D-Day: „Die Rote Armee wäre bis nach Mitteleuropa vorgestoßen“
Der Militärhistoriker Peter Lieb über die politische Bedeutung des D-Day, die Gründe für den alliierten Sieg bei der Normandie-Invasion und die Lehren für die Bundeswehr.
VDI nachrichten: Herr Lieb, viele jüngere Menschen können wohl wenig mit dem 80. Jahrestag des D-Day – der Landung in der Normandie – anfangen. Warum sollten wir uns mit dieser Schlacht beschäftigen?
Lieb: Zunächst einmal ist die Operation Overlord eine der größten militärischen Operationen der Geschichte. Schon das macht sie so besonders. Aber vor allem begann mit ihr die Befreiung von Westeuropa und der Anfang vom Ende des Dritten Reichs. Damit begann die Redemokratisierung von weiten Teilen Westeuropas und der Eintritt der USA in die europäische Geschichte.
Hatten die USA ihre künftige politische Bedeutung in Europa mit der Entscheidung zur Landung eingeplant?
Der britische Premierminister Winston Churchill hatte in Opposition zu den USA einen Vorstoß über Italien nach Deutschland bevorzugt. Tatsächlich gab es große Debatten zwischen Briten und Amerikanern über die strategische Ausrichtung des Krieges.
Beim Kampf gegen Nazi-Deutschland bevorzugten die USA den „direct approach“
Dass die Briten Deutschland und Italien im Mittelmeer besiegen wollten, hatte auch wirtschaftliche Gründe, weil sie den Seeweg nach Indien sichern wollten. Das war der typische britische indirekte Ansatz, dort anzugreifen, wo die Verteidigungslinien des Feindes weniger stark waren. Die Amerikaner bevorzugten dagegen den sogenannten „direct approach“, in dem sie die stärksten Kräfte des Feindes attackieren und vernichten und so sofort eine Entscheidung herbeiführen wollten. Zunächst setzten sich die Briten durch. Das änderte sich 1943, als der Feldzug in Italien nicht den gewünschten Erfolg hatte. Danach setzten sich die Amerikaner mit ihren Plänen für eine Landung in Westeuropa durch. Das zeigt deutlich, wie sehr sich die Machtverhältnisse zu Ungunsten der Briten verschoben hatten. Aber beide Regierungen waren sich weiterhin im Kriegsziel einig, nämlich den Nationalsozialismus und preußischen Militarismus zu vernichten.
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Im kollektiven Gedächtnis der USA gelten der D-Day und die Landung in der Normandie als Entscheidungsschlacht im Zweiten Weltkrieg. Historiker sind sich in dieser Frage nicht einig. Wie lautet Ihre Einschätzung?
In den USA ist in der Nachkriegszeit die Wichtigkeit der Normandie-Landung als Beitrag zum Sieg über Nazideutschland auch deshalb besonders betont worden, weil man der Sowjetunion diesen Sieg nicht allein überlassen wollte. Allerdings hat die Wissenschaft diese Sichtweite völlig widerlegt. Zunächst zur militärischen Bedeutung der Invasion: Die Wehrmacht hatte ihre höchsten Verluste gegen die Rote Armee an der Ostfront. Zum Zeitpunkt der Normandie-Invasion war der Zweite Weltkrieg bereits militärisch entschieden. Allerdings darf man die Landung bei der Beurteilung ihrer Wichtigkeit nicht isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang mit den anderen Kriegsschauplätzen.
Ganz wichtig für den Erfolg von Overlord war die Luftherrschaft der Alliierten. Ohne sie wären die amphibischen Landungen nicht möglich gewesen. Die britischen und US-Luftstreitkräfte hatten die deutsche Luftwaffe entscheidend geschwächt, 1944 existierte sie praktisch nicht mehr. Während der Schlacht um Stalingrad zur Jahreswende 1942/43 band die alliierte Landung in Französisch-Nordafrika starke deutsche Kräfte, die dann an der Ostfront fehlten. Zusammengefasst: Deutschland wurde von einem Bündnis besiegt, zu dem jeder Partner seinen Beitrag geleistet hat. Dabei brachte die Rote Armee die meisten menschlichen Opfer, die Westalliierten haben den größten materiellen Schaden an der deutschen Kriegsmaschine angerichtet.
Bei einem Scheitern am D-Day hätte die politische Landschaft Europas ganz anders ausgesehen
Wie groß ist die politische Bedeutung des D-Day?
Die Normandie-Invasion war eine Entscheidungsschlacht im politischen Sinne, weil sich mit ihr der alliierte Einfluss in Europa entschied. Wäre die Landung gescheitert, wäre die Rote Armee bis nach Mitteleuropa vorgestoßen wäre. Die politische Landschaft hätte nach Kriegsende ganz anders ausgesehen, als sie sich mit Beginn des Kalten Krieges zu formen begann.
Hätte es eine Chance gegeben, dass die Invasion am D-Day scheitert?
Sowohl Deutsche wie Alliierte hatten sie als entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf angesehen. Eine amphibische Landung ist mit vielen Unwägbarkeiten versehen, sie gilt als eine der anspruchsvollsten militärischen Operationsarten überhaupt. Es stand also für die Alliierten sehr viel auf dem Spiel.
Deshalb haben sie fast ein Jahr lang auf diesen Tag im Juni 1944 hintrainiert und alles genau geplant: Welche Einheiten wann und wo landen, wann welche Feuerunterstützung bekommt etc. Wenn man als Historiker die Geschehnisse analysiert, kommt man zum Schluss, dass die Wehrmacht kaum eine Möglichkeit hatte, diese Schlacht zu gewinnen. Angesichts der alliierten Überlegenheit an Menschen und Material hätten die Deutschen nur eine Chance gehabt, wenn sie gewusst hätten, wo und wann die Alliierten landen. Aber bei ihren entsprechenden Annahmen lag die Wehrmacht grob daneben.
Was waren die Gründe der Alliierten, beim D-Day zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort zu landen?
Nach eingehender Analyse kamen für die Briten und Amerikaner nur zwei Orte infrage: der Pas-de-Calais an der engsten Stelle zwischen England und dem Kontinent – oder eben die Normandie. Dort gab es die großen Häfen von Cherbourg und Le Havre. Calais und Boulogne-sur-Mer waren dagegen zu klein zum Anlanden des alliierten Nachschubs. Der Zeitpunkt ist eine interessante Sache, weil daran klar wird, wie sehr es bei der Planung auf Details ankommt. Für die Tage um den 6. Juni 1944 war schlechtes Wetter im Ärmelkanal angekündigt. Deshalb fühlten sich die Deutschen sicher, sodass viele Generale nicht in der Normandie waren. So feierte der Befehlshaber der Heeresgruppe B Erwin Rommel zu Hause den Geburtstag seiner Frau.
Dank ihrer Wetterstationen im Nordatlantik erkannten die alliierten Meteorologen dagegen ein kleines Zeitfenster mit besserem Wetter und setzten den Angriffstermin auf den 6. Juni fest.
Wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung der Schlacht über die Jahrzehnte geändert?
In den ersten Jahrzehnten wird der Normandie-Invasion in Frankreich nur regional oder national gedacht und auch nur mit überschaubarem Aufwand. Das ändert sich erst in den 1970er-Jahren, als zu den Jahrestagen immer größere Feiern stattfinden. 1984 wird zum ersten Mal groß gefeiert, zum 50. Jahrestag 1994 mit Helmut Kohl zum ersten Mal der deutsche Bundeskanzler eingeladen. Aber Kohl sagte ab, für Deutsche sei diese Niederlage kein Grund zum Feiern. Die deutsche Haltung änderte sich 2004, als Gerhard Schröder als erster Bundeskanzler die Einladung annahm. Seitdem sind die Deutschen jedes Jahr dabei. Der Jahrestag wird mittlerweile als das historische Ereignis gefeiert, was er ist, nämlich der Sieg der Demokratie über ein totalitäres, verbrecherisches Regime.
D-Day: Die Erzählungen der Veteranen „zeigen ganz klar, welch unglaublich harte Gefechte in der Normandie geschlagen wurden.“
Wie war die Rezeption in der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahren?
Dort hatte die Landung in der Normandie nicht die Bedeutung wie andere Schlachten des Zweiten Weltkriegs. In Stalingrad etwa sind viel mehr deutsche Soldaten gestorben. So hat die westdeutsche Gesellschaft die Opferorte vor allem in Osteuropa angesiedelt. Dazu kamen die Behauptungen der Veteranen, die Kämpfe wären nur an der Ostfront besonders hart gewesen, gegen die Westalliierten dagegen hätten sie quasi in der zweiten Liga stattgefunden. Dieser Mythos ist aber widerlegt, die Schilderungen zeigen ganz klar, welch unglaublich harte Gefechte in der Normandie geschlagen wurden.
Zu dieser Härte gehört auch die Erschießung von Kriegsgefangenen durch beide Seiten. Für die Einheiten der Waffen-SS ist dies einfach zu erklären. Aber wieso begingen auch Kanadier und US-Fallschirmjäger solche Kriegsverbrechen?
Die Ursachen für die alliierten Verbrechen sind noch nicht völlig geklärt. Aber man muss für das Verhalten von alliierten wie deutschen Soldaten immer die Besonderheiten dieser Schlacht berücksichtigen. Es stand für beide Seiten viel auf dem Spiel. In der Normandie kämpfen die Soldaten auf kurze Entfernungen in einer Heckenlandschaft, dem sogenannten „Bocage“. Diese Kämpfe auf kurze Distanz führen schnell zur Verbitterung der Soldaten. Zwischen Waffen-SS und Kanadiern schaukeln sich die Brutalitäten hoch.
Kriegsverbrechen nach dem D-Day: „Bei den US-Fallschirmjägern hat die Bereitschaft zu Kriegsverbrechen viel mit ihrer Gewaltkultur zu tun.“
Die Kanadier treffen unmittelbar nach der Landung auf die 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“. Auf beiden Seiten kursieren Gerüchte, der Feind mache keine Gefangenen. Entsprechend handeln sowohl kanadische wie deutsche Soldaten. Bei den US-Fallschirmjägern hat die Bereitschaft zu Kriegsverbrechen wohl viel mit ihrer Gewaltkultur zu tun. Ihre Ausbilder hatten sie auf harte Kämpfe und Entbehrungen gedrillt. Zudem konnten Fallschirmjäger tatsächlich keine Gefangenen machen, da sie hinter den feindlichen Linien eingesetzt wurden und keine Bewachung organisieren konnten.
Anders als an der Ostfront gab es in der Normandie keine fortschreitende Radikalisierung, beide Seiten kehrten weitgehend zur Einhaltung des Kriegsvölkerrechts zurück. Wie erklären Sie sich das?
Weil sowohl Alliierte wie Deutsche merken, dass sich die jeweils andere Seite doch weitgehend an das Kriegsvölkerrecht halten. Auch haben die jeweiligen Spitzenmilitärs nach den ersten Massakern die Einhaltung des Rechts noch einmal ausdrücklich befohlen.
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Sie zitieren in Ihrem Buch den Historiker Max Hastings: „Die Normandie ist eine Operation, die ein perfektes Beispiel für die Stärken und Schwächen der Demokratie liefert.“ Worin bestanden diese Stärken und Schwächen?
Eine der Schwächen war, dass die alliierten Soldaten auf der unteren taktischen Ebene sehr häufig übervorsichtig agierten und sich bietende Möglichkeiten nicht ausgenutzt haben. Britische und amerikanische Angriffe begannen regelmäßig mit massiven Luft- und Artillerieschlägen. Anschließend gingen Panzer und Infanterie vor. Sobald sie auf Widerstand stießen, brachen sie den Angriff ab und gruben sich ein. Dann begann das Spiel von vorne.
Das war ein systematisches, langsames Vorarbeiten, was militärisch nicht glorreich erscheint, aber extrem erfolgreich war. Die demokratischen Staaten konnten sich eben anders als das nationalsozialistische Deutschland keine großen Verluste erlauben, ihr militärisches Handeln wäre sofort von der eigenen Bevölkerung hinterfragt worden. Das Schreckgespenst der Briten war stets die erste Schlacht an der Somme im Ersten Weltkrieg, bei der zum ersten Mal Wehrpflichtige in den Kampf geschickt wurden und bereits am ersten Tag der Offensive 60 000 Soldaten getötet oder verwundet wurden.
Peter Lieb zum D-Day: „Es ist eine militärische Stärke, dass Demokratien Menschenleben so hoch schätzen.“
Aber diese militärische Schwäche ist natürlich auch eine Stärke, nämlich dass Demokratien Menschenleben so wertschätzen. Hinzu kommt die Stärke, den Krieg als Koalition zu führen. Dafür müssen die Staaten ständig Kompromisse schließen, weshalb die Offiziere beider Staaten die Vor- und Nachteile ihrer Optionen besonders sorgfältig abwägen. Demokratien mögen also vielleicht auf dem Schlachtfeld den totalitären Staaten unterlegen sein, auf strategischer Ebene sind sie überlegen.
Angesichts der Bedrohung durch Russland stehen bei der Bundeswehr wieder Bündnis- und Landesverteidigung im Fokus. Gibt es Lehren aus der Normandie-Schlacht, die sich dabei nutzen lassen?
Die schon angesprochene Koalitionskriegsführung ist ein wichtiger Punkt. Die Nato ist ebenfalls ein Bündnis eigenständiger Staaten. Es kann nur funktionieren, wenn auch die kleineren Nationen entsprechend eingebunden werden. Das führt manchmal zu einem sehr schwerfälligen Vorgehen und zum Verpassen von Chancen. Aber wie schon der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz betont hat: Krieg ist niemals eine rein militärische Aktivität, er muss immer zusammen mit der Politik gedacht werden.
Sie sind Oberstleutnant der Reserve. Hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem D-Day und der Normandie-Schlacht Erkenntnisse gebracht, die Sie als Soldat nutzen können?
Wer die Schilderungen der Kämpfe in der Normandie liest, dem drängt sich die Frage auf, wie Soldatinnen und Soldaten solche hochintensiven Gefechte mental und körperlich durchstehen und welche Ausbildung dafür notwendig ist. Bei der Lektüre werde ich als Offizier zudem mit der Frage konfrontiert, wie ich der Verantwortung für das Leben meiner Untergebenen gerecht werde. Wenn ich etwa einer Gruppe den Auftrag gebe, eine feindliche MG-Stellung zu stürmen, muss ich davon ausgehen, dass das einige Soldaten nicht überleben.
„Militärhistoriker untersuchen immer noch, wie Soldaten plötzlich Kriegsverbrechen begehen.“
Kriegsverbrechen sind ein Thema, das mich als Soldat immer wieder beschäftigt. Militärhistoriker untersuchen immer noch, wie es passieren kann, dass Soldaten, die sich im Friedensdienst völlig unauffällig verhalten, plötzlich Kriegsverbrechen begehen. Aber vor allen Dingen zeigt die Beschäftigung mit diesen Verbrechen, wie wichtig es ist, dass Soldaten eines demokratischen Staates stets anhand eines wertebasierten ethischen Fundaments handeln.
Sehen Sie hier einen Vortrag, den Peter Lieb am King‘s College über die Schlacht in der Normandie gehalten hat:
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