Die beste Technik nützt nichts ohne Bürgerbeteiligung
Die Abhängigkeit des technischen Fortschritts von der gesellschaftlichen Akzeptanz war Thema der diesjährigen Technikgeschichtlichen Tagung des VDI.
Warum dauerte der Reifenwechsel an einem Rennwagen im Jahr 1950 noch 67 s, im Jahr 2013 dagegen nur noch 3 s? Antwort: Weil die Regeln geändert wurden. Waren früher nur vier Mechaniker zugelassen, teilen sich mittlerweile mehr als 20 die Aufgaben. Für Massimo Moraglio von der TU Berlin zeigt dieses Beispiel anschaulich, dass zu technischem Fortschritt nicht die Technik alleine beiträgt, sondern auch die Randbedingungen, unter denen sie eingesetzt wird. Damit verwies auch Moraglios Vortrag bei der Jahrestagung des VDI-Ausschusses Technikgeschichte auf einen wesentlichen Aspekt des Kongressthemas „Technikwenden in Vergangenheit und Zukunft“ – nämlich dass die technische Entwicklung zu weiten Teilen von den sozialen Akteuren bestimmt wird. Deshalb sind für Moraglio Technikwenden „bewegliche Ziele“. Weil sich ständig die Bedingungen änderten, sei schwer zu bestimmen, wann wirklich eine Wende vorläge und nicht nur eine Weiterentwicklung des Bestehenden. Diese Iteration sei wesentlich häufiger als Innovationen. Dem Historiker zufolge ist der Fortschritt insgesamt in Verruf geraten, Nostalgie liege im Trend. „Selbst der Autokäufer gilt als Loser, ‚in‘ ist der Hipster“, der sich mit Fahrrad und ÖPNV durch Berlin bewege, spitzte Moraglio seine These zu.
Bürger misstrauen dem Strukturwandel
Wie die Folgen technischen Fortschritts so abgefedert werden können, dass die Bürger ihn akzeptieren, zeigte Pao-Yu Oei in seiner Analyse des Kohleausstiegs in Westdeutschland und der Lausitz. In den Steinkohlerevieren habe man den Abbau über 50 Jahre schrittweise zurückgefahren, und so erfolgreich größere gesellschaftliche Verwerfungen vermieden. In der Lausitz dagegen seien nach der Wiedervereinigung massiv Arbeitsplätze durch die schlagartige Verringerung der Braunkohleförderung verloren gegangen. Entsprechend groß sei das Misstrauen der Bürger gegen die politisch geförderte Ansiedlung von Windkraftanlagen gewesen. Akzeptanz bei solchen Projekten sei nur zu erreichen, so Oei, wenn neben der Schaffung von Arbeitsplätzen auch die Konsequenzen für Infrastruktur, Bildung und weiche Faktoren wie Freizeit- und Kulturangebote einbezogen würden. Für den Erfolg der Energiewende ist demnach entscheidend, so die These des Wirtschaftingenieurs, dass der Wechsel von konventionellen Energieträgern zu erneuerbaren Energiequellen in einer zeitlich begrenzten und politisch gesteuerten Übergangszeit geschieht, in der die regional unterschiedlichen Bedürfnisse der Bürger einbezogen werden.
Aus der ICE-Strecke entwickelte sich eine S-Bahn
Wie diese Bürgerbeteiligung zu ebenso positiven wie überraschenden Ergebnissen führt, schilderte Claus Seibt von der Universität Kassel am Beispiel der Schweizer Eisenbahn: Als sie eine internationale ICE-Linie in Nord-Süd-Richtung einführen wollten, die durch die Westschweiz geführt hätte, protestierten die Ostschweizer, die sich abgehängt fühlten. Als Ergebnis einer Volksabstimmung bekam die Eidgenossenschaft stattdessen ein so dichtes Eisenbahnnetz, dass man nun von der „Schweizer S-Bahn“ spreche.
Auch 2021 wird die Tagung wieder an der TU stattfinden, wie Organisator Fritz Neußer zum Abschluss bekannt gab. Das Thema im nächsten Jahr: „150 Jahre Conrad Matschoß – Technikgeschichte für die Gegenwart“. Der einstige VDI-Direktor förderte maßgeblich die Einführung von Technikgeschichte als akademische Disziplin.