum unter deutscher Führung entstanden, der das geschwächte Frankreich wirtschaftlich an den Rand gedrängt hätte. Frankreich hätte eine Meistbegünstigungsklausel akzeptieren müssen, die seinen Markt für deutsche Waren geöffnet hätte. Großbritannien wäre damit vom europäischen Markt verdrängt und auf seinen Handel mit dem britischen Empire zurückgeworfen worden.

Die hohen Reparationsforderungen des Versailler Vertrages von 1919 sollten Deutschland nach dem verlorenen Krieg wirtschaftlich belasten. Sie waren eine schwere politische Hypothek für die Weimarer Republik, deren Repräsentanten von der politischen Rechten und von rechtsgerichteten Unternehmern als „Erfüllungspolitiker“ diffamiert wurden. Die deutsche Wirtschaftselite verdrängte, dass sie selbst hohe Kriegstribute von Frankreich gefordert hatte. Auch liberale Manager wie der Dresdner Bank-Direktor Hjalmar Schacht verlangten in vertraulichen Denkschriften französische Kriegsentschädigungen von 50Mrd. Goldfrancs (40Mrd. Goldmark), die die gesamten deutschen Kriegskosten auf den Gegner abgewälzt und Frankreich dauerhaft geschwächt hätten.

Die Sozialdemokraten hatten am 4.August 1914 nur unter der Bedingung eines „Friedens ohne Annexionen“ die Kriegskredite gebilligt. Von dem von ihnen geforderten Verständigungsfrieden mit Frankreich, Belgien und Großbritannien hatten sich die militärische, die politische und die wirtschaftliche Elite des Kaiserreichs schon im September 1914 weit entfernt. Die Meinungsführer der politisch einflussreichen Montanindustrie wie der Stahlindustrielle August Thyssen und der Krupp-Generaldirektor Alfred Hugenberg forderten substanzielle französischen Gebietsabtretungen wie die Erzlagerstätten im Raum Longwy/Briey. Die deutsche Stahlindustrie hätte damit fast alle Erzlager auf dem europäischen Kontinent kontrolliert und die ohnehin schwächere französische Stahlindustrie zu einer Restgröße reduziert. Belgien sollte in dauerhafte wirtschaftliche Abhängigkeit gezwungen und in einer einseitigen Zoll-, Währungs- und Wirtschaftsunion an Deutschland gekettet werden. Deutsche Montanunternehmen hätten die belgische Schwerindustrie aufgekauft und ihren Konzernstrukturen einverleibt.

Wegen dieser Maximalforderungen für einen „Siegfrieden“ war die deutsche Politik bis 1918 strukturell friedensunfähig. Die Vermittlungsversuche des amerikanischen Präsidenten Thomas W. Wilson und des Papstes Benedikt XV. für einen Frieden ohne Annexionen und Reparationen hätten bis zum provozierten Kriegseintritt der USA im Sommer 1917 eine Erfolgschance haben können, wenn die deutsche Wirtschaft auf einen Verständigungsfrieden gesetzt und die politisch-militärische Führung unter Druck gesetzt hätte.

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